Von Äxten, Schlangen und kaltem Wasser
Kerbchen ist wohl eher praktisch veranlagt. Sonst würde sie ihren chirurgischen Eingriff wohl nicht als interessante Gelegenheit wahrnehmen, ein osteuropäisches Krankenhaus hautnah zu erleben. Oder das morgendliche Kampfgeschrei der Patrouillien während des Workcamps nicht uminterpretieren als kostenlosen Weckservice.
Nun sind tatsächlich schon vier Wochen vergangen, seit ich in Bulgarien bin. Wie versprochen folgt jetzt der große "Reisebericht" über das Leben im Camp.
Anfangs wusste ich überhaupt nicht, was mich in den kommenden Wochen erwarten würde. Mein Koordinator sagte nur etwas von Camp, Organisation und Kinderbetreuung - weswegen ich auch sogleich sehr überrascht war, auf andere Freiwillige zu treffen, als ich mit dem Bus in Veliko Tarnovo ankam.
Dort genossen wir ein gutes Abendessen und die berühmte Lichtshow, bevor es für mich das erste Mal ins Camp gehen sollte. Da wartete schon die nächste Überraschung auf mich: Millionen Kilometer von jeglicher Zivilisation und Elektrizität entfernt (na ja, fast - das nächste Dorf mit so etwas wie einem Tante-Emma-Laden war etwa fünf Kilometer weit weg), fand ich mich auf einer großen Wiese mit einem Tisch, zwei Herzhäuschen und ein paar Zelten wieder. Von Kindern nichts zu sehen.
Wie ich am nächsten Tag feststellte, war dies nämlich keineswegs ein "Kinderbetreuungscamp", wie ich es erwartet hatte, sondern ein Internationales Workcamp mit Freiwilligen aus Belgien (zwei Teilnehmer), Frankreich (zwei Teilnehmer), der Schweiz (ein Teilnehmer), der Türkei (ein Teilnehmer), Tschechien (zwei Teilnehmer), Lettland (Eddi, mein Mitbewohner) und Bulgarien (elf Teilnehmer), um die wichtigsten Bestandteile eines Scoutcamps (für Pfadfinder) wie Duschräume, Küche, Tische, Zäune und Vieles mehr aufzubauen.
Bewaffnet mit Hammer, Säge, Axt und digging machine in Begleitung von großer Hitze und jeder Menge Moskitos machte ich also meine ersten Arbeitserfahrungen in Bulgarien.
Zum Alltag gehörte erst einmal das Leben im Zelt für vier Wochen ohne Elektrizität - samt zweifachem Zeltbruch mit anschließender Miniüberschwemmung -, Wasser von einer Quelle schöpfen, Kochen auf dem Feuer, Duschen mit einem Schlauch mit kaltem Wasser und eben ohne all den Luxus, den man von einem Dorf-/Stadtleben gewöhnt ist.
Natürlich wurde die Arbeit durch eine Menge Freizeit erleichtert, in der wir zum Beispiel den Bürgermeister von Dryanovo und das Schwimmbad im nächstgelegenen Dorf Tsareva Livada besuchten oder einfach nur faulenzten (ich glaube, die Bilder sprechen Bände).
Unterbrochen wurde der "harte Arbeitsalltag" :) auch durch eine siebenstündige Wanderung durch die traumhafte, wunderschöne, bulgarische Landschaft zum Dryanovski Monastir (Kloster Dryanovo) mit einem Besuch der Tropfsteinhöhle Bacho Kiro sowie durch einen zweitägigen Besuch der Stadt Gabrovo und jeder Menge trinkfreudiger Stunden in der Disko.
Apropos trinkfreudig, da ist man schnell wieder beim Thema Bulgaren angelangt: Trinkfreudig, traditions- und nationalbewusst, gastfreundlich, sowie offen für die westlichen Kulturen sind wohl die besten Wörter, um die Bulgaren zu beschreiben. Das zeigte sich vor allem an den Lagerfeuerabenden mit vielen internationalen Liedern. Vielleicht sind dies auch die Gründe, warum ich mich so schnell im Camp eingelebt habe, nimmt man einmal von der Sprache Abstand, denn Hauptsprache war in diesem Camp Englisch… Im Ganzen gesehen ging diese erste tolle Zeit wahnsinnig schnell herum. Wobei es mich natürlich tröstet, dass ich jetzt fast in jedes Land reisen kann und dort eine Übernachtungsmöglichkeit habe. :-)
Schlag auf Schlag folgte ein Tag dem anderen und schon sah ich mich das Programm für das nächste Camp studierend da sitzen: das Scoutcamp!
In den nächsten Tagen sollten mich weitere 50 bis 60 Leute davon überzeugen, ein wahres Pfadfinderleben zu führen. Und endlich konnte ich auch meiner erwarteten Arbeit nachgehen: Der Betreuung von elf Kindern im Alter von sieben bis elf Jahren, zusammen mit zwei weiteren bulgarischen Mädels namens Manola und Polia.
Die Betreuung der Scoutkids (Wölfe genannt) stellte sich allerdings als nicht so einfach heraus, wie ich es mir so schön in meinen Vorstellungen ausgemalt hatte. Schnell stellte ich fest, dass Kinder im Alter von sieben Jahren ja noch gar kein Englisch sprechen können und meine Bulgarischkenntnisse überhaupt nicht ausreichten. So musste ich leider meine Arbeit auf das Aufpassen und Begleiten der Kids zu den wichtigsten Spielen beschränken. Was aber meiner Verständigung mit ihnen keinen Abbruch tat, sondern die Fähigkeit stärkte, sich auch mit Händen und Füßen unterhalten zu können.
Wir wanderten mit ihnen zu einem historischen Dorf, halfen ihnen bei der Bewältigung des "Magic Forest Game" und spielten jede Menge Spiele, was bei einigen Betreuern wahre "Ausflippanfälle" mit sich brachte, weil die Kids doch sehr energiegeladen waren und kaum zur Ruhe gebracht werden konnten. Ansonsten half ich hier und dort beim bauen neuer Tische und Feuerstellen, lernte Bulgarisch-Vokabeln und begleitete die Scoutgirls zum "survival truck".
Unterbrochen wurde meine Campzeit auch durch einen kurzen Krankenhausaufenthalt. Aus unerfindlichen Gründen hatte ich plötzlich einen dickgeschwollenen Finger, den sie ein Stück aufschneiden mussten. Auf diese Weise hatte ich gleich die Möglichkeit, auch noch bulgarische Ärzte und ihre Fähigkeiten kennen zu lernen! Wer kann von so etwas schon nach den ersten Wochen im neuen Land berichten? :-)
Langweilig wurde es im Lager aber auch nach dieser kurzen Unterbrechung nicht, denn der gesamte historische Ort - Burg und Häuserruinen zeugen von der Schlacht der Türken gegen die Bulgaren - wurde für die großen Scoutspiele genutzt, an denen ich auch teilnehmen durfte. Die Thematik spiegelte sich sowohl in den "Olympic Games" als auch im "Big Game", einer Art Militärspiel zwischen zwei feindlichen Gruppen, wider. Letzteres war wahnsinnig anstrengend, weil ich natürlich in der Gruppe der "bösen Türken" war und wir den ganzen Tag die anderen Patrouillen verfolgen mussten, das heißt rennen, verstecken, anschleichen, wieder rennen, kämpfen immerfort, und das Spiel erstreckte sich über 13 Stunden auf einem riesigen Gelände!
Generell konnte man auch ziemlich schnell den Eindruck eines Scoutcamps mit militärischer Ausrichtung bekommen: um 8.00 Uhr morgens ertönte das Kampfgeschrei der einzelnen Patrouillen, das Hissen der bulgarischen Flagge und der Scoutflagge und das Singen beider Hymnen. Falls die Aufstellung nicht ordnungsgemäß erfolgt war, wurde die ganze Prozedur wiederholt bis alles perfekt war. Dank meiner deutschen Herkunft konnte ich immer länger schlafen und hatte praktischerweise gleich einen Wecker. :-)
Zu meinen eher ungewohnten Erfahrungen zählt sicherlich auch die Begegnung mit der deutschen Vergangenheit. So konnte ich bei einigen Leuten eine wahre Faszination für die deutsche Geschichte im Zweiten Weltkrieg entdecken. Nicht nur, dass bestimmte Schuhe nach der Wehrmacht benannt sind und "Deutschland, Deutschland über alles..." oft zu hören war. Nein, eines Abends am Lagerfeuer erlebte ich auch, wie sich zwei deutschsprechende Bulgaren mit "Heil Hitler" grüßten! Das war doch eine sehr seltsame Situation für mich.
Nichtsdestotrotz war es insgesamt eine wahnsinnig schöne Zeit, in der ich viele nette, neue Leute kennen lernen durfte und von der ich viele schöne Momente in Erinnerung behalten werde. Ach so, ich habe ganz vergessen, die Schlange zu erwähnen! Wir bekamen nämlich eines schönen, sonnigen Tages die Nachricht, dass eine tödliche Giftschlange im Camp gesehen worden war und wir nur noch geschlossene Schuhe und lange Hosen zu tragen hätten. Aber das war angesichts der wahnsinnig hohen Temperaturen einfach nicht auszuhalten. Das dachte sich wohl auch die Schlange, da sie nicht mehr auftauchte.
So, nun werde ich mich mal wieder meinen vielen Mails widmen und sage: „Tschau, bis zum nächsten Mal!“
Alles Liebe und viele Grüße
von Eurer Annika (die nun durch die Sonne braungebrannt und mit fast komplett blonden Haaren herumläuft *aah*)