was bleibt
Der Blick zurück zeigt Einiges. Ein Jahr in Momenten der Nähe und der Fremde.
Fremd sein.
Der erste Tag auf der Arbeit. Der erste Mittag in der Küche, alle reden laut und klappern mit Geschirr, ich halte mein Kindle wie ein Schild vor mich. Wenn ich lese, fragt mich vielleicht niemand, wie viel ich mit einem deutsch-englischen Sprachhintergrund schon von dem westflämischen Kauderwelsch des Niederländischen hier verstehe.
Fremd sein.
Ein Jahr später auf dem Hauptbahnhof in Frankfurt. Ich bin in Gedanken und bestelle meinen Kaffee versehentlich auf Niederländisch.
Soll jetzt irgendwo im vergangenen Jahr der Punkt gewesen sein, an dem sich meine Definition von Fremde umgekehrt hat?
Rückblende: Anfang Juni 2014, der Niederländischkurs 4.2 der Abendschule Oostende befindet sich auf der Zielgeraden zu den Prüfungen hin. Da hier alle ohnehin aus unterschiedlichen Ländern stammen, ist die einzige gemeinsame Sprache meist Niederländisch, und genau damit kämpfe ich während dieses Pausengesprächs. Die Europawahlen liegen hinter uns, wir diskutieren, versuchen, Sinn aus den Ergebnissen zu machen.
Es ist deutlich, dass wir – eine Ukrainerin, eine Polin, eine Wallonin und eine Deutsche – eine andere Sicht auf Europa haben als die meisten Wähler. Es scheint zwingend für uns, dass man, um den europäischen Gedanken zu verstehen, einmal etwas wie das hier durchgemacht haben muss. Wir fühlen uns verbunden durch die gemeinsame Erfahrung, fremd zu sein. Und sind dadurch gleichzeitig nicht mehr fremd.
Wenn ich mit meinen Kollegen über unsere Arbeit im Vogelauffangzentrum sprach, so geschah das zweisprachig, in einem seltsamen Mix aus Englisch und Niederländisch – der Jan-van-Gent bekam dann fish, und eine Taube hieß pigeon, es sei denn es handelte sich um eine Brieftaube, denn reisduif war ja viel kürzer und bündiger als game pigeon. Wir hatten unsere eigene Sprache, und es fiel uns nicht ein, diese infrage zu stellen, bis wir Ende Juni eine neue Freiwillige dazu bekamen, die sich zu der Hälfte der niederländischen Ausdrücke erst einmal ein englisches Äquivalent notieren musste.
Teil einer Auslandserfahrung ist es wohl immer, Mitglied einer Art Subkultur zu sein. Wir integrieren uns, soweit es geht – lernen die Sprache, Ausdrücke, Gesten und so weiter, und geben uns redlich Mühe – aber keiner von uns ist unbeschrieben, unsere Motherboards sind schon montiert, und wir müssen wieder ver-oder umlernen. Dass das nicht vollständig funktionieren kann, ist wohl klar.
So trug ich einen Teil meiner Kultur in alles hinein, was ich tat – deutsche Pünktlichkeit warf man mir besonders oft vor – lernte aber gleichzeitig, mich nahtlos in eine neue einzufügen. Auf den ersten Blick sollte die Schnittstelle nicht zu erkennen sein, das war das Ziel, damit das alltägliche Leben möglichst reibungslos verlaufen konnte. Manches kann man sich antrainieren, das dank u wel und alstublieft, und das bleibt hängen.
Im Privaten profitierten wir dann viel öfter von unserer unterschiedlichen Herkunft.
Rückblende: Mai 2014, erstes Halbfinale des Eurovision Song Contest. Wir sitzen im Wohnzimmer unseres Koordinators, haben Getränke und Knabbereien mitgebracht. Vertreten an diesem Abend: ein Belgier, eine Ungarin, eine Lettin, und ich, die Deutsche. Alle feuern den lettischen Sänger an, bis auf die Lettin, die lieber hätte, dass er nach Deutschland zurückgeht, wo er anscheinend eigentlich herkommt. Wir sind in bester Stimmung, es ist die Krönung unserer gemeinsamen Filmabende. Europa zeigt sich, wenn manchmal auch nicht von seiner besten, so zumindest doch von seiner kreativsten Seite.
Was wir uns dort schufen, war eine internationale Gemeinschaft der besten Art: Die meisten von uns teilten die Erfahrung, in etwas Neues, Fremdes hineingestoßen worden zu sein, aber wir alle teilten eine Leidenschaft, die uns hier in diesem Land zusammengebracht hatte. Unsere Arbeit, das Retten von Vögeln, war der Grundstein, aber nicht das Ende unserer Freundschaft.
Wenn ich jetzt in Deutschland alte Freunde wieder treffe, ist die Frage, die mir meist zuerst gestellt wird, die, ob ich jetzt nicht doch froh bin, wieder zuhause zu sein.
Ich kann diese Frage nicht pauschal mit einem Ja beantworten, aber auch nicht mit Nein - wenn ich Ja sage, fühlt es sich an, als würde ich meine Erfahrung in Belgien verleugnen oder ihr Unrecht tun, weil ich wirklich nicht sagen kann, dass ich froh darüber bin, meine Freunde und ein Leben, das ich mir dort aufgebaut hatte, zurücklassen zu müssen. Andererseits kann ich nicht Nein antworten, weil die Fragesteller das immer sofort als Angriff gegen sich selbst aufnehmen, und außerdem bin ich froh, wieder mit meiner Familie Zeit zu verbringen, eine Sprache sprechen zu können, mit der ich die ältesten Erinnerungen meiner Kindheit verbinde, und generell so viele Dinge zu tun, die ich im letzten Jahr nicht tun konnte.
Welche Erfahrung also habe ich mit Fremde gemacht, wenn ich schon über mein Gefühl von Heimat keine klare Auskunft mehr geben kann? Wohl dass wir sie uns zu einem gewissen Grad selbst schaffen - genauso wie wir uns eine Heimat bauen, wo wir hinkommen, können wir uns auch zu Fremden machen - aber auch, dass wir nicht immer kontrollieren können, was wir nicht loslassen wollen. Es ist keine Schande, an einem Ort und den Erinnerungen zu hängen.
Und eigentlich können wir, wo wir hinkommen, mit unseren Erinnerungen, Geschichten und Gebräuchen uns gegenseitig nur bereichern.
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