Ungarn entdecken - Eine Spielanleitung für Furchtlose
Ziel des Spiels: Ergründen der ungarischen Seele bei möglichst geringer Gewichtszunahme
Dauer: 11-12 Monate
Anzahl der Spieler: je nach Kapazität der Freiwilligen-WGs
Inhalt:
(Mehr als!!!!) 10 Millionen rot-weiß-grüne Spielfiguren
(Ungarn, Transkarpatier, Transsylvanier …)
mehrere motivierte Freiwilligenfiguren
eine Tüte gelangweilter Wachfiguren
eine diktatorische Orbán-Figur (mit Fidesz-Figuren im Schlepptau)
ein Spielbrett (Karte von Großungarn anno 1919)
eine XXL-Tüte Paprikapulver
ein Langenscheidt-Wörterbuch Ungarisch
fünfzehn Packungen Taschentücher
eine 5l-Flasche Sonnenblumenöl
Aufbau des Spiels und Spielregeln:
Breiten Sie die Karte von Großungarn auf dem Tisch aus und nehmen Sie sich Zeit für einen erfurchtsvollen, gerne auch emotionalen Moment, um dem (erst 1920 erlittenen!) Verlust des ungarischen Territoriums den nötigen Respekt in der Gegenwart zu verschaffen (bei Bedarf dürfen Sie das erste Taschentuch ziehen). Setzen Sie Ihre Freiwilligenfigur auf ein Feld im Bereich des heutigen Ungarn (Sie haben ca. ein Drittel des Spielfelds zur Verfügung.)
Nehmen Sie das Langenscheidt-Wörterbuch und fangen Sie SOFORT an zu lernen. Während des Spiels sind jegliche Versuche, in einer anderen Sprache zu kommunizieren, zwecklos (Verlassen des Spielfelds). Sie erhalten einen Löffel Paprikapulver als Belohnung, wenn Sie schon vor dem Aufstellen Ihrer Figur die Aussprache erlernen (was für Deutsche nur eine Art Gedächtnistraining im Erlernen von Buchstabenkombinationen ist - auf jeden Fall ein guter Anfang!). Bewegen Sie (vor allem in den ersten Spielrunden) Ihre Figur nur, wenn Sie Ihr Wörterbuch in sicherer Nähe wissen.
Machen Sie sich wegen der finno-ugrischen Laute mit ihrer labyrinthartigen Logik keine allzu großen Gedanken: irgendwie wird die Sprache während des Spiels den Weg in Ihre Gehirnwindungen finden, solange Sie mit weit aufgerissenen Augen und Ohren über das Spielfeld wandern, hemmungslos mit den rot-weiß-grünen Figuren kommunizieren und Ihnen keine noch so abwegige Umkehrung der Ihnen gewohnten Denkweise Angst macht (der Joker: www.magyarnemet.hu ).
Falls hierbei Ermüdungserscheinungen auftreten, nehmen Sie sich eine Tasse ungarischen Kaffee. Versuchen Sie nicht, das Ihnen angebotene eierbechergroße Tässchen durch eine „normale“ Tasse zu ersetzen, denn der Koffeingehalt des hierzulande beliebten „türkischen Kaffees“ könnte sonst das Wohlbefinden Ihrer Spielfigur stören (einmal aussetzen).
Begegnet Ihre Figur einer rot-weiß-grünen, gibt es drei zu beachtende Prinzipien:
1) Das Jammerprinzip:
Seien Sie im Gespräch mit Ihrem Gegenüber schonungslos. Auf die Frage „Hogy vagy?“ (Wie geht’s?) dürfen Sie Ihren dunkelsten Fantasien freien Lauf lassen. Auf diesem Spielfeld möchte niemand hören, dass es Ihnen gut geht: Klagen Sie, zählen Sie die schlechten Seiten des Lebens auf, stöhnen Sie, lassen Sie ohne Hemmungen Tränen fließen. Eine Begegnung gewonnen hat die Figur, die dem Optimismus den wenigsten Raum lässt (ein Löffel Sonnenblumenöl). Taschentücher ziehen empfohlen.
2) Das Prinzip der Indirektheit:
Hier ist Wachsamkeit gefragt! Achten Sie auf Blicke, Tonfälle, Stimmungen. Die rot-weiß-grünen Figuren werden Ihnen niemals von sich aus sagen, dass Sie auf dem falschen Feld stehen. Dafür verändern sie ihre Ausdrucksformen und erwarten von Ihnen, dass Sie erraten, wo der Fehler liegt. Es ist hilfreich, sicher zu gehen, ob Sie auf dem richtigen Weg sind, indem Sie nachfragen oder konkret Kritik einfordern. Wenn Sie zu lange warten und es zu Alarmzeichen der rot-weiß-grünen Männchen kommt, müssen Sie Ihr gesammeltes Paprikapulver abgeben und auf Ihrem Feld abwarten, dass die andere Figur sich beruhigt (5mal aussetzen). Ziehen Sie vorsichtshalber gleich mal ein Taschentuch.
3) Das Höflichkeitsprinzip:
Grüßen (bei mehreren Figuren unbedingt auf die Pluralendungen achten), Türenaufhalten und das Verlassen von Bussitzen für Ältere und Schwangere sind unabdinglich. Verstöße führen zu unberechenbaren Reaktionen der Rot-weiß-grünen (Schmeißen). Ist Ihre Figur weiblich, kann sie sich entspannt zurücklehnen und verbale Handküsse und Hilfestellungen von den männlichen Mitspielern genießen. Ist Ihre Figur männlich und steigt vor einer weiblichen Figur in Bus oder Aufzug, können Sie sich der gesellschaftlichen Ächtung gewiss sein (dreimal aussetzen).
Dies deutet schon auf eine weitere Regel hin: Im vorliegenden Spiel sind die Gesetze der Emanzipation ausgesetzt! Ist Ihre Figur beispielsweise weiblich und heiratet im Laufe des Spieles eine männliche rot-weiß-grüne Figur, so verliert Ihre Figur ihren Namen und wird fortan beim Vor- und Nachnamen ihres Mannes angesprochen . Wobei Sie das nicht weiter stören sollte, eine Hochzeit ist derartige „Verluste“ wert; die Ehe ist nämlich der höchste Stand, den Ihre Spielfigur erreichen kann und wird mit 5 Löffeln Sonnenblumenöl belohnt. Vor allem im Umgang mit rot-weiß-grünen Figuren aus den ehemaligen Randgebieten Ungarns sollten Sie sich der klassischen Geschlechterrollen bewusst sein: Greift eine männliche Figur zu Pfanne oder Putzlappen, hat sie die Ansprüche an ihre Rolle auf dem Feld nicht erfüllt (3mal aussetzen!).
Wahren Sie immer und überall die persönliche Schutzzone der anderen Spielfiguren. V.a. in öffentlichen Verkehrsmitteln sollten Ihre Figur sich möglichst unauffällig und in sich zurückgezogen verhalten - mit Blickkontakt oder einem offenen Lächeln greifen Sie die Schutzzone der Sie umgebenden Figuren an und rufen Irritationen hervor (Ihre Figur darf nicht mehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren und ist somit bewegungsunfähig). Kleiner Tipp: Wählen Sie von vornherein eine Figur in einer dunklen, nicht aufreizenden Farbe, um Ihre Erscheinung für die „einheimischen“ Spieler möglichst angenehm zu gestalten. Nicht auffallen ist das Motto!
Im Allgemeinen ist im Bereich des Spielfelds überall für das nötige Maß an Sicherheit gesorgt - Ungarn haben aus türkischen Belagerungen gelernt, Sicherheitspersonal ist die Antwort. Stellen Sie die Sicherheitsfiguren überall auf dem Spielfeld auf, damit sie in Supermärkten, U-Bahnschächten und Banken Wohlbefinden verbreiten können. Die Sicherheitsfiguren sind zu keiner Handlung fähig. Wenn Sie eine Sicherheitsfigur um Rat bitten, müssen Sie für diese unnötige Tätigkeit und Störung ihres Nichtstuns zwei Löffel Paprikapulver abgeben.
Achten Sie beim Fortbewegen Ihrer Figur unbedingt darauf, die Felder spontan und ohne Struktur zu wählen. Es sollten keine erkennbaren Muster Ihrer Handlung erkennbar sein - es geht nicht um vorausschauendes Denken! Der Effekt des Spiels sind die Überraschungen, die Sie bei jedem unbedachten Zug erwarten! Teilen Sie Mitspielern, mit denen Sie eine gemeinsame Aktivität planen, dies maximal 10 Sekunden vor deren Zug mit. Kommen Sie nicht pünktlich zu Verabredungen mit einer anderen Figur (unnötiges Warten kostet Sie 2mal aussetzen).
Wo wir schon bei Überraschungen sind: Auch die Nahrungsaufnahme auf dem Spielfeld bietet Platz für immer neue Entdeckungen. Fallen Sie nicht auf die äußerliche Gleichförmigkeit herein! Es gilt, unter jeder Panade neu zu entdecken, was sich diesmal darunter verbirgt (ein Löffel Sonnenblumenöl für richtiges Erraten der frittierten Nahrung). Für den Ausruf „Oh, es gibt Tomatensuppe!“ müssen Sie drei Löffel Sonnenblumenöl abgeben. Erfahrene Spieler wissen: Rot kann im Land des Paprikapulvers nur EINES bedeuten und ist sowieso nur der in Fettaugen hängen gebliebene Schleier, unter dem sich die wahre Suppe verbirgt. Wenn Sie süße Suppe (z.B. Ananas-, Waldfrüche-, Erdbeersuppe) für einen Nachtisch halten, sollten Sie sich nochmal eingehend Zeit nehmen, die kulinarischen Spielregeln zu studieren (fünfmal aussetzen). Je mehr Tejföl (außerhalb des Spielfelds als Sauerrahm bekannt) Sie jeder Art von Nahrung beimischen, desto mehr steigt Ihre Chance auf echte Integration. Während des Spiels gemachte Äußerungen, die darauf schließen lassen, dass ein Mitspieler der Überzeugung ist, ungarisches Paprikapulver sei SCHARF, führen zum sofortigen Räumen des Spielfelds durch dessen Figuren (Ausscheiden). Wer das Spiel gewinnen will, muss sich darüber im Klaren sein, dass hier so gut wie kein Gericht ohne (viel) Zucker auskommt (Weder Nudeln noch Tomatensuppe). Übrigens zeigt sich beim Thema Essen, warum es sich lohnt, sich mit den rot-weiß-grünen Figuren auf guten Fuß zu stellen: An ihren Geburtstagen erwarten Sie mehrstöckige, aus Schokolade, Sahne, Maronencreme und ganz viel Fantasie und Backkunst gezauberte Wunder. (Für das Wertschätzen der konditorialen Fähigkeiten der rot-weiß-grünen Figuren erhalten Sie einen Löffel Paprikapulver.)
Sollte Ihre Figur der Gattung Vegetarier angehören, kann sie das Spielfeld gleich wieder verlassen. Sie existiert im Spiel nicht bzw. wird mit frittierter Leber -“Innereien sind doch kein Fleisch!“- getröstet. Bei der Äußerung vegetarischer Wünsche kann es passieren, dass man Ihre Figur nach einem ärztlichen Dokument fragt, das ihre Fleischintoleranz bestätigt und somit den Verzicht auf das wertvollste aller Nahrungsmittel rechtfertigt.
Noch ein Hinweis: Verschwenden Sie Ihre Spielzeit nicht mit der Suche nach echtem Brot, es ist hoffnungslos.
Fast genauso hoffnungslos ist das Vermeiden der Begegnung mit der diktatorischen Orbán-Figur. Wenn Sie Ihnen nicht persönlich begegnet, dann doch auf Plakaten, Konzerten, in den Medien. Sollte Ihre Figur in Tätigkeiten der reformierten Kirche involviert sein, stellen Sie sich auf besonders viele Berührungspunkte ein - die reformierten rot-weiß-grünen Figuren haben manchmal ganz besonders interessante Ansichten... Gibt Ihnen die Órbán-Figur Anweisungen, müssen Sie diese befolgen (Anm.d.Red.: Das Spielfeld wird von nicht-rot-weiß-grünen Figuren auch als Orbanistan bezeichnet.). Jeder für voll genommene Zeitungsartikel kostet Sie einen Löffel Paprikapulver (Ausnahmen sind www.pesterlloyd.net und TimeOut Budapest, das in Cafés ausliegt). Erwarten Sie von rot-weiß-grünen Figuren keine besonders aufgewühlte Stimmung bezüglich der diktatorischen Figur: Entweder die Figuren sind begeistert von ihr und folgen ihr auf dem Feld (Fidesz-Figuren) oder sie sind gleichgültig und finden das „alles nicht so schlimm“. Sollte Ihre Figur deutsche Wurzeln haben, kann es in Einzelfällen passieren, dass man ihr auf Grund ihrer Vergangenheit (…) jegliches Recht auf politische Kritik abspricht. Kommt Ihre Figur mit der diktatorischen Figur oder ihren Fidesz-Figuren in Berührung, bleiben ihr keine Optionen, Sie müssen 10mal aussetzen. Während dieser Periode der Läuterung können Sie sich z.B. darüber Gedanken machen, welche sozialen Zustände sich hinter dem (den Fidesz-Figuren zu verdankenden) Begriff „Flatrate-Einkommenssteuer“ verbergen (auch hier kann auf den Pester Lloyd verwiesen werden).
Für jede rot-weiß-grüne Figur, die Sie als Jobbik-Figur (Springerstiefel, Glatze, kein Gehirn) entlarven und schmeißen, erhalten Sie 10 Löffel Sonnenblumenöl und sind vorzeitiger Gewinner des Spiels.
Machen Sie den albernen Versuch, Ihren Müll zu trennen, wird Ihre Figur spätestens vor der EINEN bereitgestellten Tonne vor Ihrem Haus scheitern. Die verschwendete Energie kostet Sie einen Löffel Paprikapulver.
Einen Löffel Paprikapulver erhalten Sie dagegen für jede folkloristische Annäherung an die rot-weiß-grüne Lebensart, z.B. durch: einen im Kreis zu Volksmusik durchtanzten Abend (Kalorienverlust, non-verbale Kommunikation und gute Laune inbegriffen!), das Lauschen von Geigenmusik, Schachpartien oder auch … Pálinká (den Ungarn auch mal unauffällig in Wasserflaschen mitführen, was auf Spirituosen herstellende Verwandtschaft hindeutet).
Das Spiel beginnen darf der Spieler, der sich die meisten Spitznamen für den Spieler zu seiner Rechten ausdenkt. Auf dem Spielfeld kann eine Figur nämlich nie genug Namen haben; man wird Sie immer wieder mit neuen Variationen überraschen, bis Ihnen irgendwann nach ein paar Monaten und unzähligen -ka, -csi, -i ein Licht aufgeht: Ach, das ist ihr Name!!
Namen haben im rot-weiß-grünen Umfeld auch materiellen Wert: Erreichen Sie das Feld „Namenstag“, müssen alle Mitspieler Ihnen Blumen schenken, Karten schreiben und jeden Wunsch von den Lippen ablesen - fast genauso wie auf dem Feld „Geburtstag“.
Wer einen Mitspieler zuerst beim Nach- und dann beim Vornamen nennt, muss einmal aussetzen - gleichen Sie Ihre Denkweise ab dem ersten Zug dem magyarischen Denkmuster an: Immer anders als alle Anderen! Das gilt übrigens auch für das Datum, das man hier „rückwärts“, also z.B. 2012. 3.5., schreibt.
Noch ein letzter Tipp für die richtige Spielatmosphäre (Anfängern wird nahegelegt, sich in die Nähe des Taschentücherstapels zu setzen):
Für die furchtlosesten Mitspieler (bzw. die echten, abgehärteten Profis) ist ein musikalischer Spiegel der ungarischen Seele die richtige Begleitung für integrative Spielzüge (Achtung, DUR hat hier keinen Raum!!). Lassen Sie sich (im Bewusstsein der Tatsache, dass so manches Lied aus Ungarn eine weltweite Selbstmordwelle ausgelöst hat) von den tiefmelancholischen Lauten der Lebenseinstellung einer ganzen Nation inpirieren: Tränengarant ist „Ha én rózsa volnék“ (Wenn ich eine Rose wäre) von Bródy János (gut aufgepasst, János ist der VORname). Schöner, aber trotz der zahlreichen verursachten Selbstmorde irgendwie optimistischer ist „Szomorú vasárnap“ (Trauriger Sonntag), über das sogar ein deutsch-ungarischer Film in Budapest gedreht wurde (sehr schöne Einstimmung auf die Spielrunde bzw. Tipp für langweilige oder unemotionale Abschiedspartys!).
Für die schwächeren oder von Heimweh bedrohten Gemüter eignet sich eher eine (zugegebenermaßen von Propaganda durchzogene, da öffentlich-rechtliche) Untermalung mit Tönen von „Rádio Petöfi“ (www.mr2.hu), die meist eine richtig gute Mischung zu bieten haben. Und wer die Stimmung des ein oder anderen zu erwartenden Seminarfelds einfangen möchte, ist mit „Riszálom úgyis, úgyis“ (hört selbst und lernt ganz nebenbei die ungarische Verbkonjugation...) oder Roma-Musik (z.B. „Phari-Mamo“ von Ando Drom) gut beraten.
Spielende:
Gewonnen hat der Spieler, der
a) am meisten Taschentücher verbraucht
b) die Orbán-Figur mit dem Schrei „Nem tetszik a rendszer!“ vom Feld gefegt
c) am häufigsten sein Sonnenblumenöl zum Sült Krumpli-Braten wiederverwertet hat.
Viel Vergnügen !!
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