Ziemlich tief
Vielleicht ist es der Kulturschock, der mich nach beinahe drei Monaten in der Türkei ereilt. Was sicher ist, ist, dass ich ein immenses Problem mit meiner Aufnahmeorganisation habe.
Vielleicht ist es der Kulturschock.
Das Wasser steht mir bis zum Hals, ich hab die Nase voll, es reicht.
Nicht von der Türkei. Nicht von den Menschen. Nicht von Izmir und eigentlich auch nicht von den Erfahrungen, die ich hier mache. Es ist mein Projekt und meine Aufnahmeorganisation die mich seit beinahe drei (!) Monaten zur Verzweiflung treibt. Seit drei Monaten nämlich habe ich gar kein Projekt, keine Arbeit, überhaupt nichts zu tun. Meine Organisation heißt Bornova Belediyesi. Das ist die Ortverwaltung eines großen Bezirks von Izmir, logischer Weise von Bornova. Mein Büro ist in der Kultur- und Sportverwaltung, könnte also sehr interessant und schön sein. In der Praxis ist aber gar nichts schön dort, weil sich einfach kein Mensch um mich schert. Das Projekt ist überhaupt nicht organisiert, es wird auch nicht daran gearbeitet. Meine Koordinatorin hat mich in eine völlig versüffte Wohnung gesteckt und ist einfach gegangen als sie den Zustand gesehen hat. Dieser Art Dinge haben sich wiederholt. Meine Mentorin, die im Idealfall eine außenstehende Person sein sollte, ist in meinem Fall jedoch die Chefin der ganzen Abteilung. Das heißt nicht nur, dass sie für mein Taschengeld und jegliche Fragen bezüglich meines Projekts die Ansprechpartnerin ist, sondern auch nie Zeit hat. Seit meiner Ankunft hat sie nicht mehr als 5 Minuten am Stück mit mir gesprochen, geschweige denn wurden meine Probleme je ernsthaft von irgendjemandem angegangen oder hat mir auch nur einer das Gefühl gegeben zuzuhören.
Ich habe einen einmonatigen Sprachkurs gehabt für den ich wie für alles hier viel kämpfen musste, aber das war es dann auch schon. Nicht genug um sich einigermaßen in einer neuen Sprache verständigen zu können. Ich habe schon einige Länder gesehen, aber noch nie ist mir die Floskel ‚Die Sprache ist der Schlüssel‘ so häufig in den Kopf geschossen wie hier. Englisch Sprechende sind in der Minderheit, sie zu finden ist nicht leicht. Ich glaube, für die kurze Zeit, die ich hier bin, ich mein Türkisch dank viel Selbstdisziplin schon verhältnismäßig gut, in Unterhaltungen verstehe ich aber nach wie vor absolut kein Wort. Dass das mit der Integration und dem Freunde-Finden demzufolge nur so peu à peu vorangeht versteht sich von selbst. Resignation und Enttäuschung inklusive.
Der Zustand meiner Wohnung ist nach wie vor so, dass ich um jeden Preis vermeide, Zeit dort zu verbringen. Wenn ich die Haustür öffne, begrüßt mich ein ekelhafter Güllegeruch, der durch die Rohre ins Bad klettert und sich von dort aus in der ganzen Wohnung verteilt. Die Wohnung ist immer noch so gut wie unmöbliert und der Herd funktioniert nicht. Ofen oder Mikrowelle gibt es nicht. Immerhin wurde ein Maler engagiert, der sich dem von der Decke und Wänden bröckelnden Putz annehmen soll. Dass sich dessen Arbeitsmoral, am Morgen zwei Stündchen zu arbeiten und danach eine bald dreistündige Pause einzulegen, von der er auch manchmal nicht wieder zurückkommt, mit türkischer Mentalität erklären lässt, kann bedingt stimmten. Was sich nicht erklären lässt und auch nicht mit der türkischen Gastfreundschaft übereinstimmt, ist die Reaktion meines Kollegen: Ich würde in einer Freiwilligenwohnung wohnen, nicht in einem Hotel!
Jeder hört lieber schöne Sachen, das liegt in der Natur des Menschen. Sich aber chronisch blind, taub und stumm zu stellen, was anderer Leute Sorgen angeht, das reicht mir nach beinahe drei Monaten endgültig. Keiner hat die Organisation gezwungen, eine Freiwillige aufzunehmen und ich frage mich, wie es möglich ist, so empathielos zu sein. Ich kann sagen, dass ich wirklich schon einiges hier hinnehmen musste und immer wieder neue Entschuldigungen und Erklärungen für jegliche Versäumnisse zu finden gesucht habe. Was bleibt ist der Fakt, dass ich kein Gepäckstück, kein Mobiliar, kein Roboter bin, der aus Deutschland eingeliefert wurde, sondern ein Mensch mit Verstand und Gefühl. Ich bin es leid, das Gefühl vermittelt zu bekommen, dass ich nicht auf gleicher Augenhöhe mit meinen Kollegen stehe.
Es sind gewiss ganz besondere, prägende, einmalige Erfahrungen, die ich hier mache. Noch habe ich nicht ein einziges Mal bereut, hierhergekommen zu sein und ich bin dankbar, dass ich all das erleben darf. Mein Kopf scheint permanent zu rotieren. Es gibt so viel Schönes, doch das muss manchmal erst mühsam gefunden werden. Gerade ist alles ein mächtiger Kraftakt oder sagen wir es mal so: Es ist kein Spaziergang. Ein ziemliches Tief hat sich breitgemacht, aber mit einer guten Portion Optimismus, viel weiterer Energie und einer Prise Glück werde ich aus dem Loch schon wieder rausklettern.
erleben verstehen reifen begreifen sehen fühlen merken spüren fassen
Alles Liebe
Swantje
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