Was ist eigentlich ein Litauen?
Und was bewegt seine Bewohner? Was erwartet man von einem Semester in einem Land, dem kaum einer die richtige Hauptstadt zuordnen kann? In einer Stadt, von der man vor Sichtung der Erasmusliste noch nie gehört hat?
Was ist eigentlich ein Litauen?
Im August 2016 sollte ich in eine Gegend aufbrechen, die in den mentalen Landkarten der meisten deutschen Schulabsolventen ein großer weißer Fleck mit einem Fragezeichen darauf ist: Das Baltikum. Da war doch irgendwas mit Lettland, Litauen und Estland, aber wo lag das noch gleich? Und gehört das überhaupt zur EU? Was erwartet man von einem Semester in einem Land, über das man nichts hört?
,,In welchem Land liegt Litauen denn?” ,,Ist das nicht eine Stadt in Lettland?” Viel Verwirrung löste mein Entschluss aus, ein Semester in Litauen zu verbringen, und offenbarte so einige geographische Defizite in meinem weit gereisten Familien- und Bekanntenkreis. Irgendwo im dunkelsten Osten, darüber ist man sich einig. Irgendwo inmitten dieses postsowjetischen Länderwirrwarrs, das nach dem Fall des Eisernen Vorhangs Generationen von Erdkundeschülern gehörig auf Trab hält.
Zugegeben, mit seinen 2,9 Millionen Einwohnern könnte es sich bei Litauen tatsächlich um eine Stadt handeln und in Papas altem Diercke ist es auch noch nicht eingezeichnet. Viel mehr als die oben frei zitierten Anonymen weiß auch ich nicht über das Land, in dem ich den Rest des Jahres verbringen will. Letztes Jahr habe ich die Lage gecheckt, da sind noch keine russischen Soldaten durch die Straßen patroulliert. Ansonsten ist es auch für mich ein Sprung ins kalte Wasser.
Meine erheblichen Wissenslücken habe ich mit allerlei finsteren Vorurteilen aufgefüllt, die ich höchst willig bin, in den nächsten vier Monaten über Bord zu werfen. Ich hoffe, dass ich der Antwort auf die Frage näher komme und sie bald zu Hause verkünden darf: Was ist eigentlich ein Litauen?
Der wilde Osten
Ankunft in Kaunas, der zweitgrößten Stadt Litauens. Zwischen Euphorie und Ernüchterung.
Die anfängliche Frage, was eigentlich ein Litauen sei, scheint mir inzwischen grundlegend falsch formuliert. Nachdem ich gestern zum zweiten Mal innerhalb von einer Woche das halbe Land durchquert habe, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass auf einer Fläche, die kleiner ist als Bayern, sogar zwei Litauens miteinander konkurrieren:
Das eine Litauen ist weite menschenleere Natur, wild wurchernde Wälder und verschlungene Flüsse in unbegradigtem Betten, gesäumt von unbefestigten Ufern. Wenig ist hier gerade, wie man schon vom Flugzeug aus sieht. Die Bäume stehen nicht in Reih und Glied und die Feldwege, die alle in sogenannten Dörfern enden (sprich vier bis zwölf Häuser mitten in der Pampa, außer Schussweite vom jeweiligen Nachbarn), winden sich planlos zwischen Wiesen, Seen und Mooren hindurch. Äcker wellen sich über Hügel (!) und auf der gesamten Fahrt im nur durch eine Dachluke klimatisierten Bus duftete es blumig-würzig nach allem, was auf den großen brach liegenden Feldern zu gedeihen pflegt. Es ist kein Wunder, dass dieses Litauen die höchste Prokopfanzahl an Heißluftballons hat. Zu diesem einen Litauen zähle ich übrigens auch die urige Altstadt von Kaunas (wo abblätternder Putz durch gemütlichen Studentenflair kompensiert wird), die Akkordeonspieler auf den Alleen und die hilfsbereiten Menschen, die uns hier willkommen heißen, uns litauische Volkstänze lehren und über das Kopfsteinpflaster helfen.
Das andere Litauen hingegen besticht durch verlassene und halb verfallene Betonbarracken, durch zugerammelte Fenster und schiefe Wellblechhütten. Unvorhersehbare oder schlichtweg fehlende Straßenbeläge lenken den Blick um der eigenen Sicherheit willen von der harmonischen Landschaft und den niedlichen Häusern ab. Statt Akkordeonspielen und inoffiziellen Himbeerverkäufen am Straßenrand oder aus dem Kofferraum, verdient sich hier so mancher sein täglich Bier durch Betteln am Restauranttisch.
Nach einer vieversprechenden Fahrt durch das erste Litauen war meine Ankunft im zweiten Litauen, nämlich in den Kaunaser Außenbezirken, wo ich irgendwie versehentlich landete, entsprechend ernüchternd. Während ich mir noch zehn Minuten zuvor für den Entschluss, ein Semester in Litauen zu verbringen, gratuliert hatte, war hier plötzlich alles beklemmend, fremd und trostlos -- die tote Katze auf dem maroden Gehsteig illustrierte meinen Stimmungswandel. Doch ich gönnte mir ein Taxi und gab Kaunas, von dem ich so viel Gutes gehört hatte, eine Chance. Welche Stadt ist schon von außen schön? Das Herz von Kaunas sind die Laisves Aleja mit ihren 390 Linden (Zahl nach der Stadtführung vergessen und daher frei erfunden) und die schnucklige Altstadt, wo sich fast ausschließlich Studenten tummeln, sodass ich mich in eine “The Tribe”-Folge versetzt fühle. Hier lässt es sich leben und an die verlassenen Betonruinen, die Plattenbauten und blinden Fenster hier und da gewöhnt man sich erstaunlich schnell.
Auf ein Bier mit einer Litauerin
Der Koffer ist ausgepackt. Zeit, sich die Sache aus der Nähe zu betrachten. Was treibt die Litauer von heute so um? Um das herauszufinden, muss ich mir anscheinend eine gewisse Biertoleranz antrainieren.
Nach einer – Erasmus sei Dank – babelhaften Woche unter Georgiern, Amerikanern, Tschechen und natürlich dem obligatorischen Heer Deutscher und Asiaten ist es mir heute gelungen, eine Angehörige der Spezies litauis litauis, des “echten Litauers” näher zu observieren. Bislang habe ich mehr über den Rest der Welt erfahren als über das Fleckchen Erde, auf dem ich mich am Samstag niedergelassen habe: Dass Ljubljana der Mittelpunkt der Welt ist und Kroatien (aka, ich zitiere: “Bäh!”) buchstäblich inexistent, habe ich von einer Slowenin gelernt. Dass man in Korea bereits zwei Jahre alt ist, wenn man das Licht der Welt erblickt, von einer überaus emphatischen, allzeit winkenden, nickenden und Beifall klatschenden Gruppe Koreaner, für die ein einfacher Smiley ohne jeglichen Zusatz von Herzchen und schnurrenden Katzenemojis mit rosa Schleifchen vermutlich einer Kriegserklärung gleichkommt. Von meiner Zimmergenossin weiß ich jetzt, dass man durch Nachsalzen seine italienische Staatsbürgerschaft aufs Spiel setzt.
Doch trotz dieses starken Hintergrundrauschens wird das Bild von Litauen, langsam aber sicher, etwas schärfer: Die Frage, wie viel Bier das Gegenüber vertragen kann, bevor es vom Stuhl kippt, scheint hierzulande als unverfänglicher Einstieg in den freundlichen Smalltalk hochgeschätzt zu sein, Biertrinken selbst ist Wissenschaft und zweiter Volkssport zugleich. Volkssport und zweite Religion ist natürlich Basketball, wovon allerdings auch nur Litauer und Basketballer wissen. Russland scheint sich hier ähnlich großer Beliebtheit zu erfreuen wie in Finnland. Entsprechend glücklich ist Samanta (20 europäische Jahre, sechs Bier) über Litauens EU-Beitritt, schließlich sei es ein europäisches Land und nicht einfach einer dieser postsowjetischen Ostblockstaaten wie die da unten und außerdem sei die Ostesee alles, was Litauen von Skandinavien trenne. Ich war drauf und dran, sie daraufhin wegen der Punktevergabe beim Eurovision Song Contest zur Rede zu stellen, aber da sie erst beim zweiten Bier war, ließ ich es vorsichtshalber bleiben.
Mit einem irgendwie zerknirschten Stolz sprechen die Litauer während der Orientierungswoche von den Zeiten, als sich das Großfürstentum Litauen bis ans Schwarze Meer erstreckte, auf die sie allem Anschein nach gerne und mit von der Zeit ungetrübter Wehmut zurückblicken. Ihrer Heimat, Bräuche und Traditionen voll und ganz bewusst, taugen unsere einheimischen Mentoren zu Stadtführern, Lehrern im Volkstanz und allen voran natürlich Botschafter des litauischen Biers.
So lebt ein Student in Kaunas
Ich lebe mich im exquisitesten der Kaunasser Wohnheime ein, im Bett gegenüber eine Stilberaterin, Entertainerin und Gestikulationsexpertin aus Mailand.
Die Vytautas Magnus-Universität verfügt über drei Wohnheime: Baltija, Taika (was „Frieden“ bedeutet) und Karas („Krieg“… Die Litauer haben entweder einen gewöhnungsbedürftigen Sinn für Humor oder ein besonderes Talent dafür, die Dinge beim Namen zu nennen). Samanta, die in „Krieg“ untergebracht ist, sagt jedenfalls, dass der Name ihr Wohnheim ganz passend beschreibt. Ich habe es anscheinend besser getroffen und ein Zimmer in Baltija ergattert, das sie das beste Kaunaser Wohnheim nennt – jetzt wäre ich echt mal gespannt, Krieg und Frieden zu besichtigen.
Ich kann mich nicht beklagen, denn, wie Linguistikdozentin Violeta weiß: „Es sind die Menschen, die die Orte machen.“ Es wäre nur schön gewesen, wenn Generationen dieser dekorativen Menschen weniger Souvenirs in unserem Zimmer hinterlassen hätten. Man könnte archäologische Grabungen durchführen und müsste dazu nicht einmal tief schürfen, ein Blick unter das Waschbecken genügt zum Beispiel schon für den Fund eines prähistorischen Kaugummis. Da ich aber ein überaus toleranter Mensch bin, nicht nur was Chinesen und Tschechen in meiner Küche angeht, sondern auch in Sachen Schmutz und kaputter Glühbirnen, ist dieses Zimmer im Jugendherbergsstil mit seiner nur durch eine Wurstkordel festgehaltenen Duschstange und dem Klebeband an den zugigen Fenstern schon mein Zuhause geworden.
Ich habe auch festgestellt, dass Privatsphäre ein Luxus ist, den man nicht unbedingt braucht, und keine Voraussetzung für ein gesundes und zufriedenes Leben, wie ich vor meiner Ankunft hier glaubte. Natürlich sind erst zwei Wochen vergangen, aber viele Studenten hier, auch die internationalen, sind daran gewöhnt, sich ein Zimmer teilen zu müssen. Und bislang verspüre ich keine Nebenwirkungen wie Mordlust, Italophobie oder Anzeichen psychischer Erkrankungen.
Stattdessen vertiefe ich täglich meine Kenntnisse in italienischer Zeichensprache (nicht die für Taube, sondern das mediterrane Gestikulationsalphabet), für die man aber offenbar bestimmte Muskeln von Kindauf trainieren muss. Nachdem ich das Rudel deutscher BWL-Studenten aus den zwei genannten Gründen bislang erfolgreich gemieden habe, sollte ich nun, wo der Herbst naht, aber trotzdem nach ein paar Freunden von nördlich der Alpen Ausschau halten, die morgendliche Wolken nicht beleidigt zum Anlass nehmen, den Tag im Haus zu verbringen und für die das Wort Sonnenschein dieselbe Bedeutung hat wie für mich. Ich habe nämlich nicht vor, die vielen Seen hier ungenutzt zufrieren zu lassen.
Wie man Litauer zum Lächeln bringt…
Über Verständigungsschwierigkeiten und Sprachbarrieren - Teil 1.
Das wäre dann schon die zweite Frage, die in Großbuchstaben über diesem Auslandssemester steht. Nicht nur Litauen bleibt rätselhaft (auch wenn das Bild allmählich klarer wird, aber dazu später mehr) sondern vor allem seine Bewohner. Es ist wohl nicht anzunehmen, dass dieses Land von 2,5 Millionen böswilligen Misanthropen bevölkert ist, auch wenn es anfangs fast den Anschein hatte: Litauer lächeln grundsätzlich nicht. Zumindest keine Fremden an. Sie ziehen klaglos deine Waren über den Scanner, laden und entladen ohne Aufforderung dein Gepäck, aber ohne dabei ihre Gesichtsmuskulatur überzustrapazieren und womöglich Falten zu riskieren; mit steinerner Miene.
Es würde vielleicht helfen, Litauisch zu sprechen, aber das kann ja wohl niemand erwarten, oder? Manch einer täuscht einen plötzlichen Taubheitsanfall, oft kombiniert mit kompletter Stummheit vor, wenn wir uns mit Englisch behelfen wollen. Das wird hier weithin offenbar nicht als Sprache sondern als heftige und ansteckende Sprachstörung erachtet und es gibt gereizte Busfahrer, die sich durch den Gebrauch von Englisch anscheinend zutiefst und persönlich beleidigt fühlen. Andere geben aus reinem Prinzip vor, weder englische Zahlen im Zahlenraum bis fünf noch internationale Gesten verstehen zu können. In der Regel sind die Taub- und Stummheitssymptome vielleicht nicht einmal auf mangelnde Sprachkenntnisse oder schlicht Fremdenangst zurückzuführen. Womöglich muss man sich das Wohlwollen und das Lächeln vieler Litauer erst verdienen und man ist hier weniger freigiebig oder verschwenderisch damit. Das würde bedeuten, dass das Lächeln eines Litauers besonders wertvoll ist und ich werde weiterhin tapfer versuchen, den Kassiererinnen und Busfahrern (das war jetzt überhaupt nicht genderlinguistisch korrekt) eines abzuringen.
Die alte Frau, die meine schweren Koffer und mich auch dann noch unbeirrt und ziemlich ausdauernd mit einem mitleidigenden Lächeln und sicher tröstend gemeinten Worten bedachte, nachdem ich ihr drei Mal verbal und pantomimisch erklärt hatte, nicht die Bohne zu verstehen, hat mir gezeigt, dass es möglich ist. Litauer lächeln. Nur eben nicht um der Höflichkeit willen.
Besagte Frau musste ich übrigens mitten in ihrem mutmaßlichen Exkurs über verirrte Erasmusstudentinnen mit zu viel Gepäck und zu wenig Ahnung stehen lassen. Was hätte ich denn machen sollen? Wer weiß, wie lange sie in ihrem Überschwang, endlich eine Zuhörerin gefunden zu haben, die sie weder verstehen noch unterbrechen kann und die ihr die nettesten Worte in den Mund legt, während sie in Wirklichkeit nur übers Gardinenwaschen sprach, weiter geplaudert hätte.
Wo gesungen wird, da lass dich nieder
In einem Land, das sich singend von der sowjetischen Herrschaft befreit hat, und aus dem die ältesten überlieferten indoeuropäischen Liedtexte stammen, ist Musik identitätsstiftend. Ich habe mal die Ohren gespitzt.
Habe die Ehre, Chormitglied im Land der Chöre und Lieder und der Singing Revolution zu sein.
Die Litauer schätzen und pflegen ihr kulturelles Erbe und das beinhaltet schiefe Töne. Die eigentümliche Gesangstradition durfte ich gestern im Folkclub miterleben: Eine Gruppe alternativ gekleideter, langhaariger Litauer mit auf Lederbänder gefädelten Kieselsteinen um den Hals steht im Kreis, plötzlich fühlt sich eine oder einer davon berufen, zu singen. Nach ein paar volltönenden Noten aus tiefster Kehle, die einst in grauer Vorzeit bestimmt durch den ganzen weiten litauischen Wald geschallt sind, stimmen die anderen ein, allerdings auf eine Weise, die es handelsüblichen Ausländern unmöglich macht, einzufallen (selbst wenn sie das unmögliche Gezische der litauischen Sprache bewältigen könnte): Die ineinander verwobenen Melodien sind irgendwie dieselben, aber irgendwie auch ganz verschieden. Sie sind rhythmisch versetzt und liegen einen Ton auseinander. Das hört sich jetzt furchtbar an, klingt aber live so faszinierend, dass es einen bannt und man nur starren und lauschen kann, als erzählten die Sänger eine spannende Geschichte. Was wahrscheinlich auch der Fall ist, aber wer weiß das schon bei diesem Kauderwelsch. Die Stimme des „Anführers“ ist immer deutlich zu hören und irgendwie schaffen sie es alle, das scheinbare Chaos zu beherrschen und vollkommen gleichzeitig zu enden. Keiner scheute sich, zu singen und es gab auch keinen Grund dazu, weil jeder stimmlich perfekt ausgerüstet war, selbst die, die das Treffen eher wegen der Tänze besuchten. (Wem diese musikwissenschaftlich total ausgereifte Beschreibung nicht ausreicht, kann Youtube nach „Surtatine“ durchforsten. Im Sinne des Gehörs ist von einer Audiorecherche nach litauischen Hornquartetten allerdings dringend abzuraten.)
Unterdessen piepse ich in meinem neuen Chor kläglich vor mich hin (zu meiner Verteidigung, die anderen kennen ihr Repertoire schon etwas länger). Auch hier singen wir traditionelle Surtatine, allerdings deutschenfreundlich nach Noten. Auch der Chorleiter sprach ein bisschen Deutsch, als er mich dem Alt 1 zuteilte und dann bei der Verabschiedung. Dazwischen waren wir beiden Deutschen allerhand litauischem Geschwätz und Gekicher ausgesetzt ("so etwas gäb’s bei uns nicht") und verstanden nur die Worte „firmas alto“, „unisono“, „forte“ und die eifrigen Stereoübersetzungen unserer Sitznachbarinnen, die uns eifrig Wiederholungszeichen erklären wollten.
Immerhin trifft man fernab des Erasmusstundenplans ein paar Litauer und die freuen sich über den exotischen Besuch und das Interesse. Jemand, der Englisch spricht, wird dann immer irgendwo aufgetrieben. Bisher kommen mir die Litauer, ist die Sprachbarriere erst überwunden, ziemlich gesprächig vor und Schweigen scheint ihnen körperliche Qualen zu verursachen. Meine italienische Zimmergenossin hält sie hingegen für nordisch kühl und wortkarg. Perspektive ist alles.
Die Sprachbarriere bröckelt
Was tun, wenn sieben Jahre Englischunterricht scheinbar für die Katz' waren? Ein Leitfaden zur Kommunikation ohne gemeinsame Sprache.
Sie bröckelt nicht etwa, weil ich nach zwei Wochen Sprachkurs plötzlich mehr Litauisch verstehen würde. Die Lehrerin meint es dafür zu gut mit allen Studenten nicht indoeuropäischer Herkunft und vergeudet wertvolle Zeit darauf, Japanern, die ohnehin schon Englisch sprechen, zu erklären, wie man ein F ausspricht (“die Schneidezähne auf die Unterlippe und pusten”) und was ein Nominativ ist (Natürlich ist die Zeit aus japanischer Sicht nicht vergeudet und der Einsatz der Lehrerin ist selbstverständlich zu schätzen)… Weitere zwanzig Minuten streichen dann aber ungenutzt ins Land, weil es natürlich kognitiv unmöglich ist, die Anwesenheitsliste herumzugeben, WÄHREND man GLEICHZEITIG ein bisschen Vokabeln übt oder Hausaufgaben bespricht. Das würde eine geistige Anstrengung erfordern, die an Multitasking grenzt, was man hier offenbar zutiefst verabscheut. Zumindest wäre das, abgesehen von dem unberechenbaren Pflaster und dem gefährlichen Verkehr, eine Erklärung dafür, dass in ganz Kaunas niemand beim Laufen tippt oder beim Einkaufen Musik hört.
Die Sprachbarriere bröckelt, weil wir mittlerweile Strategien entwickelt haben, uns verständlich zu machen, wenn das Gegenüber kein Englisch spricht. Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Wichtig ist dabei zunächst, besonders ältere hilfsbereite Kaunaser nicht mit der Frage nach Englischkenntnissen zu erschrecken. Frage ganz sanft und mit einem Weiße Flaggen-Gesichtsausdruck. Nach dieser Grundregel kommen wir nun zu Möglichkeit eins: Wenn du Russisch kannst, nutze es. Das kommt zwar nicht sonderlich gut an und außerhalb des Umgangs mit nervigen Austauschstudenten aus Aserbaidschan oder russischen Touristen verwenden Einheimische die Sprache nur noch zum Fluchen, ist aber effektiv. Leider kommt diese Möglichkeit für mich nicht in Frage. Also Möglichkeit zwei: Wirf mit internationalen Wörtern wie “student”, “universitet”, “okay, “kopie” oder “normal” um dich, würze das ganze nach Belieben noch mit ein paar original litauischen as-Endungen (der Versuch wird immer geschätzt) und fülle die Lücken mit Akrobatik und Pantomime aus. Lies aus dem Kontext. Niese am Ende mit litauischem Akzent, was so viel wie “danke” bedeutet. Unter Umständen findest du danach heraus, dass dein Gesprächspartner ein paar gute Brocken Deutsch konnte, das ihm im Übrigen auch viel freundlicher über die Lippen gegangen wäre als Englisch.
Wenn die Leute wollen, verstehen sie selbst ohne gemeinsame Sprache schnell, was du ihnen vermitteln willst. Wenn sie nicht willig sind, bringen sie auch die wahnsinnige Abstraktionsgabe und Interpretationsleistung nicht auf, die erforderlich sind, um zu begreifen, dass das Zeigen von drei Fingern für die Zahl drei steht.
Zwischen Kaviar und Zimtschnecken
Über die geopolitische Zerrissenheit einer Nation: Eine kulturanthropoligische Analyse von Supermarktregalen und Menükarten. Zum Nachtisch gibt es einen leckeren Ausflug in die litauische Küche.
Wenn man es erst mal an den vollgestopften Aquarien, die vor Fischen und abgebissenen Schuppen ganz schwarz sind, vorbeigeschafft hat, ohne drei Karpfen in ein besseres Leben in der heimischen Badewanne gerettet zu haben (die übrigens zu meiner Entschuldigung nicht existiert), ist der Supermarkt um die Ecke einen Sonntags(!)ausflug wert. Bei einer Exkursion durch die Auslagen lassen sich kulturanthropologische Studien anstellen. Die Saunaabteilung gleich am Eingang und die Kaviardosen in verschiedenen Preisklassen lassen sich als Zerrissenheit dieses Landes zwischen dem Osten, und besonders (ich hoffe, kein Litauer kommt je auf die Idee, im Internet nach Roggenschrotbrot zu recherchieren) Russland, auf der einen und Skandinavien auf der anderen Seite interpretieren. Haferflocken, Fazerschokolade – dann natürlich nur im Sonderangebot – und Zimtschnecken, Nüsse und Süßigkeiten zum Selbstabfüllen stehen russischen Produkte gegenüber, deren kyrillische Beschriftungen trotzig mit litauischen, lettischen und estnischen überklebt sind. Dieser Zwiespalt zwischen dem russischen Erbe, das sich trotz allen Hasses doch nicht leugnen lässt, und dem Sehnen, dem Norden Europas statt dem Osten anzugehören, zeigt sich auch an anderer Stelle: Die gut gemeinten verschiedenfarbigen Mülltonnen auf dem Hinterhof sehen nur von außen nach Mülltrennung aus und Service und Organisation sind ziemlich gelassen. Manchmal angenehm gelassen: So ist es hier nicht notwendig, vor der Kasse heimlich Barcodes zu zerkratzen, um beim Einpacken und Bezahlen nicht von den Produkten des Hintermanns überrollt zu werden. Listen folgen sichtlich keiner logischen, schon gar keiner alphabetischen Ordnung, aber wozu auch? Warum die Hektik?
Hektisch sind nur die Autofahrer und ihr Fahrstil ist wiederum südländisch, wenn auch mit weniger Beulen, weil die Litauer es anscheinend immer schaffen, rechtzeitig zu bremsen. Wo wir gerade beim Thema Völkergemisch, und besonders kulinarischem, sind, muss ich doch noch mal die litauische Küche bewerben, die übrigens oft an die deutsche erinnert. Abgesehen von in Knoblauch und Öl gerösteten Brotschnitzen, die man sich natürlich im erwähnten Supermarkt nach Belieben abfüllen kann, und Knoblauchsoße auf Pizza, sind Cepelinai sehr zu empfehlen. Warum nur ist noch kein Deutscher auf die geniale Idee gekommen, Kartoffelknödel mit Hackfleisch zu füllen und sie dann auch noch zu lustigen kleinen Zepellinen zu formen? Das Ganze schwimmt in Öl und extrafettigem Schmand und schmeckt ausgezeichnet. Allen Kartoffelknödelneulingen, sprich nicht-deutschen Mitessern am Tisch mussten wir mühsam und mehrfach versichern, dass die seltsame gelbliche Masse aus ganz profanen Kartoffeln bestehe und selbst dann haben jene es wahrscheinlich zu Hause noch einmal gegoogelt.
Zweitens isst man hier eine kalte Rote-Beete-Suppe (Ähnlichkeiten mit einem bekannten russischen Gericht sind natürlich ausgeschlossen), in die man Kartoffeln tunkt. Den Namen habe ich vergessen, aber er enthielt viele Zischlaute.
Weil Essengehen hier nicht viel mehr kostet als ein Mensabesuch in der Mainzer Uni und auf jeden Fall lohnenswerter ist, werde ich noch weitere Gerichte ausprobieren und berichten. Und jetzt habe ich Hunger bekommen. Erst mal eine Schüssel Haferflocken mit Beeren.
Bilder vom Sommer
Auf einem “Hügel” bei Siauliai haben Katholiken, chinesische Rucksacktouristen und amerikanische Sekten massenhaft Kreuze aufgestellt.Und natürlich haben sich auch die Rostocker Malteser nicht lumpen lassen. Klar, wir Deutsche sind ja überall und müssen überall unsere Spuren hinterlassen.
Auf dem Rückweg Zwiebeln vom Feld geklaut. Ich bin mir nicht sicher, ob sie so gut geschmeckt haben, weil sie feldfrisch oder weil sie eigenhändig stibitzt waren.Wer den Rest der traurigen Kuhherde hat mitgehen lassen, ist ein Mysterium. Dieses Bild ist jedenfalls typisch für die litauische Einöde: Eine Wiese, zwei Kühe, kein Zaun. Eine litauische Bushaltestelle: Eine Haltebucht und ein handgeschriebener Fahrplan von 1973 mitten im Wald. Ein litauisches Dorf: Wer braucht schon Straßen? Oder Wege im Allgemeinen? Warum nicht einfach durch die zwei Nachbarsgärten steigen, wenn man mal das andere Ende des Dorfes sehen will?
Oh wie schön ist Panama!
Beim Wochenendausflug an die Kurische Nehrung, einer märchenhaften Halbinsel, die Litauen mit Kaliningrad verbindet, verliebten wir uns neu in unsere Erasmusheimat.
Dass man in einem litauischen Wohnheim wohnt, merkt man daran, dass eine Nacht im Sechsbettzimmer eines Hostels sich wie ein erholsamer Aufenthalt im Wellnesshotel anfühlt. Das Wochenende haben wir im Norden des Landes verbracht, der sich zum Süden so verhält wie das Hostel zum doch eher schäbigen Wohnheimszimmer. Da oben ist Litauen plötzlich gar nicht mehr so anders, es gibt Windräder und sogar Ziegeldächer, alles wirkt etwas wohlhabender und so sauber. Einziges Manko ist die flache Landschaft.
Natürlich haben wir die holprige Reise nicht auf uns genommen, um die (tourismusbedingt?) prosperierenden nordlitauischen Städte Klaipeda und Palanga vergeblich nach Betonruinen und abblätterndem Putz abzusuchen. Wir bereisten die Kurische Nehrung. Wer einmal barfuß die großen Dünen erklommen hat und hinunter in die Sandwüste blickt, die auf beiden Seiten vom Meer und märchenhaftem Wald eingerahmt wird, kann Litauen nur noch lieben. Soweit das Auge reicht erinnert nichts an Zivilisation (von dieser lästigen Meute aus Erasmusstudenten und selfiewütigen Koreanerinnen mal abgesehen) und patzige Friseurinnen und Wasserausfälle sind vergessen und vergeben. Wir waren winzige schwarze Punkte, die das Sandgebirge verschluckte, ohne dass wir dabei versehentlich nach Russland gewatschelt wären.
Sobald wir den feinen Sand einigermaßen aus unseren Zehenzwischenräumen gepuhlt hatten, folgten wir einer Migle, Monika oder Aurelija (ich erinnere mich nicht mehr, aber die litauische Namensvielfalt beschränkt sich im Grunde auf drei Namen pro Geschlecht) durch Klaipeda, das einst zu einem großen Teil von Deutschen besiedelt gewesen war. Leider hakte die mutmaßliche Migle den historischen Teil der Führung mit den Funfact, dass der seekranke Hitler hier nach seiner Schifffahrt mit grünem Gesicht Klaipeda im Dritten Reich willkommen geheißen habe und dem Hinweis, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs seien genau acht lebende Klaipedienser in den Trümmern übrig geblieben, schnell ab.
A propos Trümmer: Pünktlich zur Überquerung des litauischen Weißwurstäquators weckten uns nach zweistündiger Busfahrt Schlaglöcher aus den Träumen. Zuhause ist, wo man aus dem Bus direkt in eine knietiefe Pfütze springt und wo man erst über einen Wall Pflastersteinschollen und Bauschutt klettern muss, um ins heimelige Haus zu gelangen. Im schlechtesten Falle erwartet einen da dann ein Stapel ungespülten Geschirrs. Home sweet home!
Poltergeister und Plüschsessel - ein Universitätsvergleich
Studieren an der Vytautas Magnus Universität.
Es ist nicht meine Absicht, meine Heimatuniversität zu verunglimpfen (über 30.000 hungrige Mäuler und Hirne zu stopfen ist bestimmt kein Ponyhof), aber als Mainzer Geisteswissenschafter ist man ja schon froh, im Hörsaal eine Tischhälfte und die Andeutung von Tageslicht und nach der Vorlesung keine akute Wirbelsäulenfehlstellung zu haben. Kaunasser Studenten sind solche Kümmernisse fremd. Auch außerhalb der schicken Tagungsräumen mit den Mikrofonen, Bannern und Drehsesseln aus Plüsch gibt es wahrhaftige Tische, Stühle, auf denen es sich zwei Stunden ohne ernste medizinische Folgen ausharren lässt, und Fenster, und zwar in jedem einzelnen der in freundlichen Grundschulfarben erstrahlenden Klassenräume. Doch damit nicht genug: Neue Fernseher, Computer und Beamer glänzen überall vor sich hin, während durchgebrannte Overheadprojektoren mit jahrzehntealten Insektenleichen längst als Spende an die Mainzer Uni geschickt worden zu sein scheinen (Im Gegenzug verwerten die Litauer abgelegte deutsche Autos und Krankenwagen). Auch die Aufzüge lassen sich ohne Panikattacken benutzen! Es ist nicht weiter verwunderlich, dass die Uni auch von außen mehr hermacht als meine eigene. Und dann erst die Bibliothek: Statt muffig-beklemmend und aus Brandschutzgründen gesperrt, wie man das von zu Hause kennt, präsentiert sie sich offen und lichtdurchflutet und verströmt dabei den Duft von Holz. Anfangs gab es mir zu denken, dass ein Land, das Löcher in den Straßen mit Schotter stopft, seine Studenten so verwöhnt, während wir zu Hause im Dunkeln pauken. Doch nach fünf Wochen hier habe ich meine persönliche Rangliste noch einmal überdacht. Anlass dazu gab mir die späte Erkenntnis, dass litauische Studenten Studiengebühren zahlen und ich dachte mit Sehnsucht an das dicke kostenlose Sportprogramm des AHS und sogar den Zitronenpudding mit der leichten Spülinote in der Mainzer Mensa (eine Cafeteria gibt es an der VDU nämlich nicht.)
Obwohl meine Fakultät die größte ist (was bei der Begrüßung allerdings verwirrenderweise jede Fakultät von sich behauptet hat) haben alle Kurse die Dimension kleiner Schulklassen, in denen besonders das ständige Kommunizieren ohne Handheben die deutschen Erasmusstudenten vor eine Herausforderung stellt. Auch außerhalb des Unterrichts läuft die Organisation litauisch-entspannt ab, schließlich kommt ja sowieso immer alles anders als geplant: Kurse, die auf Englisch stattfinden sollten, werden auf Protest der Studenten hin doch auf Litauisch abgehalten, Seminare aufgrund geringer Teilnehmerzahl abgesagt, Räume geändert und, um zur Feier des Semesterbeginns noch ein bisschen mehr Verwirrung zu stiften, verschiedene Versionen desselben Kursplanes in Umlauf gebracht. Nichts davon ist mir übrigens persönlich widerfahren, dafür durfte ich beobachten, wie eine 45minütige Verspätung der Crosscultural Studies-Dozentin – hoffentlich ein crosskulturelles Krisenexperiment – die einheimischen Studenten verdächtig kalt ließ. Die Uhren hier ticken eben anders, nämlich meistens überhaupt nicht. In Gemeinschaftsarbeit haben wir in den Hauptgebäuden bislang genau zwei funktionierende Wanduhren geortet. Die Suche geht weiter…
Litauen in der Flüchtlingskrise
Döner ohne Tomaten nach litauischer Art.
Seit in jener märchenhaften Vorzeit, als Litauen noch das größte Reich Europas war, so traditionsreiche Minderheiten wie Russen, Polen und Tataren eingewandert sind, hat sich hier hier in dieser Hinsicht nicht mehr viel getan. Wer sich trotz sichtlich fremdländischer Herkunft in dieses geheimnisvolle, weithin unbekannte Land verirrt, ist entweder Tourist oder Austauschstudent, aber höchstwahrscheinlich Austauschstudent. Selbst die indischen Restaurants und türkischen Dönerbuden werden von Litauern betrieben. Der offenbar einzige dauerhaft in Kaunas lebende Migrant betreibt eine litauisierte Pizzeria, wo zu jeder Pizza ein halbes Barrel Knoblauchsoße gereicht wird. Allerdings ist sein Bart fast schon zu italienisch voluminös und pechschwarz, um nicht angeklebt zu sein.
Weil das Ausland nicht zu ihnen kommt, träumen viele junge Litauer von einem Leben im Ausland, am liebsten in Norwegen, deshalb werden hier auch eifrig Fremdsprachen gelernt. Fragt sich nur, wer hier noch leben soll, wenn die Jungen massenhaft Richtung Wohlstand emmigrieren und keine Einwanderer nachrücken. Ich tippe ja darauf, dass in spätestens sechzig Jahren ehemalige aserbaidschanische Austauschstudenten das Land regieren, die von aktuellen aserbaidschanischen Austauschstudenten und ein paar hängen gebliebenen Erasmusianern gewählt werden.
Siame Namie, der erfolgreichste Litauer aller Zeiten
Ich begebe mich auch die Spuren eines Multitalents sondergleichen.
Siame Namie, der berühmteste Sohn der Stadt und Universalgenie, lebte von 1694 bis 1988. Seinem Schaffen verdankt das litauische Volk zahllose Elegien, militärische Siege, Klaviersonette, Basketballmedaillen und Pokersiege. Nachdem er sich unter sowjetischer Besetzung im Namen der Freiheit selbst verbrannt hatte, schrieb er noch diverse Novellen. Mehr zu ihm später. Bis dahin habe ich noch eine schlechte und zwei gute Nachrichten zu überbringen, aber zuerst die schlechte: Offenbar habe ich ja eine Vorliebe für Länder mit hohen Selbstmordraten. Weil es unter den Nationen north of the Wall allem Anschein nach zum Volkssport geworden ist, die höchste Selbstmordrate für sich zu beanspruchen, habe ich mal selbst in die Tastatur gehauen („Das ist ja heutzutage alles möglich!“) und mir zur Feier des Wochenendes eine furchtbar unwissenschaftliche Wikipediarecherche gegönnt (der Ladendiebstahl des Masterstudenten), die folgendes trauriges Ergebnis lieferte: In dieser Disziplin braucht sich Litauen ausnahmsweise mal nicht hinter seinen skandinavischen Strebernachbarn zu verstecken. Litauen hat nicht nur die höchste Selbstmordrate Europas, sondern auch die vierthöchste der Welt, gleich nach Guyana, Südkorea und Sri Lanka. Frauen suizidieren dabei aber, soviel muss man Finnland und der skandinavischen Gleichberechtigung lassen, hier etwas seltener als dort.
Und nach dieser deprimierenden Nachricht leite ich holprig aber eilend zu den positiven Erkenntnissen der vergangenen Woche über: Die kleine Selbsthilfegruppe deutscher Erasmusstudenten hat ihre rastlose Suche nach der geeigneten Brotsorte endlich eingestellt. Fotos von Brotverpackungen kursieren in den sozialen Medien und per Mund-zu-Mund-Propaganda hat sich wie ein Buschfeuer verbreitet, wo es jenes eine kümmellose Brot zu kaufen gibt, nach dem unsere Abendbrotbrettchen verlangt haben. Kein deutsches Brot, aber lecker und einigermaßen nahrhaft.
Zweitens habe ich auf einem Morgenspaziergang (nach studentischer Zeitrechnung halb zwölf) durch das winterliche Kaunas entdeckt, dass der ominöse Siame Namie, der Hinweistafeln zufolge über Jahrhunderte hinweg in jedem zehnten Haus der Stadt gelebt und gewirkt haben soll, eigentlich mehrere Personen ist und „In diesem Haus“ heißt. Weitere Erkenntnisse werden folgen, nachdem ich einen Abend lang darüber gebrütet habe, ob die Frage „Kommst du eigentlich aus `ner Diktatur?“ noch in die Kategorie unverfänglicher Smalltalk fällt, und schließlich, weil Frieden ja schon eine ganz komfortable Einrichtung ist, beschloss, doch meinen Mund zu halten und stattdessen eine Dokumentation über Turkmenistan zu schauen.
Die eingefügten Fotos haben weder mit Suizid, noch mit Siame Namie oder Kümmel zu tun; sie sollen lediglich demonstrieren, dass der Winter eingebrochen ist, bevor die Blätter ganz von den Bäumen gefallen sind.
Über Türen
Falls ich nicht vorher von einer automatischen Tür zerstückelt werde (NB: Aufgrund kultureller Konflikte bezüglich der Wahrnehmung von Zeit und Geschwindigkeit zwischen dem Drehtürechanismus und mir, werde ich regelmäßig von zu langsamen Türhälften ausgebremst. Die Aufzugtür und ich verhandeln derweil täglich darüber, wer von uns beiden der Stärkere ist, seit ich mich in meinem unerschütterlichen Vertrauen in gebäudetechnische Sicherheit mit ihr angelegt habe.), könnt ihr mich in einem Monat als Weihnachtskugel an den Tannenbaum hängen. Ich habe nämlich zwei verhängnisvolle kulinarische Entdeckungen gemacht: Mit Schokolade überzogene Kondensmilchriegel (meine persönliche Neuinterpretation von “One apple a day (keeps the doctor alive)”) und Nudeltaschen mit Kartoffelfüllung. Da dachte sich wohl jemand: Warum nicht? Warum nicht mal der armen Kartoffel, die sonst immer von Schnitzel und Fisch als Statistin in den Hintergrund verdrängt wird, die Hauptrolle im Gericht einräumen? Zuletzt hat Friedrich der Große den Erdapfel so geehrt.
Natürlich achte ich darauf, meinen täglichen Kondensmilchriegel verschwinden zu lassen, bevor ich das Wohnheim betrete, um anklagende Blicke von Seiten der leicht bevormundenden Rezeptionisten zu vermeiden, die auf ihre Armbanduhren tippen, wenn man zu später Stunde nach Hause kommt, einen schimpfen, wenn man zum ersten und letzten Mal seinen Haustürschlüssel vergessen hat und um Punkt Mitternacht (Ende der Besuchszeit) eine Gästerazzia im ganzen Wohnheim durchführen.
Es weihnachtet sehr
Zum Ende des Semesters muss ich dann doch mal über das Wetter reden und über die Wärme litauischer Herzen.
Bei uns gibt es zwei Wetter: Eines draußen und, aufgrund eines undichten Plastikfensters, ein weiteres im Zimmer, wobei jenes dem Wetter draußen im Grunde in nichts nachsteht. Weil meine Mitbewohnerin regelmäßig vor der Kälte in die Uni flüchtet (was Mainzer Jurastudenten mit Hauptstandpunkt RW1 unvorstellbar erscheinen mag), habe ich das Zimmer in letzter Zeit oft für mich und das kleine Biotop auf meinem Mittagessensteller allein. Sie hat nicht ganz unrecht: Über den Betten wehen Herbststürme hinweg, die beinahe meine Adventskerzen ausblasen, und wenn man zu lange am Schreibtisch sitzt, läuft man Gefahr, an der Fensterbank festzufrieren. Das redliche Bemühen der Heizung ist nichts als eine permanente Energieverschwendung.
Das Wetter draußen dagegen ist erfreulich: Es liegt Schnee, den die unerschrockenen und stets tadellos gekleideten Litauerinnen starsinnig in Nylonstrumpfhosen und Stöckelschuhen durchstaksen. Im Kampf um die prunkvollste Weihnachtsbeleuchtung liefert sich Kaunas unterdessen ein erbittertes Wettrüsten mit Vilnius. Bäume sind in blendendblaue Lichterkettennetze eingewoben, der seit Oktober abgeschaltete Brunnen, das Gesicht von Kaunas, scheint endlich wieder zu plätschern und die gesamte Freiheitsallee funkelt friedvoll vor sich hin. Zu unser aller, und sicherlich auch Guidos größtem Unbehagen ist, wer auch immer für städtische Weihnachtsbeleuchtung zuständig ist, dem Farbschema jedoch nicht bis zum Ende der Straße treu geblieben, sodass sich jetzt goldene und silberne Lichterketten mischen!!! Hier und da bewegen sich die Farben der Beleuchtung auf einem schmalen Grad zwischen Neon und Protz, aber man gönnt sich ja sonst nichts – von den fast allnächtlichen Privatfeuerwerken mal abgesehen.
In der Uni verbreiten die Dozenten derweil Weihnachtsstimmung: Es ist die letzte Vorlesungswoche und recht rührselig werden wir von allen mit einer Rede in die Ferien und in die Heimat verabschiedet. Litauer mögen warme Worte und warme Gesten, besonders bei dem Wetter. Die Litauischlehrerin gab uns eine letzte anschauliche Unterweisung in einheimischer Küche und brach noch auf die letzten Meter meine bedingungslose Liebe zu litauischem Essen. Kūčiukai sind kleine Mohnkekse, die an Weihnachten genascht werden und können an dieser Stelle ruhigen Gewissens für den nächsten Langlaufurlaub in Litauen empfohlen werden. Daneben reicht man allerdings in Fett gebratene, mit Honig bestrichene Teigblätter, was großartig klingt, aber nichts weiter als ein babbiger Zuckerschock ist. Fast so süß war dann auch der Vorschlag der zweiten Professorin, den arglos vorbeischlendernden Italienischlehrer um ein Gruppenfoto von der ganzen Klasse und ihr selbst anzuhalten.
Wie man mit Litauern plaudert
Dos und Don'ts im Dialog - ein Leitfaden für das Baltikum.
Ein Smalltalk mit Litauern lässt sich grundsätzlich auf fünf Themen herunterbrechen:
Politik
Dass ich zu diesem Thema wenig beizutragen habe stört meine Gesprächspartner selten. Sie sind mitunter so politisch und haben so feste Meinungen über das Tagesgeschehen, dass ich mich selbst mit ausreichend Hintergrundwissen sowieso nicht auf eine Diskussion einlassen würde. Innerhalb dieses Themenkomplexes werden folgende Liebglingsgesprächsgegenstände besonders gerne abgehandelt:
die russische Außenpolitik. Natürlich. Hier stiehlt der Russe dem Christkind in der Disziplin Vordertürstehen die Show. Unbehaglich und zerknirscht sprechen die Einheimischen von der russischen Bedrohung wie von etwas ganz Konkretem. Keiner scheint groß daran zu zweifeln, dass er früher oder später zurückkommt und die verlorenen Gebiete wieder einfordert, der Russe. Wie man sich denken kann, hat die Krimkrise die Stimmung auch nicht gerade gehoben. Man ist sich sicher, der Russe schlägt wieder zu. Wenn es doch nur einer wäre… Dann hätten die 2,8 Millionen Einwohner womöglich eine Chance. Allerdings sollte er nicht zu lange auf sich warten lassen, denn angeblich emmigrieren jährlich ein Prozent davon ins Ausland. In hundert Jahren dürfte die Annexion Litauens also auch als Einmannprojekt zu bewältigen sein.
die deutsche Flüchtlingspolitik. Dieses Thema ruft von Seiten des litauischen Gesprächspartner entweder Mitgefühl oder Belustigung hervor, manchmal auch eine Mischung aus beidem: Der Ausdruck “die armen Irren” träfe es ganz gut.
die eigene Politik. Wie es Sitte hierzulande ist, zeigt man sich auch in diesem Punkt von seiner unzufriedensten Seite und nörgelt fröhlich und mit dieser ureigenen Note Selbstironie an der mehrheitlich frisch ins Parlament gewählten Bauernpartei herum. Bei all dem gepflegten Pessimismus können Litauer hervorragend über sich selbst scherzen, besonders über ihre geringe Population und die Tatsache, dass kaum jemand außerhalb des Baltikums weiß, was ein Litauen ist. Mittlerweile bin ich aber auch mit dem tief verwurzelten Patriotismus vertraut und weiß, dass es therapeutischer Humor ist, um zu verwinden, was sie doch eigentlich tief trifft. Um zu illustrieren, wie emotional die Bindung der Litauer zu ihrem, verzeihung, Ländchen ist und wie groß die Vaterlandsliebe, sei hier ein Beispiel aus der Linguistik herangezogen: Das Verb mylėti, lieben, kann nur im Zusammenhang mit Menschen, (allenfalls noch lange gehegten Haustieren) und einem gewissen Land auf der Erde gebraucht werden: Litauen natürlich. Wer sich als Litauer nicht bemüßigt fühlt, seinen ausländischen Gesprächspartner ausschweifend in Staatspolitik zu unterweisen, kann wahlweise auch eine skurrile Anekdote aus der Vergangenheit auskramen: Wie etwa die eines litauischen Diktators während der kurzen Unabhängigkeit zwischen den beiden Weltkriegen, der in die USA floh und dort bei dem Versuch starb, einen teuren Pelzmantel aus seinem brennenden Haus zu retten.
2. Geschichte
Während dankenswerterweise keiner meiner Gesprächspartner die deutsche Besatzung bisher für erwähnenswert gehalten hat (aus mir unerfindlichen Gründen), dominieren hier zwei Themen.
1. die russische Besatzung. Natürlich. Eine große Ungerechtigkeit und man ist weit entfernt von vergeben und vergessen.
2. jene Zeit, als Litauen das größte Reich Europas war und die teutonischen Orden niedergeschlagen hat, ich erwähnte es bereits. (Mindestens übrigens unter Mithilfe der Polen, die von so manchem Geschichtsstudenten allerdings nicht anerkannt wird.)
3. das Ausland
Trotz EU und international ausgerichteten Universitäten sind Ausländer wie ich in etwa so exotisch wie Mandarinen in der Sowjetzeit. Ich habe Litauer kennengelernt, die es nicht einmal über die Grenze nach Lettland geschafft haben, während andere, wie zu Hause, au-Pair-Jahre, Pauschalreisen in die Türkei, oder zumindest Chorausflüge nach Deutschland hinter sich haben. Erasmus in einem baltischen Bruderstaat wie Estland sind für manche Studenten wiederum das höchste der Gefühle. Und die Schulklasse, in der wir unsere Deutschstunde gehalten haben, war litauischer als Knoblauchbrot. All diese weißen Reimondas, Rutas und Vytautasse musterten uns wie ausgestopfte Paradiesvögel, dabei sehen wir doch im Grunde genauso aus wie sie und die Verkäufer sind regelmäßig enttäuscht, wenn ich mich durch mangelnde Sprachkenntnisse als Deutsche entpuppe. Kurzum, man ist sehr fasziniert und neugierig auf dieses Ausland, von dem alle sprechen und das so viele Familienmitglieder absorbiert. Abgesehen von dieser grundlegenden Neugier gibt es zwei Arten, mit dem Thema umzugehen:
die Sehnsucht. Ein starkes Fernweh und Sehnen zu reisen, und am besten mal im Ausland zu leben, die in diversen Uniclubs mit Fokus auf verschiedenen Ländern und Regionen (Frankreich, Italien, Skandinavien, Spanien) resultiert und in einer großen Motivation, Fremdsprachen zu lernen, in der Hoffnung, dass sie einen irgendwann einmal davontragen.
die Ablehnung: So interessant und schön das Ausland auch sein mag, andere möchten sich gar nicht vorstellen, ihre Heimat zu verlassen. “Das Schlimmste für mich wäre, meine Sprache mit niemandem sprechen zu können”, begründete eine Psychologiestudentin mit keinerlei Erasmusambitionen.
Diese scheinbar widersprüchlichen Ansichten zum Thema Ausland und Heimat spiegeln den Konflikt wider, den ich zurzeit für prototypisch litauisch halte: Eine Unzufriedenheit mit den Verhältnissen und der sehnliche Wunsch, sie zu überwinden auf der einen, und eine tiefe Verwurzelung mit dem Vaterland mitsamt seinen Traditionen und seiner Geschichte, den Stolz auf die geliebte Sprache und eine unendliche Treue zur Heimat auf der anderen Seite.
Das Thema Ausland beinhaltet außerdem:
3. Einen freundlichen ökonomischen Vergleich mit den baltischen Nachbarn. Ein jeder muss hier neidlos anerkennen, dass Streber Estland sich am allerbesten schlägt, aber was ist mit Lettland und Litauen? Diesen Wettstreit resümiert der generöse Litauer gerne mit den Worten, dass Lebensqualität und Wirtschaft in den beiden Ländern einander wohl in nichts nachstehen. Das Geschichtsbuch meiner Kommilitonin behauptet allerdings, dass Litauen innerhalb des Baltikums schon vor der Sowjetzeit am schwächsten entwickelt war.
4. Bier und Basketball
Ich berichtete. Jeder Smalltalk mündet früher oder später in einer Exkursion über Bier und/oder die jüngsten Basketballergebnisse.
Die Reise des kleinen Regentropfens
... der am Ende irgendwie immer auf meiner Kleidung landet. Ein kurzer Exkurs über die Kanalisation.
Es war einmal ein kleiner Regentropfen, einer von unzählbar vielen, der aufgrund von statistischer Wahrscheinlichkeit und einer Laune des Schicksals in Litauen auf die Erde fiel. Dort, auf den Straßen von Kaunas vereinte er sich mit all den anderen neugeborenen Regentropfen zu einem Rinnsal, das zu einem mächtigen Strom erwuchs. Denn die Regentropfen waren noch lange nicht am Ende ihrer Reise angelangt: In einer Stadt ohne Regenrinnen waren sie dazu verdammt, orientierungslos durch die Straßen und Gassen zu irren. Solange schlängelten sie sich über das Pflaster und fluteten die Gehsteige, bis der kleine Regentropfen und seine Freunde schließlich an einem Gulli anlangten, gleichsam die Pforte zu einer neuen Heimat, wo sie hofften, unter ihresgleichen frohgemut Wiedergeburt oder Nirvana entgegenzufließen. Doch oh weh! Der Weg war ihnen versperrt. Der grausame Gullideckel hatte keine Löcher und verwehrte den Regentropfen auf diese Weise den Eintritt in die Unterwelt, die glückliche Aussicht auf ein neues Zuhause. Fortan stauten sich der Regentropfen und seine Freunde in Pfützen und harrten als Regentropfenleidensgemeinschaften vergeblich der litauischen Sonne, auf dass sie sie eines schönen Tages wieder verdünsteten.
Die Pfützenproduktion unterdessen schritt fort. Die Bauarbeiter, die ihre Arbeit auch im Winter bei Eis und Schnee nicht ruhen lassen, asphaltierten eifrig die Straßen neu, ohne sich unnötig damit aufzuhalten, sie zuvor abzusperren, sodass die Autos immer neue Furchen auf dem noch dampfenden Asphalt hinterließen, triste Asylheime für all die kleinen Regentropfen. Und wenn sie nicht versickert sind, so schwappen sie dort noch heute.
Und mit dem ersten Hahnenschrei ist der Spuk vorbei!
Kurz vor Weihnachten schenke ich euch ein bisschen Geistlichkeit und Heidentum.
Wie funktioniert Kirche in dem Land, das der Christianisierung Europas am längsten standgehalten hat? In Litauen, wo Hähne als Lutscher, Kinderspielzeug und Dekoelemente aller Art ikonisiert werden, weil sie mit ihrem Schrei böse Geister verjagen, und wo die Ringelnatter in Märchen als heiliges Tier des Heidentums verehrt wird? Wo uralte Lieder Naturgeister besingen und Runen die Eingänge zur neu gebauten Unibibliothek zieren?
Besser spät als nie, habe ich es heute dann doch mal in die Kirche geschafft, an der ich seit August Tag für Tag vorübereile. Drinnen saßen mehrere alte Frauen und wohl auch der ein oder andere Mann, die gemeinsam mit einer Stimme aus dem Lautsprecher den Rosenkranz für Litauen beteten. (Da “Lietuva” das einzige Wort war, das ich aufschnappen konnte, muss sich meine Zusammenfassung der geistlichen Konversation hierauf beschränken) Über ihnen hingen stolz die litauischen Farben als Banner von der Kuppel. So viel also zur Trennung von Kirche und Staat.
Vor der Sowjetbesatzung sei man hier nicht sonderlich religiös gewesen, erklärte eine meiner Dozentinnen. Aber wie das mit Verbotenem so ist, erhielt der katholische Glaube unter den Russen einen ganz neuen Reiz und wurde so zu einem Element des litauischen Nationalismus. Man betete für die Unabhängigkeit und sang alte Lieder, um gegen die sowjetische Unterdrückung zu demonstrieren. Ob es jetzt Gott war, der dem litauischen Volk geholfen hat, oder die Ringelnatter, weiß Gott allein, oder die Ringelnatter.
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