Von Meermenschen und Möwen
Sommer heißt auch immer wieder, dass Mensch und Natur in Konflikt geraten.
Da es wieder die Zeit ist, wo Menschen massenweise in Richtung Meer ziehen, um ihren Urlaub in der ein oder anderen Küstenstadt zu verbringen, ist nun vielleicht die beste Gelegenheit, um über Möwen zu schreiben.
Touristen sind nicht die einzigen wiederkehrenden Gäste des Sommers. Spätestens Anfang Juni, aber meist schon früher, kehren verschiedene Sorten Möwen zurück an die Küste, um dort ihre Brutgebiete aufzusuchen, nachdem sie den Winter anderswo verbracht haben. Die erhöhte Anzahl von Menschen bedeutet außerdem mehr Futtermöglichkeiten für Möwen, unter denen einige fest in der Stadt nach Futter suchen, Müllsäcke aufpicken oder Essensreste verspeisen.
Aber was sind das eigentlich für Möwen?
Für verängstigte Touristen sehen die Möwen meistens alle gleich aus – groß, mit einem gelben Schnabel und einem bleichen Auge auf die Portion Pommes gerichtet, die man in der Hand hält. Wenn sich dann nach einem gellenden Kreischen noch ein oder zwei Möwen hinzugesellen, ist die Verunsicherung komplett. Zudem kursieren auf Youtube genug Videos von Touristen, die durch Möwen angefallen werden oder denen das Essen aus der Hand gestohlen wird von einem der Vögel. Aber ‚die Möwe’ gibt es nicht.
‚Möwe’ bezeichnet eigentlich eine Gattung von Vögeln, unter die eine ganze Reihe von Arten fallen. Am geläufigsten ist hierzulande, wenn nicht vom Namen, so zumindest vom Aussehen her, die Silbermöwe (larus argentatus) – etwa dreißig Zentimeter vom Kopf bis zum Schwanz, mit hellgrauem Gefieder auf dem Rücken, einem gelben Schnabel mit rotem Punkt, und rosa gefärbten Beinen. Die Beschreibung, wenn auch recht eingängig, kann aber in freier Wildbahn schnell zu Verwirrung führen, da viele der Möwenarten sich nicht sonderlich voneinander unterscheiden, und selbst Vogelkenner ihre Mühe haben, alle auseinanderzuhalten. Was als ‚Möwen’ bezeichnet wird, ist also eine Vielzahl von Arten. Was sie gemein haben, ist, dass man sie meistens in Küstennähe oder im Binnenland an Gewässern antrifft. Gerade im Binnenland findet man oft die Lachmöwe (larus ridibundus), eine etwas kleinere Möwe, die im Sommer einen schwarzen Kopf hat.
Wenn man Urlaub an der Küste macht, gewinnt man schnell den Eindruck, dass die Möwen es ganz gut getroffen haben in ihrer Koexistenz mit dem Menschen. Silbermöwen wirken manchmal geradezu dreist, wenn sie auf der Strandpromenade zwischen Urlaubern hindurchspazieren, und noch dazu sind sie so groß, dass manche Menschen sich kleinere Hunde als Haustiere halten. Silbermöwen haben den Sprung in die Stadt ganz gut geschafft, und das Leben dort bietet ja auch durchaus einige Vorteile – Möwen, die üblicherweise auf dem Boden brüten, in großen Kolonien, haben in Flachdächern eine gute Alternative gefunden, und in der Stadt und vor allem auf den Dächern gibt es kaum landgebundene Raubtiere, die ihnen noch gefährlich werden könnten (der Anteil der auf Flachdächern brütenden Möwen scheint allerdings bei den einzelnen Arten immer noch relativ gering zu sein).
Sind also Klagen über ‚Möwenplagen’ gerechtfertigt?
An der belgischen Küste brüten vor allem drei Arten von Möwen: die Silbermöwe, die Heringsmöwe und die Lachmöwe. Davon findet man vor allem die Silbermöwe in den Städten.
Vorletztes Jahr, Anfang 2014, geriet einer der größten Möwenkolonien Belgiens im Hafen von Seebrügge in Konflikt mit der geplanten Ausbreitung des Hafens. Die Möwen, die eine bisher leerstehende große Fläche als Brutkolonie nutzten, standen nun der Nutzung dieses Gebiets für Gewerbeflächen im Weg. Interessant war, dass die meisten Zeitungen eher ‚Möwen legen die Ausbreitung des Hafens still’ titelten, und nicht ‚Ausbreitung des Hafens bedroht Möwenpopulation’. Denn tatsächlich ist es so, dass der Brutplatz in Seebrügge beinahe 90% der flämischen Brutpaare der Heringsmöwe beherbergte, und auch einen Großteil der Brutpaare der Silbermöwe. Doch einer differenzierten Debatte stand das schlechte Image der Möwen im Weg: in einer Talkshow wurde beispielsweise mit Videos von Lachmöwen (einer vollkommen anderen Sorte) aufgewartet, die einer Touristin das Essen stahlen.
Ein Wort, das die Debatte über eine wahrgenommene Möwenplage in belgischen Küstenstädten kennzeichnet, ist das Wort ‚overlast’, ein niederländisches Wort, das Ärgernis oder Belästigung bedeutet. Als damals über die Ausbreitung des Hafens zulasten der Möwen diskutiert wurde, beging man unter diesem Stichwort einen gefährlichen Fehlschluss.
Die Befürworter der Hafenausbreitung wiesen darauf hin, dass die Möwen doch ohnehin schon überall sein, dass in den Städten schon zu viele waren und dass man daher auch keine Rücksicht nehmen müsste. Das wurde unter dem Stichwort ‚overlast’ zusammengefasst, man habe genug von den Möwen in den Städten. Die Grundannahme dabei war allerdings, dass eine Ausbreitung des Hafens zufolge haben würde, dass die Möwen einfach... weggingen. Wohin? Einfach weg eben.
Nur müssen die Möwen eben irgendwo hin.
Die Ausbreitung des Hafens wurde genehmigt, der Brutplatz verschwand. Diesen Sommer werden sich die Heringsmöwen von Seebrügge erstmals einen neuen Brutplatz suchen müssen. Und dabei liegt vor allem ein Ziel nahe: die Städte, in denen schon einige ihrer Artgenossen brüten.
Die unbebauten Flächen an der Küste, vor allem an der belgischen Küste, nehmen immer mehr ab. Das bedeutet, dass der Lebensraum vieler Küstenvögel stark eingeschränkt wird. Möwen, vor allem Silber- und Lachmöwen, haben dabei den Vorteil, dass sie ganz gut auf die Städte ausweichen können, die ihren ehemaligen Lebensraum eingenommen haben. Obwohl die Anzahl an Möwen tatsächlich in Koexistenz mit dem Menschen zunächst stieg, fiel diese Zahl in den letzten Jahren wieder, was unter anderem an dem Verschwinden von Futterquellen liegt, die Möwen früher nutzten. Auch scheinen Möwen nicht so flexibel zu sein, dass sie einen Tag auf See fischen und am nächsten in der Stadt nach Futter suchen – Untersuchungen legen nahe, dass Möwen tatsächlich sehr spezifische Orte haben, wo sie sich immer wieder ihr Futter suchen.
Es sind also tatsächlich nicht die Möwen, die immer mehr werden, sondern die Menschen, die immer weiter in den Lebensraum der Tiere vordringen.
Wer also diesen Sommer in Richtung Küste fährt, sollte sich diesen Ratschlag zu Herzen nehmen: Möwen – egal welcher Art – nicht zu füttern, zumal dies in Belgien verboten ist und mit einer Geldstrafe geahndet wird. Wer sich wirklich davor fürchtet, dass eine freche Silbermöwe einem die belgischen Pommes stibitzt, der sollte wissen, dass solches Verhalten erlernt ist, und die Möwe jeden zugeworfenen ‚Leckerbissen’ als Ermutigung ansieht, hier weiter nach Futter zu suchen.
Stattdessen kann man die Zeit an der Küste nutzen, um vielleicht einmal verschiedene Möwenarten zu erkennen und zu beobachten. Diesen Sommer zieht außerdem eine Riesenmöwe die belgische Küste entlang – eine mobile Ausstellung, um Vorurteile gegenüber Möwen abzubauen und Anwohner und Touristen gleichermaßen über die Vögel zu informieren.
Weiterführende Links:
https://schleswig-holstein.nabu.de/tiere-und-pflanzen/voegel/moewen/10537.html (NABU-Artikel zur Situation der Möwen in Schleswig-Holstein)
http://www.hln.be/regio/nieuws-uit-blankenberge/reusachtige-meeuw-leert-je-alles-over-overlast-a2723057/ (Artikel zur mobilen Möwe in Het Laatste Nieuws)