Was ist los in Yerevan ?
Seit der Stürmung einer Polizeistation in Yerevan vor zwei Wochen ist die politische Situation angespannt. Lange Zeit konnte man in den deutschen Medien nur wenig über die Geschehnisse erfahren, vor allem nicht über die Hintergründe. Was ist los in Yerevan ?
Der 17. Juli
Am 17. Juli stürmte eine Gruppe von ca. 30 bewaffneten Männern die Polizeistation des Yerevaner Stadtteils Erebuni. In dem darauf folgenden Gefecht wurde ein Polizist getötet und Männer beider Seiten verletzt. Polizisten, die sich zu diesem Zeitpunkt auf der Station aufhielten, wurden als Geiseln genommen. Die Geiselnehmer fordern die Freilassung politischer Gefangener und den Rücktritt des Präsidenten Serge Sargsyan und seiner Regerung. Sie veröffentlichten ein Video auf facebook, in dem sie die Bevölkerung dazu aufriefen, auf die Straße zu gehen, um Solidarität zu zeigen und einen Regierungswechsel zu fordern. Die Gruppe verkündete, dass sie keine Absichten hat sich zurückzuziehen, und dass sie bereit sind entsprechend zu reagieren, wenn die Polizei sie attackiert. Grundsätzlichen wollen sie allerdings eine friedliche Lösung ihres Anliegens, weshalb sie mit den Autoritäten in Verhandlung sind.
Was steckt dahinter ?
Die Gruppe nennt sich selbst Sasna Tsrer (The Daredevils of Sassoun), nach einem mittelalterlichen armenischen Heldenepos. Sie besteht hauptsächlich aus Kriegsveteranen, ,,Freiheitskämpfern“, sowie Mitgliedern der politischen Opposition ,,The Founding Parliament“. Diese versteht sich nicht als politische Partei sondern als Bewegung, die einen Regierungswechsel sowie die Loslösung Armeniens aus den post-sowjetischen Fängen der Korruption verlangt. Einige der Mitglieder sind derzeit im Gefängnis, unter ihnen der Anführer der Founding Parliament Bewegung, Jirayr Sefilian. Diese Gefangenen wollen die Geiselnehmer Sasna Tsner befreien.
Der Anführer der Founding Parliament Bewegung Jirayr Sefilian ist ein gefeierter Kriegsveteran des Karabagh-Konflikts mit Heldenstatus in Armenien. Er nutzt seine Bekanntheit um auf die Missstände in Armenien aufmerksam zu machen. In seinen Augen ist Armenien heimgesucht von unfähiger Leitung und Korruption, wovor das Land dringend gerettet werden muss. Er trat erst kürzlich in die Sphären der Politik ein, indem er andere Kriegsveteranen mobilisierte um die Beschwerden über dürftige Unterkünfte, Gesundheitswesen und Arbeitslosigkeit stimmhaft zu äußern. Dann gründete er die Founding Parliament Bewegung mit gleich denkenden öffentlichen Personen verschiedener Hintergründe. Die Partei ist allerdings nicht im derzeitigen politischen System vertreten. Sie verweigern ihre Teilnahme am Wahlprozess aufgrund dessen Intransparenz und fordern den Rücktritt der Regierung, Bildung einer Übergangsregierung und Neuwahlen.
Sefilian und sechs andere Mitglieder der Bewegung wurden im Juni wegen illegalen Waffenbesitzes verhaftet, wobei auch die Anschuldigung fiel, einen Putsch geplant zu haben. Sefilian wurde bereits 2007 und 2015 wegen illegalen Waffenbesitzes und Organisierung von Massenunruhen verhaftet.
Während das Hauptanliegen von Sasna Tsrer die Befreiung der Gefangenen ist, besteht derzeit auch eine Spannung unter armenischen Nationalisten wegen Gerüchten aus dem Kreml, wonach die armenische Regierung Land aus Karabagh abgeben soll, das die Kriegsveteranen im Karabagh-Krieg erobert hatten. Im Austausch dafür soll die selbsternannte Regierung Nagorno-Karabaghs international anerkannt werden. Auch wenn Armeniens Präsident Serge Sargsyan erklärte, kein solches Angebot aus Moskau bekommen zu haben, fürchten die Kriegsveteranen dennoch Land zu verlieren, das sie damals gewonnen haben. Karabagh verlor bereits im Gefecht Anfang April diesen Jahres Land an Aserbaidschan.
Populären Oppositionsparteien distanzieren sich vom Radikalismus des Founding Parliaments, sehen aber auch die armenische Regierung in der Verantwortung für die derzeitige Situation, aufgrund der allgemeinen Atmosphäre von Ungerechtigkeit im Land. Die Korruption schadet der Wirtschaft und bringt das Land um seine Ressourcen, weshalb die Entvölkerung Armeniens steigt. Eine Umfrage von 2015 zeigte, dass 40% der Armenier emigrieren würden, wenn sie das Geld dazu hätten. (Im Vergleich: Die Nachbarländer Georgien und Aserbaidschan liegen bei 14%) Viele Armenier müssen als Gastarbeiter ins Ausland gehen, um ihre Familie ernähren zu können, und sind dort harten Arbeitsbedingungen und rassistischer Diskriminierung ausgesetzt. Abgesehen davon ist die Bevölkerung besorgt wegen manipulierter Wahlen und allgemeiner Missachtung des Demokratisierungsprozesses in Armenien.
Was passierte seit der Geiselnahme ?
Am Tag der Geiselnahme am 17. Juli war die Situation in Yerevan angespannt. Hauptakteure der Regierung in der derzeitigen Situation sind der National Security Service und die Polizei von Yerevan. Auch die mit der Regierung verbundene Medien versuchen, Informationen zu unterdrücken. Während Armenier in Yerevan und in Diaspora ihre Informationen vielfältig aus dem Internet bekommen können, ist die Bevölkerung in den vielen Dörfern Armeniens auf Nachrichten aus TV und Printmedien angewiesen. Vermehrte Polizeipräsenz war in Yerevan bemerkbar. Die Gegend wurde abgesperrt, Autos wurden durchsucht und zurückgeschickt. Facebook und soziale Medien, die über die Geschehnisse berichten, waren vorübergehend nicht verfügbar. Menschen versammelten sich an öffentlichen Plätzen im Stadtzentrum, die Polizei intervenierte, verhaftete Aktivisten ohne Rechtsgrundlage, auch bei den Protesten der folgenden Tage. Die meisten wurden am nächsten Tag wieder freigelassen; die Bevölkerung sieht die Verhaftungen als bloße Einschüchterungstaktik, weshalb sich die Menschen jetzt erst recht versammeln. Da die Polizei vermehrt Barrikaden um öffentliche Plätze im Stadtzentrum aufstellt, verlegen sich die Proteste auch auf die Nachbarschaft außerhalb des Zentrums. Besonders gewaltsam war eine Ausschreitung am 20. Juli vor der gestürmten Polizeistation, als die Demonstranten sich nicht auflösen wollten und Gegenstände in Richtung Polizei warfen. Die Polizei verwendete Schilder, Schläger, Blendgranaten und Tränengas gegen die Demonstranten. Berichte über Verletzungen durch Polizeigewalt und unrechtmäßige Verhaftungen häufen sich.
Die Geiseln der Polizeistation sind seit dem 23. Juli alle frei, stattdessen wird derzeit allerdings medizinisches Personal festgehalten, das sich um die verwundeten Männer unter den Geiselnehmern kümmern sollte. Die USA, Russland und die Europäische Union haben die Stürmung der Polizeistation verurteilt. In einem gestern veröffentlichten Statement fordert die Europäische Union sofortige Freilassung des medizinischen Personals und ermahnt die armenischen Autoritäten erneut, auf exzessive Gewalt zu verzichten. Genauso sollen die Demonstranten auf Gewalt verzichten, um ihre Bürgerrechte auszuüben. Außerdem erinnert die Europäische Union daran, dass Gewalt nicht akzeptabel ist um politische Veränderungen zu erreichen. Konflikte sollen durch politischen Dialog gelöst werden, mit Achtung der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und der Grundfreiheiten. Auch gestern Nacht kam es wieder zu Ausschreitungen mit Polizeigewalt, ein Ende der Situation ist nicht in Sicht.