Wake me up when September ends (1/2)
Ein Exkurs im Diskurs – wie man ein Wochenende auch sehen kann.
„Das waren noch Zeiten!“, würde ich sagen, wenn ich ein wenig älter wäre. Man stürzte sich vom einen ins nächste Abenteuer. Könnte man den Freiwilligendienst eindampfen, so wäre der September das Eau de Parfum unter den Monaten, eine Allegorie für den Gesamtzeitraum des Europäischen Freiwilligendienstes. Ein Tag bot er uns noch, dann würde er für immer vergangen sein, unzugänglich, nur mit einer Zeitmaschine je wieder erreichbar. Konserviert hat er eine prägende Zeit, in der so vieles anders war. Verstehen Sie diesen Text als Code einer großartigen Episode des Freiwilligendienstes, die diesem Monat, konfus, verworren, aber eben doch: ein Ende setzt.
Wir hatten das Monatsende erreicht. Das heißt, das Internet war langsam und das Geld knapp. Unser spanischer Kollege aß seit Tagen nur noch Nudeln, meine Mitbewohnerin ließ sich täglich zum Essen einladen und auch bei den anderen sah es kaum besser aus. Die letzten Tabakvorräte mussten dran glauben. Vom Nikotin kam man nämlich offenbar selbst in tiefster finanzieller Not nicht weg. Und das, wo doch mehrere Freiwillige unabhängig voneinander vor ihrem Freiwilligendienst entschieden haben, bei der Ankunft in Tschechien sofort mit dem Rauchen aufzuhören. In einem Land wie Tschechien, wo man beim Zigarettenkauf bis zu 40 % gegenüber den deutschen Preisen sparen kann, ist natürlich klar, dass so ein Plan nicht funktionieren kann.
Die Frage blieb: ein freies Wochenende, was tun? Ein paar meiner Mitfreiwilligen hatten bei ihrem Ankunftsseminar eine Frau kennengelernt, die aus einer interessanten Region kam und einen sympathischen Eindruck machte. Bei einem solchen Seminar treffen sich Freiwillige aus ganz Tschechien. Der gute Eindruck beruhte scheinbar auf Gegenseitigkeit, denn sie lud die Freiwilligen zu sich nach Brünn ein. Wir waren mehr als pünktlich mit der Wahrnehmung dieser Einladung, da bedacht, möglichst wenig aufzuschieben, heute schon zu machen, was wir auch auf morgen hätten verschieben können.
In der Gegend die Stadt Brünn gibt es eine beeindruckende Landschaft, schöne Berge und – der Hauptgrund, warum wir hin möchten – Höhlen. Offenbar eine recht bekannte Region. Auf der Netzseite findet man Anfahrtswege, beschrieben aus allen größeren umliegenden Metropolen. Wir sind in Náchod näher an Polen als an einer dieser Metro-Polen. Doch auch für uns lässt sich eine passende Verbindung finden. Mit dem Zug dauert die Anreise in etwa vier Stunden. Das ist in Ordnung für uns. Eine lange Etappe, aber sowohl finanziell als auch zeittechnisch eine zu lösende Angelegenheit.
Der deutsche Anteil beim Freiwilligendienst ist nicht gerade klein. So fand sich eine Gruppe aus drei Deutschen und einer Litauerin ein, um unsere Freundin im Süden Tschechiens zu besuchen. Wir fuhren mit dem Zug und profitierten so vom niedrigen Gruppenpreis, der sich wirklich „günstig“ nennen darf. Anders als beim Baden-Württemberg-Ticket. Hier herrscht bei der Bahn übrigens eine paradoxe Kontradiktion, wurde sie doch in den Jahren 1999 und 2007 für Wörter wie „Service Point“, „ticket counter“ oder „db-lounge“ mit dem Sprachpanscher-des-Jahres-Preis geehrt, ein Negativpreis, der seit 1997 jährlich vom Verein Deutsche Sprache e. V. verliehen wird, bloß, um im Jahre 2013 den Sprachwahrer-des-Jahres-Preis verliehen zu bekommen, der jedes Jahr von der Leserschaft der Zeitschrift „Deutsche Sprachwelt“ vergeben wird, in diesem Fall mit der Rechtfertigung, dass die Deutsche Bahn einen Glossar erarbeitet habe, wie Anglizismen ersetzt werden könnten. Man ist scheinbar tatsächlich lernfähig bei der Bahn. Preiswert war es nie und bei weitem nicht so lustig wie eine 206-km/h-Fahrt zu fünft im Audi eines Freundes. Unsere fünfte Person wird von Rychnov aus starten und separat anreisen, um uns dann in Brünn zu treffen und gemeinsam zum Haus der Freiwilligen zu fahren. Die Preise sind mal wieder phänomenal: 320 Kronen für die Hin- und Rückfahrt. Vier Stunden dauert die einfache Fahrt. Weniger als 12 Euro für ein insgesamt achtstündiges Bahnvergnügen. Ehrlich gesagt sind es sogar noch nicht einmal 320 Kronen. Lediglich 316,25 Kč pro Person. Eines der Mädchen hatte bezahlt und sagte, 316 Kronen seien in Ordnung. Das kommt schon mal gar nicht infrage. Sie bekommt die 320 Kronen. Vier Kronen machen mich nicht arm und sie nicht reich, aber vielleicht ein bisschen glücklicher.
Ich bin kein Freund des Spontanen. Im Regelfall plane ich Monate im Voraus. In Deutschland ist solch eine Vorlaufzeit noch völlig realistisch. Man denke nur an die perfekte Durchorganisierung des Abiturs durch meinen Oberstufenberater Herr Gärtner. Das war aus planerischer Sicht einsame Spitze. Beim Europäischen Freiwilligendienst muss man hier selbstverständlich Abstriche machen. Während dieser auf der einen Seite ein riesiges Bürokratiemonster ist, ist er auf der anderen Seite wie ein unkalkulierbarer Vulkan, bei welchem man sich nie sicher sein kann, wann er ausbricht und irgendwelchen neuen Unsinn ausspuckt. Aus früher monatelangem Vorlauf werden hier wenige Tage, so auch heute. Wir vier haben uns am Bahnhof eingefunden mit dem festen Vorhaben, zusammen etwas zu unternehmen. Gleich zu Beginn eine derart große Tour ist außergewöhnlich, doch schrecken wir keinesfalls davor zurück. Der Rucksack wurde vor ein paar Minuten erst gepackt. Kleidung, Kulturbeutel, eine Tasche mit Essen, und ganz wichtig: viel Bargeld. Das kann nie schaden und im Zweifelsfall kann man sich alles daheim Vergessene noch vor Ort kaufen. Es war ohnehin nur als Zweitagestour vorgesehen. Freitag: Anreise. Samstag: Erkundung und Rückreise. Kurz getaktet, aber anders geht es nur schwer. Zwei Tage hat das Wochenende, dann beginnt schon wieder die Arbeit. Ich bin mittlerweile dazu übergegangen, meine Tätigkeit von nun an auch als das zu beschreiben, was sie für mich, aber auch aus Sicht der Lehrer ist: „Arbeit“.
Pünktlich fährt der Zug ein. Wir gehen hinein und sichern uns ein Viererabteil. Lediglich eine Stunde würde die Fahrt dauern. Zweimal müssen wir insgesamt umsteigen. Das ist in Ordnung für so eine lange Strecke. Langweilig war die Zugfahrt nicht. Als Freiwilliger hat man stets etwas zu erzählen. Anekdoten aus der Zeit in Náchod, aber auch aus der Vergangenheit im jeweiligen Heimatland. Letzteres ist oft interessant, da die Deutschen eigentlich die einzigen sind, die direkt nach dem Abitur ein Jahr lang einen Europäischen Freiwilligendienst machen. Die überwiegende Mehrheit sind Studenten oder im Leben gestrandete Persönlichkeiten. Deren Werdegang ist oftmals ein Zickzackkurs, bei welchem die wahre Gesinnung, das wahre Ziel, nicht wirklich klar ist. In fünf, sieben, gar zwölf Jahren, was der maximale Altersunterschied bei unserer Gruppe ist, kann viel passieren. Als Abiturient hat man noch viel vor sich, hat sich wie in meinem Fall ein Jahr Pause gegönnt, doch stets merkt man auch wieder, wenn man den Erzählungen der erfahreneren Freiwilligen lauscht, was einen danach erwarten wird. Man weiß dennoch, dass bis dahin noch viel Wasser den Rhein hinunter fließen wird. Sie ist existent, die unsichere, zumindest jedoch ungewisse Zukunft. Man kennt es, die alte Leier, das alte Leid. Schon das Abitur wird jahrelang aufgebauscht und am Ende war es auch nur eine Prüfung. Die anscheinend leicht genug ist, um an meiner Schule eine Erfolgsquote von 100 % zu haben. Das ist jedoch ein ganz anderes Thema. Und geht nur allzu schnell unter, wenn man das deutsche Abitur mit den Bildungsständen mancher anderer Nationen vergleicht.
Den zweiten Teil der Zugfahrt verbrachten wir in einem hochmodernen Zug. Noch kein ICE-Niveau, aber man bedenke, dass wir auch nur einen jeweils einstelligen Euro-Betrag für die einfache Fahrt bezahlten. „Einfach“ ist nur die Mengenangabe, denn die Zugfahrt war es eindeutig nicht. Während man sich in der Bahn ja eher an Betonwände zu lehnen scheint, wenn man die seitlich angebrachten Kopfstützen benutzt, war man hier wie auf einem Sessel gebettet. Zum Schlafen war die Zeit unpassend. Allerdings ließe es sich gut entspannen, wäre da nicht das Deutschdefizit, das man tagtäglich anhäufte. Man unterhielt sich, wechselte auf Englisch, sobald die Litauerin lauscht. Dass einen die Tschechen fragend anschauten, musste man
Schon recht früh endete die Fahrt, die letzte Etappe mit dem Zug stand an. Mein Magen knurrte bereits, doch kein Essen in Sicht. Etwa zehn Minuten warteten wir am Bahnsteig, dann fuhr der nächste Zug ein. Unser Zug. Er wartete brav und ließ uns hinein. Wir waren fast allein. Als Deutscher völlig ungewohnt. Jeder Provinzbahnhof hat seine paar Hansel, die bedächtig wartend auf dem Bahnsteig stehen. In Tschechien ist das anders und paradox zugleich. Sie haben das bei weitem überlegene Bahnsystem: einfacher, zuverlässiger, günstiger. Nur kaum Gäste. Na ja, solange der Betrieb noch wirtschaftlich bleibt, freuen sich alle Beteiligten. Vorrangig natürlich wir jungen Leute. Bei den Eintrittspreisen wird unser offizieller Status fraglich. Wir besitzen jedoch die Europäische Jugendkarte, sodass wir vergünstigten Eintritt erhalten, sind also Jugendliche!?
Mit dem dritten Zug ging es nun voll bis zur Endstation Brünn. Auf Tschechisch: Brno. Das ist gar nicht so schwer, wie man denkt. Einfach alle Buchstaben getrennt hintereinander aussprechen. Ein deutscher Kardinalfehler, zu versuchen, aus den autonomen Lauten eine dem Deutschen ähnliche Komposition entstehen zu lassen. Also: kein Brenno, kein Berno, sondern einfach: Brno. Ein bisschen, wie „Birno“ zu sagen, nur ohne ein dominantes „i“. Nicht zu verwechseln mit „Borno“, einem Bundesstaat in Nigeria. Dieser hat kürzlich Schlagzeilen gemacht, da er Schauplatz eines versehentlichen Luftangriffs auf ein Flüchtlingslager wurde. Das „R“ zu rollen, ist eine Herausforderung, und sobald man es versucht, ist das Wort schon wieder zu Ende. Nicht so wichtig, wir waren schließlich angekommen. Und das weder in Brenno, Polen, noch in Bern, Schweiz. Sondern in Brno, Česká republika.
In Brno angekommen, gingen wir zur Bushaltestelle, die angeblich schwer zu finden sei. Zwei Minuten und wir waren da. Der Fahrplan sagte uns, dass wir zwanzig Minuten Aufenthalt hätten. Wie gut, dass direkt neben dem kleinen Busbahnhof ein großes Kaufland war. Statt mit Waffen invadieren die Deutschen heute mit Waren. Der Einkauf kam gelegen, denn ich brauchte noch ein paar Dinge zum Essen. Müsli hatte ich, allerdings keine Milch. Ein 1,5-%-Exemplar landet, nicht im Einkaufswagen, aber gebettet auf Müsliriegel und bedeckt mit ungesunden Backwaren in meinen Armen. Etwas dämlich kam ich mir mit der Penny-Tasche im Kaufland ja schon vor. Die haben eben diese praktischen Tragegriffe. Eigentlich müsste ich typischerweise mit Jutebeutel und wiederverwendbaren Gläsern erscheinen, um das Klischee zu bedienen, dabei meinen Vollbart kratzend, die anderen Einkaufenden kritisch beäugend, wie sie die umweltschädlichen Plastiktüten aus dem Gitterfach unter dem Kassenband ziehen.
Recht erstaunt war ich, als die Kasse die Zahl 63 zeigt. Nicht nur, weil das für Kenner des Automobils der ultimative Garant für Fahrspaß ist, sondern auch aufgrund des enorm niedrigen Betrages. Tschechien macht es einem nicht gerade leicht, die ganzen Kronen loszuwerden. Wieder an der Bushaltestelle angelangt, verspeisten wir einen Teil des Einkaufs und warteten auf den Bus. Bald schon rollte er heran. Ein alter Busfahrer mit grauem Bart öffnete die Tür. Besser gesagt: ließ sie öffnen von den magischen Druckluftleitungen dieses Ivecos. Da ist man auf die heimischen, jedoch schon in die Jahre gekommenen MANs stolz, um dann in Tschechien von überlegenen und brandneuen Fabrikaten erwartet zu warten. Tschechien enttäuscht nicht.
Wir stellten uns in die rechte Reihe und anfangs wollten alle seperat bezahlen. Das macht dem Busfahrer doch nur unnötig viel Arbeit, also teile ich ihm die magische Zahl vier mit. Diese Zahl auf Tschechisch ist so etwas wie ein uns Freiwillige nie verlassender Fluch: „čtyři“, gesprochen in etwa so: „tschtirschi“. Die meisten können die Zahl einfach nicht aussprechen. Bei mir kommt es darauf an, ob ich zu viel nachdenke. Dann wird es nämlich nichts. In diesem Fall war es spontan, daher klappte es wunderbar. Er rechnete den vierfachen Betrag ab, ließ die Fahrkarten drucken und alle waren glücklich. Wir zahlten unseren Anteil und setzen uns. Immer mehr Leute stiegen ein. Immerhin hatten wir einen Sitzplatz. Dann ging die Fahrt auch schon los. Erst noch ein bisschen Brünn, Autohäuser, Sportgeschäfte, Wohntürme, dann ging es endlich auf die Landstraße. Es war schon Abend, kaum Autos unterwegs. Der Busfahrer fuhr Ideallinie. Wir saßen ganz vorne. Die Kurve von außen anfahren, hineinschauen, dann scharf einlenken, um die Kurvengeschwindigkeit zu halten. So eine hohe Querbeschleunigung hat man selbst im Auto nur höchst selten. Ohne sich festzuhalten würde man umkippen. Fehlte nur noch die passende Melodie beim Herunterschalten, dann wäre das Rennsport-Gefühl perfekt. Aus der Kurve wird dann natürlich maximal herausbeschleunigt. Das hat man nur ganz selten, ein Bus-Motor, der länger als üblich im niedrigen Gang verweilt, um mithilfe der niedrigeren Übersetzung möglichst schnell von der Stelle zu kommen. Eine halbe Stunde Fahrt lang sollen wir das aushalten? Wir vertreiben uns die Zeit mit Gesprächen über Gott und die Welt. Mehr über die Welt. Auch wenn wir Gott in diesem Fall gar nicht so fern sind. Diese Fahrweise ist lebensgefährlich. Den Fahrer störte es anscheinend nicht, stattdessen gefiel ihm scheinbar nicht, dass wir Deutsch beziehungsweise Englisch miteinander sprachen. Dauernd drehte er sich um. Man senkte die Lautstärke und schon hörten auch seine kritischen Blicke zu uns auf.
Auf dem Bildschirm, der in dem hochmodernen Iveco-Bus angebracht ist, konnten wir sehen, wann unsere Station endlich kommen wird. Das erleichterte die Sache für uns enorm. Man könnte wieder mit Händen und Füßen versuchen, es mit dem Busfahrer abzuklären, doch ist es auf diese Art und Weise dann am Ende doch ein bisschen angenehmer. An den Bushaltestellen, auf Englisch übrigens nicht „station“, sondern „stop“, warteten keine Menschen mehr, daher fuhr er an allen vorbei. Aussteigen wollten hier in der Pampa sowieso nur wir. „Pampa“ klingt leider so abwertend, Einöde ebenfalls. Brünn ist gleich nebenan, aber es ist nun mal mitten im Wald. Es erscheint der langersehnte Name der Haltestelle, wir drücken und steigen aus. „Děkuju, na shledanou!“ Die Türen schließen und wir standen an einer menschenleeren Haltestelle mitten im Nichts. Ein einziger Weg führte in den Wald hinein. Es sei der einzige Weg, daher wird es schon der richtige sein, beschwichtigte eines der Mädchen. Es war ein asphaltierter Weg, ganz in der unzivilisierten Welt waren wir also noch nicht angekommen. Jedoch gab es auch keine Straßenbeleuchtung. In diesem Fall zu unserem Vorteil, denn was gleich auffiel, ist der klare Sternenhimmel über uns. So etwas sieht man im Alltag heutzutage nur noch selten. Und ich rede nicht von Cassiopeia und dem großen Wagen. Das ganze Firmament war voller Sterne jeder Helligkeit und Größe.
Zwei in der Astronomie harmonierende Eigenschaften. Wieder gilt mein Dank dem großartigsten Naturwissenschaft-und-Technik-Lehrer meiner Schullaufbahn: Herr Hofmann Hoffmann eine Inbrunst für die Astronomie wollte sich zwar nie wirklich auf uns Schüler übertragen, doch ein paar Fragmente haben sich im Gehirn für immer eingebrannt. So erinnert man sich auch heute noch an die ganzen Sternhaufen und natürlich die Milchstraße. Sternzeichen haben wir nie behandelt. Das ist astrologischer Humbug und hat mit der Astronomie rein gar nichts zu tun. Stattdessen hatte man einen wunderbaren Blick auf den Sternenhimmel. Im Winter wäre er noch besser gewesen. In eisigen Nächten hat man die schönste Sicht. Eisig kalt war es im Wald nicht. Jedoch genossen wir einen ganz anderen Zustand: den reiner Klarheit fernab von Lichtverschmutzung. Begeistert nahm ich diesen Umstand zur Kenntnis, während es die anderen nicht sonderlich zu interessieren schien. Auch meine Anspielung auf Nordkorea verstand keiner. Es gibt eine Art Weltkarte der Lichtverschmutzung, auf welcher Nordkorea fast als einziges Land bis auf die Hauptstadt Pjöngjang ein schwarzer Fleck ist. Ob das an der hohen Observatoriendichte liegt?
Ich jedenfalls genoss die vollkommene Dunkelheit, bis die Mädchen auf die Idee kamen, ihre Mobiltelefone dazu zu benutzen, uns den Weg zu leuchten. Fortan strahlt ein kaltweißer Schein auf den schwarzen Asphalt und macht es unmöglich, weiter wie ein Hans Guck-in-die-Luft das Sternenzelt zu betrachten. Immer tiefer ging es in den Wald hinein. Fünf Minuten lang sei der Fußmarsch, wurde uns gesagt. Wir waren bis zu diesem Zeitpunkt schon zehn Minuten unterwegs. Ob das an unserer eigenen Gehgeschwindigkeit lag? Böse Zungen könnten das durchaus behaupten.
Als wir schon nicht mehr dachten, dass da noch etwas kommen wird, erschien in der Ferne ein kleines Licht. Wie früher bei den Seefahrern, die von den Festlandbewohnern bewusst hinters Licht geführt wurden, um an die Ladung der Handelsschiffe zu kommen. In diesem Fall war es aber kein Ochse mit einer Laterne, sondern ein Wohnhaus. War es das schon? Wir gingen weiter die Straße entlang. Auf der rechten Seite befand sich eine Mauer, die irgendwann endete, da dort eine Einfahrt ist. Die Mauer war aufwendig gebaut, gedeckt mit Dachziegeln für den Regen. Die Einfahrt war ebenfalls nicht von schlechten Eltern. Wir gingen hinein und gerieten auf einen offen gestalteten Innenhof. Es fanden sich Pflanzen, Blumen, Pflastersteine. Ein großes Gebäude ist direkt daran angeschlossen. Edle Glastüren, Ambientebeleuchtung, kann das wirklich das Pfadfinderhaus sein? Die Anlage erinnerte mich eher an das Schlosshotel Bad Wilhelmshöhe nahe Kassel. Eine gute Adresse, sollten Sie vorhaben, auf die documenta zu gehen.
Als wir gerade klingeln wollten, empfingen uns Mica, die momentane Volontärin, sowie Vali, Ex-Freiwilliger und nun offiziell Angestellter der lokalen Arbeitsstätte. Sie kamen gerade aus dem Holzschuppen mit zwei Flaschen Bier in der Hand. Hach, das Leben als Freiwilliger. Immer wieder eine belustigend anzusehende Gemeinsamkeit der Mehrheit aller Freiwilligen weltweit. Man begrüßte sich und tauschte erste Informationen aus. Vali war Rumäne, war aber leider nicht mit deren erfolgreichen Turnern vertraut. Er habe nicht wirklich etwas mit Sport zu tun, ließ er mich wissen. Außer dem Turnen in Rumänien weiß ich erstaunlich wenig über dieses Land, wodurch die Konversation sich mehr auf uns Freiwillige in Náchod beschränkte. Die Deutschquote erstaune ihn immer wieder, sagte er. Quantitativ ist es jedoch nicht wirklich auffällig. Estland hat 1,3 Millionen Einwohner, Deutschland 82 Millionen. Für jeden Esten (oder jede Estin) beim Europäischen Freiwilligendienst müssten also 62 Deutsche nachrücken. Diese Zahl haben wir noch nicht annähernd erreicht.
Ich bin selbst kein großer Freund des Umstandes, dass wir trotzdem so viele Deutschen waren. Es ist wie die typische Situation im Urlaub. Man fährt ans Ende der Welt. Nach China, Nordamerika, Südamerika und trifft irgendwann auf Deutsche. Es nimmt einem ein wenig die Illusion von Urlaub, Exotik und Ferne. Wie weit man auch fährt, der Deutsche ist schon da. Eine touristische Expansion, die eben auch Programme wie den Freiwilligendienst betreffen. Nun wollte ich eigentlich möglichst weit weg von der Heimat. Island, Norwegen, Finnland und sogar ins russische Kamtschatka wäre ich gegangen, hätte ich eine Zusage erhalten. Jetzt war ich hier, beim direkten Nachbar Tschechien in einer zum Glück relativ fremd erscheinenden Gesellschaft, die wenigstens ein bisschen über die nur 600 Kilometer hinwegtäuschte, die es bis nach Hause waren.
Ein kleiner Fußmarsch von zwei Minuten führte uns schließlich zum Haus der Freiwilligen. Ein eigenes Haus, das ist neu für uns Freiwillige. Endlich wieder ein Haus! In einer Wohnung sind es einmal die kleinen Dinge, die es ausmachen. Man muss sich mit der Lautstärke beim Musikhören zurückhalten, hat plötzlich keinen Keller mehr, indem man den Kuchen über Nacht stehen lassen könnte, hat alte Nachbarn, die sich darüber beschweren, wenn man Stühle hin- und herschiebt, keinen Dachboden zum Abstellen der leeren Reisetasche, kein Wohn-, Ess- und Gästezimmer mehr, dafür aber Mieter über einem, die samstags um sieben beschließen, die Wohnung zu saugen.
Die Tür wurde uns geöffnet und wir gingen hinein. Das erste, was auffiel, war der Nadelholzduft im Innern des Hauses. Doch könnte der Schein trügen. In tschechischen und polnischen Supermärkten habe ich schon mehrfach Kosmetik- und Hygieneprodukte mit Fichtenholzaroma gesichtet. Könnte also auch ein synthetischer Trick sein. Der Blick an die Decke relativiert jedoch alle vorhergegangenen Zweifel. Eine schön gemachte Holzdecke! Der erste Eindruck war überragend. Eine Garderobe, ebenfalls aus Holz, mit wunderschönen Schnitzereien, dann wanderte der Blick weiter über die makellosen Wände, alles Neuland für die Náchoder, Wohnungstüren, die schließen und ohne diesen nervtötenden Glaseinsatz auskommen, eine hochmoderne Küche, selbstverständlich ein Obergeschoss, doch im Erdgeschoss noch ein Esszimmer mit Sitzecke, ein Filmprojektor und ein Bücherregal. Das klingt alles so gewöhnlich, doch eines kann ich Ihnen sagen: für eine Freiwilligenunterkunft könnte das ungewöhnlicher kaum sein. Gar nicht sattsehen konnte ich mich an dieser überwältigenden Behausung. Wie im Schlaraffenland. Vali erzählte uns, dass das Haus vor zwei Jahren von Freiwilligen gebaut worden war. Es bestünde aus einer Holzkonstruktion und Stroh als Dämmmaterial. Daher auch der Name des Hauses und dessen Drahtlosnetzwerks: „Strawhouse“. „Strohhaus“ zu deutsch. An einer Wand wurde beim Verputzen und Streichen eine kleine Stelle ausgespart, an der man nun die Bausubstanz sehen kann. Interessant und ein schönes gestalterisches Element zugleich.
Nachdem wir die Schuhe und die Jacken ausgezogen hatten, stellte sich uns eine weitere Freiwillige vor. Leonora aus Litauen. Ihr Rufname lautete „Leo“, was als Deutscher seltsam männlich klingt. Mica zeigte uns nun das Schlafzimmer. Ein relativ kleines Zimmer mit zwei Stockbetten, folglich vier Schlafplätzen. Mit der Freiwilligen aus Rychnov sind wir eine Person zu viel. Wir hätten eine zusätzliche Matratze ins Zimmer legen müssen. Außerdem wäre ich der einzige männliche Gast in diesem Raum. Die Frauen hätten kein Problem damit, sagten sie. Als Mica darauf verwies, dass es noch ein weiteres freies Zimmer gäbe, wurde ich gleich hellhörig. Mehrmals bietet mir Mica das Schlafzimmer an. Das lasse ich mir nicht zweimal sagen. Ich nehme Micas Angebot gerne an und okkupiere das Schlafzimmer einer Freiwilligen aus Rumänien, die gerade verreist war. Für mich als Freund des Einzelzimmers natürlich ein Segen sondergleichen. Wieder war es ein Doppelzimmer, sodass ich das Gästebett nutzen konnte, welches zu allem Überdruss auch noch bezogen war. Es war traumhaft, vom Raum will ich gar nicht erst anfangen. Das Werk einer Perfektionistin. Auf dem Schreibtisch lag alles in perfekter Ordnung und parallel, beziehungsweise orthogonal zur Tischkante. Die Bettdecke war sauber hingezupft, selbst die Bücher auf dem Fensterbrett waren der Größe nach von unten nach oben sortiert. Besser kann man einen Raum vor einer Reise nicht verlassen.
Statt sich nach der zeitraubenden Anreise hinzulegen, ging ich gleich in die Küche, um mir meine mitgebrachte Fertigpizza in den Ofen zu schieben. Diese war ursprünglich tiefgefroren und konnte während der Fahrt wunderbar auftauen, was man bei Fertigpizzen immer machen sollte. Ich belegte die Pizza zusätzlich noch mit Mozzarella aus Polen, da die diesen praktischerweise in Scheiben- und geriebener Form anboten, sowie Basilikum, Oregano und Rosmarin. Hier ist es von Vorteil, dass die Tschechen manche Begriffe einfach stur aus anderen Sprachen übernehmen. Sie hängen ihr „-ka“ am Ende dran und fertig. So finde ich gleich die richtigen Kräuter und würze die Pizza nicht aus Versehen mit Zimt, Muskat oder Petersilie. Dann ab damit in das moderne Ofenrohr. Nach zehn Minuten erwartete mich eine lecker aussehende Pizza, bei der der Käse ideal verlaufen ist, sowie der Boden knusprig, sowie das Innere luftig-weich ist. Vali schaute die ganze Zeit neidisch drein. Ich bot ihm ein Stück an. Er lehnt ab. Gut, dann soll es so sein.
Ich beginne damit, die Sechstelstücke mit Messer und Gabel kleinzuschneiden und zu essen. Das ist zwar eher eine gehobene Art der Verkostung, jedoch angesichts der noch hohen Kerntemperatur eine vernünftige Lösung. Vali amüsiert sich köstlich über meine “edle“ Art der Nahrungsaufnahme und erzählte, dass er letztes Jahr einen französischen Freiwilligen getroffen hätte, der sowohl Pizzen als auch Hamburger stets mit Besteck gegessen habe. Es gibt anscheinend auch noch Freiwillige mit Manieren. Nachdem die halbe Pizza in meinem Schlund verschwund – verzeihen Sie mir die falsche Verb-Endung, das würde sich sonst nicht reimen – fragte ich Vali abermals, ob er denn wirklich nichts abhaben wolle. Er konnte nicht widerstehen und gab nach. Ein Rumäne genießt die aus Tschechien stammende, aber ursprünglich italienische und mit polnischem Käse belegte Pizza, die von einem Deutschen zubereitet wurde. Fünf Nationen auf einer Pizza! Das ist Kosmopolitismus in seiner leckersten Form.
Leider hat die Pizza nicht wirklich ausgereicht. Da von der Hochkulinarie der Mädchen noch etwas übrig geblieben ist, boten sie mir zähneknirschend den Rest an. Schließlich hatte ich keine Krone beigesteuert. Da der Hunger groß und die verbleibende Menge Essen klein ist, stimme ich zu und schöpfe mir Nudeln und Gemüse. Rohe Karotten, Zucchini (schreibt man das so?) und Tomaten. Der Zweck heiligt die Mittel und satt machte es.
Direkt ans Essen angeschlossen war eine Spielerunde. Dass ich kein großer Freund jeglicher Glücks-, Gesellschafts- und Kartenspiele bin, dürfte meinen Freunden und Verwandten bekannt sein. Hier war es das noch nicht, weshalb ich wohl oder übel teilnehmen musste. Wir beginnen mit dem Spiel „Duch!“, woraufhin die Litauer in schallendes Gelächter ausbrachen. In ihrer Sprache steht dieses Wort für eine nicht besonders intelligente Person. Für mich hat „Geist“ viele Bedeutungen. Eine Nobelkarosse aus dem Hause Rolls-Royce, mein schwarzes Fahrrad, Marke „Ghost“, englisch klingend, allerdings aus deutscher Produktion. Doch auch der silbergraue Schattenwolf namens Geist. Ein treuer Kumpane, dessen Herrchen erst lebendig, dann tot war, um nach einer mysteriösen Verwandlung wieder aufzuerstehen wie ein populärkultureller Messias.
Um Geister geht es in diesem Spiel jedoch nur zweitrangig. Die Regeln waren schnell erklärt. Es gibt einen Spielführer, der die Karten wendet. Auf dem Tisch lagen mehrere Gegenstände, die als solche eindeutig zu erkennen waren, sowie eine farbliche Kennung aufwiesen. Es war schon spät, sodass ich weniger dem Spiel folgte als mich vielmehr mit der erstaunlichen Universalität der Zuordenbarkeit jeglicher Gegenstände unabhängig der Herkunft, Sprache oder Kultur des erkennenden Menschen beschäftigte. Ein wenig fühlte ich mich an Jean-Paul Sartre und seine „Absurdität der Welt“ erinnert. Ein Buch, nein, drei Schichten Holz. Zwei blaue Stücke verbergen ein weißes. Dabei ist der dadurch symbolisierte Text nicht einsehbar. Zudem schließt der weiße Teil nicht schlüssig mit dem Einband ab, sondern weist einen großen Abstand auf. Eine Andeutung in Richtung Buchkritik? Dass das Innere des Buches, der Text, nie den Ansprüchen, die der aufwendige Einband hervorruft, gerecht werden kann? Man kann es nicht aufklappen, dieses “Buch“. Es erfüllt nur noch einen darstellenden Zweck.
Den Spielenden zeigt es unverkennbar, was es ist, ohne dabei tatsächlich der dargestellte Gegenstand zu sein. Doch wenn man es in die Hand nimmt, es näher betrachtet, so fällt auf, dass es seinen Sinn immer mehr verliert, aufgeht in seiner eigenen Entfremdung. Je weniger man geistesverloren darüber schwenkt, sondern sich mit dem Objekt befasst, desto klarer wird, wie unklar dieser Gegenstand doch in Wahrheit ist. Frei von Details, nur mit angedeuteten Formen, die als charakteristisch gelten. Ein Scheinbuch, dessen Schein trügt, eine Illusion, die vorgaukelt, etwas zu sein, was sie nicht ist und nie sein wird. Aus dem Schichtholz wird nicht plötzlich ein Roman, nur weil es ebenfalls aus Zellulosefasern besteht und in etwa die gleiche Kunstfertigkeit zum Erstellen erfordert. Ein paar Menschen, die, über einen in Form gebrachten Holzstamm gebeugt, bedruckte Papierkarten betrachten, bemalte Holzschnitzereien auf ihnen platzieren, in diesem Mechanismus einen Sinn auszumachen vermögen, ihn gar als Spiel betrachten.
Auf den Karten, die der Spielführer umdrehte, waren die Gegenstände von vorher abgebildet, jedoch mit unterschiedlichen Farben. Nur, wenn ein Gegenstand farblich mit dem auf der Karte übereinstimmte, durfte man nach der passenden Figur greifen. Wenn keine Übereinstimmung erkennbar war, musste man nach einem Gegenstand suchen, dessen Form und Farbe noch nicht auf der Karte abgebildet waren. Auf jeder Karte waren unterschiedliche Kombinationen, sodass jedes Mal ein anderer Gegenstand passte.
Bei diesem Spiel ging es um schnelle Reaktionen. Man könnte sich sogar vorsichtig in die Gefilde der Intuition vorwagen. Harald Lesch warnt jedoch zurecht vor einem zu großen Stellenwert dieser Art der Entscheidung. Wenn ich den Begriff „Intuition“ googele, warum erscheint dann als zweiter Beispielsatz: „Sie folgte einer plötzlichen Intuition.“? Ist es eine typisch weibliche Angewohnheit? Leschs Monolog legt das nahe, doch das beweist die These noch nicht.
Die bei weitem größere Frage ist, weshalb mir mein Textverarbeitungsprogramm das Verb „googeln“ in seiner entsprechenden Flexion als Fehler anstreicht. Seit 2004 steht dieses Verb offiziell im Duden. Nun könnte man – anhand des offensichtlichen Vorbilds, dem Unternehmen Google aus den USA – annehmen, dass das entsprechende Verb „googlen“ heißen müsste. Handelt man nach diesem Schema, begeht man einen Akt des motivierten Schreibens, wie das in der Sprachwissenschaft bezeichnet wird. Scheinbar aus Logik handelnd, blendet man dabei jegliche offiziellen Regeln aus. Bei der Übernahme eines solchen, umgangssprachlichen Ausdrucks in den deutschen Sprachgebrauch richtet man sich nach der deutschen Aussprache des Worts. Und da diese sich näher an der Schriftsprache orientiert als das Englische, ändert sich auch die Schreibweise des Verbs. Im Falle der ersten Person Singular ist das ein wenig knifflig, da der Infinitiv hierbei hinfällig ist, wenn man nach dem zweiten „g“ kein zusätzliches „e“ schreibt. Ob nun „googeln“ oder „googlen“, es wäre beide Male „Ich google“. Daher das optionale „e“. Wie Sie sehen, sind es selten die großen Dinge, die einen beim Schreiben am meisten beschäftigen. Erst im Detail offenbaren sich wahre Schätze.
Am Tisch war ich der einzige männliche Teilnehmer. Das ist beim Europäischen Freiwilligendienst nicht gerade unüblich. Frauenquoten, von denen Manuela Schwesig nur träumen kann.
Was mir sogleich auffiel, war die haushohe Überlegenheit der Frauen in Bezug auf die Reaktionsgeschwindigkeit. Ich konnte nur dasitzen und zuschauen, hatte keine Chance gegen die Meisterinnen der Intuition. Stattdessen begab ich mich wieder in meine Welt der Nachdenklichkeit, einen anti-intuitiven Raum, der mir das genaue Gegenteil bot. Einen schwer zu beschreibenden Weg, den man am besten als monologisierten Diskurs nach Jean-François Lyotard bezeichnet. Ein Selbstgespräch, das keinen Konsens als zu erreichendes Ziel voraussetzt. Anders als Jürgen Habermas, betrachtet Lyotard die allvereinende Lösung am Ende der Diskussion nicht als prinzipielles Ziel. Nur durch die Akzeptanz der Differenzen der Redner kann am Ende etwas Neues entstehen.
Wir legten eine kleine Pause ein und sprachen weiter über das Haus. Uns interessierte so ziemlich alles, da unsere Wohnungen in Náchod und Nové Město auch nicht nur annähernd so gut waren. Es waren schon kolossale Unterschiede zu unseren Wohnungen zu erkennen. Nach und nach erfuhr man von den anderen Volontären, die zurzeit in den hiesigen Projekten aktiv waren und unter anderem auch von der Bewohnerin des Raumes, in welchem ich schlafen darf, Ana, sowie von Anne. Letztere stamme aus Neuseeland, sei sechzig Jahre alt, jedoch laut Vali “nur“ eine Freiwillige, keine EVS-Partizipantin. Das wäre ohne Urkundenfälschung ohnehin nicht möglich. Zum Europäischen Freiwilligendienst sind nur Menschen zugelassen, die zwischen siebzehn oder achtzehn – die Untergrenze variiert von Land zu Land – und dreißig Jahre alt sind. Zudem kommt Anne aus keinem Land, das der Europäischen Union zugehörig ist. Auch ist Neuseeland weder Nicht-EU-Programm-aber-Teilnahmeland noch Partnerland. Ohne Dokumentenfälschung also unmöglich, beim Programm EVS teilzunehmen. Sie betätigte sich ganz einfach als Freiwillige und lebte im gleichen Haus. Das schien keine Probleme zu ergeben.
Vom Alter her hätte sie die Großmutter der europäischen Freiwilligen sein können. Ich habe den Eindruck, sie genießen diese Stimme der Vernunft im Haus. Eine Person, die mehr als ein halbes Jahrhundert Lebenserfahrung mitbringt, unter anderem aber auch weiß, wie man einen Kuchen backt. Über die Formulierung „nur eine Freiwillige“ wurde noch den ganzen Abend gelacht. Es klang ungewollt wertend. Vali hatte eine derartige Bedeutung nie intendiert. Sind es doch gerade die sprachlichen Missverständnisse, die den Freiwilligendienst so bereichern. Für Anne als Muttersprachlerin muss das ungewöhnlich sein. Zwar versteht sie am ehesten von allen, was gemeint ist, doch wird sie auch eben nie in den Genuss der Sprachwitze kommen. Sie kann vermutlich nicht nachvollziehen, wie es zu manch ulkiger Situation kommt. Wenn die Deutschen jeden Satz mit „,or?“ abschließen, die Spanier behaupten, die Brücke habe zwei Kilometer und die Tschechen auf bestimmte und unbestimmte Artikel gänzlich verzichten.
Nun stößt auch Anne dazu. Sogleich wird sie von Mica darüber in Kenntnis gesetzt, dass sie laut Vali nur eine Freiwillige sei. Dieser verirrt sich in Erklärungsversuche, während wir und Anne die Szene nur schmunzelnd betrachten. Freiwillige dieses Alters sind eine große Seltenheit. Bisher habe ich weder von solchen Leuten gehört, noch sie je bei einem Projekt kennengelernt. Einst sah ich eine Dokumentation über ältere Damen, die ihres Rentnerlebens überdrüssig sind, woanders hinwollen und fortan beispielsweise als Au-pairs im Ausland arbeiten. Dennoch war es ungewöhnlich, so jemand tatsächlich zu treffen.
Anne kam mit einer guten Nachricht und erinnerte an den Kuchen, der noch übrig sei. Wir müssten ihn nur noch in den Ofen schieben. Zwar war das Abendessen recht üppig gewesen, doch konnte so ein Happen zur späten Stunde nicht schaden. Aus ernährungsphilosophischer Sicht völlig falsch, für einen Mann beim EVS jedoch zu verkraften. Wie die Freiwilligen bei ihrem Seminar erfahren haben, beträgt der typische Gewichtsverlust während des Jahres bei den männlichen Teilnehmern zwei Kilogramm. Bei den Frauen minus sechs.
Der duftende Temperaturtempel ließ schon vielversprechende Voreindrücke verlauten. Bis der Biss jedoch erfolgen konnte, mussten wir uns noch mit einem Spiel gedulden. Dieses Mal zu meinem Glücke eines, das sich mit der anderen Hälfte des Gehirns lösen ließ. Auch diese Beschäftigung trug einen interessant mehrdeutigen Namen. Ein Buchstabe weniger und man hat ein deutsches Dienstleistungsunternehmen, das sich mit der Vermietung von „Sanitärsystemen“ beschäftigt, wie sie das euphemistisch umschreiben. In diesem Fall geht der Name jedoch auf kein tschechisches Wort, sondern auf ein lateinisches zurück. „Dixit“ bedeutet: „er/sie/es hat gesagt“. Das ist ein nichtssagender Name.
Jedoch waren die Spielregeln schnell erklärt. Es gibt Spielkarten, die jeweils unterschiedliche Szenen zeigen. Illustrationen der Künstlerin Marie Cardouat. Ihre Werke sind schwer in Worte zu fassen. Sie zeigen meist Begebenheiten, die zum Nachdenken anregen. Es wird mit klassischen Motiven gearbeitet. Mit Treppen, Schlüsseln, Ankern, Planeten, Zeit, Licht, Dunkelheit, Lenkrädern. Diese Elemente ergeben in Kombination mit einem meist betont neutralen Hintergrund ein Gesamtbild, das Raum für Spekulation lässt. Jeder Mitspieler bekommt die gleiche Anzahl an Karten. Wenn er – oder, wie es meistens der Fall ist, sie – an der Reihe ist, muss er eine Karte auswählen und sie verdeckt auf den Tisch legen. Dazu sagt man ein Wort, das einem als passend erscheint. Die anderen Mitspieler wählen dann anhand dieser Äußerung passende Karten ihrer Auswahl aus und legen sie ebenfalls verkehrt herum auf den Tisch. Dann werden die Karten gemischt. Und zwar so lange, bis auch ich den Überblick verloren habe. Ein paar Sekunden lang konnte ich noch nachvollziehen, welche die erstgelegte Karte war, als dann aber mehrere Hände ins Spiel kamen, wurde es mir unmöglich gemacht, ein falsches Spiel zu spielen.
Wenn die Karten gut gemischt sind, dreht man sie um und legt sie nebeneinander in eine Reihe. Das ist nicht nötig, sieht aber gut aus. Nun haben die Spieler eine kurze Bedenkzeit. Es gilt, das Bild zu finden, auf das die Beschreibung am ehesten passen könnte. Man hat nur ein Wort, was die ganze Sache erschwert. Meist sind es Wörter wie Zeit, Freundschaft, Entdeckung, unter denen sich jeder ganz andere Dinge vorstellt. Trotzdem muss man sich für eines der Bilder entscheiden, indem man seine Spielfigur darauf abstellt. Die Person, die die erste Karte gelegt und den Begriff festgelegt hat, löst nun auf. Meist ist es verwirrend. Man sollte ohne Taktik spielen, denn die Mitspieler handeln leider zu rational. Bei den Begriffen erwartet man eine gewisse Kreativität bei den Spielern, doch leider ist diese nur selten da, sodass das offensichtliche Bild nur selten das falsche ist. Soll heißen: Indem man stets auf das offensichtlichste Bild tippte, hatte man die höchsten Chancen, erfolgreich zu sein.
Ein praktischer Automatismus wurde durch die Regel erzeugt, dass es Punkte gab, wenn eine gewisse Verteilung, sprich Streuung, erkennbar war, da das Wort dann weder zu offensichtlich noch zu fremd war. Es gab dann noch komplizierte Belohnungssysteme, deren Anwendung ich lieber den anderen Mitspielern überließ. Wir beendeten das Spiel nach einer Runde, weil es nach Kuchen roch. Wir nahmen ihn aus dem Backofen und stellten ihn in die Mitte des Tisches. Wie die Barbaren zückten wir alle eine Gabel und stocherten gemeinsam in der Pampe herum, dabei Acht gebend, nicht die Antihaftbeschichtung zu zerkratzen. Die Pizza und die tolle Nudelpfanne der Mädchen waren schön und gut, doch langanhaltend sättigend war das alles nicht. Wenngleich Kuchen nicht die ideale Nahrung am Abend ist, so hat sich dadurch zumindest mein Obstkonsum plötzlich vervielfacht.
Als dann der Kuchen verschwunden, die Esserei beendet war, dachte ich, jetzt endlich hochgehen zu können, um zu schlafen. Allerdings präsentiert uns Mica jetzt ihre Idee, noch gemeinsam eine Fernsehserie anzuschauen, die angeblich so lustig sei. Bis ein Weg gefunden ist, die Serie anzuschauen, verging einige Zeit. Immerhin hatte die Wohnung diesen einmaligen Filmprojektor. Das wäre in unseren Wohnungen undenkbar. Zwar steht in unseren Verträgen, dass wir das Anrecht auf einen Fernseher hätten, jedoch ist dieser nur in einer der sechs Wohnungen vorhanden und eben auch nur einer. Umso mehr genossen wir den Aufenthalt im Eutopia für Volontäre.
Zwei Folgen dieser Serie schauten wir an. Es ging um zwei Informatiker, die gemeinsam im Keller eines Bürogebäudes arbeiteten. Sie bekamen eine neue Chefin, die völlig fachfremd war, aber eine Frau, und deshalb in höchstem Maße verwirrend – sowohl im Sinne der Absurdität der Führungsrolle, die sie nun inne hatte – ursprünglich wollte einer der zwei Informatiker die Abteilungsleitung übernehmen – als auch durch ihr Auftreten. Es ergab sich eine interessante Mischung aus Werbung um das Weibchen und dem gleichzeitigen Begehren der Rolle im Unternehmen.
Schwelgend bereits in anstrengenden Träumen schmunzelten wir halbherzig, fanden uns wieder, überlegend, weshalb wir noch darüber nachdachten. Es war schon mitten in der Nacht, der Morgen war laut der Uhr schon da, doch ungläubig verharrte man im alten Taggefüge, würde den Übergang durchmachen, ihn nicht weiter hinauszögern. Der Schlaf als einzige Grenze. Unüberwindbar und nach so einem Tag erwünschter denn je. Und doch musste man sich ihn erst durch stundenlange Gesellschaft verdienen, so schien es. Fand der Zwang dann tatsächlich ein Ende, mischten sich Unerwartetheit und Sehnsucht. Man ging hoch, ins Einzelzimmer. Ich konnte hochgehen und ein zwar hartes, schmales und kurzes Bett vorfinden, das scheinbar für Leute vom Schlag Tyrion Lannister gebaut wurde. Doch das ist egal. Zum Schlafen ausreichend. Die Organisation war scheinbar besorgt um ihre Freiwilligen und kaufte Betten, die weder Gewichtszunahme noch gesellschaftliche förderten.
Beeindruckender als das Bett war dagegen der aufgeräumte Schreibtisch vor mir, auf welchen ich dank Mondlicht ohne zusätzliches Licht blicken konnte. Ha! Sköne Oke – Sköne Oke, es bedurfte nicht erst einem Perspektiv, um die richtige Perspektive zu erlangen. In der Ordnung der hier wohnenden Freiwilligen spiegelte sich eine gewisse Gegensätzlichkeit wider. War die Wahrscheinlichkeit auch gering, ein solches Zimmer zu erwischen, so war es dieser Umstand, der in Momenten von Verwirrung, Noch-nicht-angekommen-Sein und einer Neuheit aller Dinge der scheinbare Gegenpol war, an welchem man alle Sachen wiederfand, an denen es zuvor so lange gemangelt hatte.