„Zdruff!“
Eine betrachtende Stippvisite im ehemaligen Schwesternstaat der Tschechischen Republik
Vom 28. Oktober 1918 bis 31. Dezember 1992 bildeten die heutige Tschechische Republik, die Slowakei und zum Teil auch die Ukraine einen gemeinsamen Staat – die Tschechoslowakei. In Prag als ein sozialer, freiheitlich-demokratischer Staat ins Leben gerufen durchlief das Gebiet in den Wirren des Dritten Reichs, des Zweiten Weltkriegs sowie weiterer paralleler Ereignisse eine Reihe von Veränderungen, die zur mehrmaligen Umgestaltung des Grenzverlaufs führten. War das Land zwar nach 1933 die einzige noch funktionierende Demokratie Ost- und Mitteleuropas, so beeinflussten die Geschicke seiner Nachbarn die eigene Geschichte und den Charakter der Politik enorm mit. Der endgültige Bruch dieser Republik erfolgte nach dem Fall des Kommunismus mit der separaten Staatsgründung von Slowakei und Tschechischer Republik. Beide Nationen hatten und haben Einiges gemeinsam: Die Sprachen sind derart eng verwandt, dass sich Tschechen und Slowaken in der Regel problemlos miteinander verständigen können. In der Landschaftsgestalt gibt es Parallelen und auch innerhalb der Bevölkerung existieren Verbindungen. So gab es in der Vergangenheit beispielsweise eine Migrationsbewegung von Tschechen, die zum Ziele wirtschaftlicher Unterstützung in die heutige Slowakei zogen. In meinem Umfeld gibt es ebenfalls eine Reihe von Einheimischen mit gemischten Wurzeln. Ein Unterschied beider Länder findet sich beispielsweise im Hinblick auf die Religion: Während die Zahl bekennender Gläubiger in der Tschechischen Republik überraschend gering ist (besonders in Böhmen) spielt der Glaube in der Slowakei eine wichtige Rolle.
Jährlich wird in Tschechien und in der Slowakei am 17. November der „Tag des Kampfes für Freiheit und Demokratie“ begangen. Dabei wird den Studentenprotesten des Jahres 1939 gegen die nationaldeutsche Besatzung ebenso gedacht sowie den 1989 die „Samtene Revolution“ auslösenden Demonstrationen in Prag.
In diesem Jahr lag jener nationale Feiertag derart günstig, dass sich mit nur einem „day off“ prima ein langes Wochenende schaffen ließ. Optimal also, um eine etwas längere Tour ins Auge zu fassen. Meine Auswahl viel dabei auf das – nicht mit Slowenien zu verwechselnde – Nachbarland Tschechiens. Sowohl von den Möglichkeiten aktiver Freizeitgestaltung wie Klettern, Mountainbiken, Schwimmen oder Wandern als auch von der Natur, dem Relief und einer ganzen Reihe weiterer Aspekte her hatte der mitteleuropäische Binnenstart mein Interesse geweckt. Da eine befreundete Freiwillige ihren Dienst in der nordostslowakischen Stadt Stará Ľubovňa leistet, war auch die Frage nach dem „Wo?“ schnell geklärt. Wahrlich verbindend, das ErasmusPlus-Programm :)
Im Morgengrauen des 17. Novembers begann unsere Reise in Nordböhmen. Da eine derartig weite Tour nicht mal eben so an jedem beliebigen Wochenende machbar ist, wollte ich auch von dem Weg möglichst viele Impressionen mitnehmen. Daher wurde für das ostböhmische Pardubice eine längere Verweildauer einkalkuliert. Dass diese die frühere Aufsteh- und umfassendere Reisezeit wirklich wert ist zeigte sich dort aber erst nach einigen Schritten: Wie auch in einer Reihe deutscher Städte befindet sich hier der Bahnhof abseits des alten Stadtkerns. Nach einem Fußmarsch von 1700 Metern veränderte sich das uns umgebende Bild abrupt: An die Stelle von massiver Sowietarchitektur traten grazile barocke, gotische und renaissancistische Bauwerke. Perfekt für einen Stippbesuch wie den unseren: Durch das historische Zentrum führt ein Rundweg mit Informationstafeln zu der jeweiligen Sehenswürdigkeit. Von einer Einordnung in die entsprechende Epoche bis hin zur Geschichte des Ortes versorgen sie den interessierten Besucher gut mit den gewünschten Informationen. Einzige Voraussetzung: Der Leser muss des Englischen oder Tschechischen mächtig sein.
Nach dem Genuss der abwechslungsreichen Baukunst, der reichen Ornamente, soliden Festungswälle, der Auffrischung des Schulwisssens über die verschiedenen Architekturepochen und dem überraschenden Antreffen von freilaufenden Pfauen auf dem wehrhaften Schloss ging es dann wieder zurück zum Hauptbahnhof. Mit genügend Zeit und dem guten Gefühl eines gelungenen Stadtbesuchs sowie einem reibungslosen Ticketkaufs für die Weiterreise verließen wir bald schon die Tschechische Republik. In der pardubicer Bahnhofshalle befindet sich passenderweise ein Wandmosaik mit der ehemaligen Tschechoslowakei. Ebenso unkompliziert wie damals und unbemerkt passierten wir dank dem europäischem Schengener Abkommen die Staatsgrenze. Immer wieder wechselte der Charakter der an uns vorbeifliegenden Natur. Wiesen, Agrarland, Seen, wasserreiche Flüsse und zum Ende hin immer häufiger und höher werdende Berge. Der dort liegende Schnee zeigte uns klar, dass hier wortwörtlich ein anderer Wind weht.
Nach all den Stunden (ca. elf) und Kilometern (ca. 615) herrschte in Stará Ľubovňa sogleich Konsens über den nächsten Schritt: Essen fassen! Dazu führte uns die bereits gut ortskundige Freiwillige in einen sogenannte „Salaš“ – die traditionelle Hirtenunterkunft, heute oft Raum kleiner Restaurants. Hier fiel ob der großen Auswahl eine Entscheidung über das passende Gericht gar nicht leicht; die Karte war gespickt mit verführerischen landestypischen Köstlichkeiten. Selbstverständlich Nocken (auf Slowakisch „halušky“) in verschiedensten Variationen wie „Bryndzové halušky“ – das Nationalgericht schlechthin – oder Abwandlungen mit verschiedenartigem Gemüse oder Gewürzen. Dazu gab es noch „Parené buchty“ (Dampfnudeln), unterschiedliche Käse- und Fleischgerichte sowie „Lokše“ (eine Art Kartoffelfladen). Im Anschluss überzeugte die Dessertauswahl mit Palatschinken, Mohnnudeln, Strudeln und einer Reihe weiterer Leckereien. Allesamt repräsentativ slowakische Nachspeisen.
Nachdem der erste gemeinsame Abend gemütlich mit dem Ansehen eines Films zuende gegangen war wollten wir den (freien) Freitag für eine Wanderung nutzen. Ursprünglich hatten wir dazu eine nahegelegene Klamm ins Auge gefasst. Dem machten der tauende Schnee und das dadurch behinderte Vorwärtskommen jedoch einen Strich durch die Rechnung. Nichtsdestotrotz ließen wir in einer fünfstündigen Tour die Umgebung auf uns wirken, bestaunten das durch partiellen Sonnenschein magisch in Szene gesetzte Umland und kehrten matschbesudelt aber zufrieden heim – gerade passend zum Einbruch der Dämmerung. Auf dem Rückweg belohnte zudem der Anblick der erhabenen Höhenburg von Stará Ľubovňa.
Durch einen glücklichen Zufall gab es just während unseres Aufenthalts ein kleines Filmfestival in der Stadt. Die Veranstaltung trug den Namen „Zdruff“, was so viel wie „Hey“ bedeutet. Am Freitag und Samstag wurden im örtlichen „Kino Tatra“ verschiedene Beiträge rund um den Outdoorsport vorgeführt. Mal im Dokumentationscharakter, mal scheinbar ein „bloßer“ Mitschnitt beeindruckender Leistungen, ein anderes Mal wiederum eher in der Art eines Gedankenanstoßes; mal ging es um das Mountainbiken in Schottland, mal um Extremdistanz-Laufen in Patagonien mit lehrhaftem Nebeneffekt, in einem anderen Film stand das Wingsuit-Fliegen im Mittelpunkt, im nächsten eine spezielle, schwindelerregende Kategorie des Wildwasserrennsports. Besonderer Schwerpunkt lag auch auf verschiedenen Arten des Kletterns oder des Skifahrens. Kurzgefasst: Atemberaubende Leistungen von inspirierenden Persönlichkeiten. Abgerundet wurde dieses Programm von einer fast familiären Atmosphäre mit ungewöhnlichem, frisch bereitetem Tee, hausgemachten Brotaufstrichen, zwei bildreichen Vorträgen slowakischer Wanderer bzw. Kletterer (weshalb auch die mangelhaften Sprachkenntnisse nicht allzu schlimm waren), einer Tombola mit nützlichen Ausrüstungsgegenständen sowie einer tollen Aftershow-Party im örtlichen „Bururu-Pub“. Handgemachte Livemusik der lokalen Indie-Rock-Band „No Brake“ und Gespräche mit Einheimischen bildeten hier den perfekten Abschluss des Erlebten.
Mal wieder viel zu schnell verflog die Zeit unseres Aufenthalts, sodass es nach einem Ausflug in das Schwimmbad der Kleinstadt und ein paar weiteren gemeinsamen Stunden schon wieder Abschied nehmen hieß. Der Besuch war jedoch in jeder Hinsicht Zeit und Preis mehr als wert. So bleiben schöne Erinnerungen, ein bestärktes Band zwischen Tschechien und der Slowakei – oder weniger hochtrabend formuliert: mindestens zwischen Freiwilligen – und neuer Elan für die nächsten Aufgaben. Also bis zum nächsten „Zdruff“!