"Und, wie war's?"
Über Erinnerungen und eine Antwort, die schwieriger zu finden ist, als es manche vermuten.
Anm.: Diesen Artikel habe ich für meine deutsche Sendeorganisation "European Intercultural Forum e.V." geschrieben. Ihr findet diesen sowie weitere spannende Artikel von Europäischen Freiwilligen in Georgien und Armenien deswegen auch auf ihrer Homepage. Klickt einfach hier.
"Und, wie war es so?" Diese Frage. Die ich erwartet, die ich befürchtet hatte, lässt mich trotzdem sprachlos werden. Wie soll ich meine letzten neun Monate in Worte fassen? Und wie soll ich sie in Worte fassen, die nicht den Zeitrahmen sprengen? Ich könnte Stunden damit zu bringen, meine Erfahrungen als europäische Freiwillige in Aserbaidschan zu beschreiben. Aber ich gehe davon aus, dass kein Mensch so lange zu hören möchte. Ich hätte so viel zu erzählen, aber in meinem Kopf ist alles noch so ungeordnet. Die Eindrücke sind noch zu frisch. Und seitdem ich wieder zu Hause bin hatte ich auch wenig Zeit, meine Erfahrungen zu reflektieren und irgendwie zu ordnen. Also versuche ich mir schnell eine kurze Antwort auf die Frage einfallen zu lassen. Eine, die meinen Gegenüber zufrieden stellt. Vielleicht sogar eine Antwort, die eine konkretere Nachfrage meines Gegenübers nach sich zieht. Und weil ich glaube, dass Eindrücke am besten über kleine Anekdoten und Momentaufnahmen vermittelt werden können, überlege ich, welche Geschichte meinen Gegenüber einen passenden Einblick in mein Leben in Aserbaidschan geben könnte.
Bilder tauchen vor meinem inneren Auge auf und verschwinden blitzschnell wieder. Mein kleines Haus mit den rosa gestrichenen Außenwänden zeigt sich. Und ich fühle wieder die Frühlingshitze, die auf meinen Kopf brennt während ich die Wäsche, die noch sacknass ist, weil ich sie auf Grund des Fehlens einer Waschmaschine mit der Hand gewaschen habe, im Hof aufhänge. Ich denke an die vielen Lachanfälle und irritierten Blicke meiner europäischen Couchsurfer*innen und Gäste, wenn sie das erste Mal die Toilette benutzen mussten. Oder wir ihnen mitteilen mussten, dass es mal wieder kein Wasser gäbe und deswegen Duschen nicht möglich sei. Und ich denke an all die Abende, die ich mit meinem Mitbewohner, der gleichzeitig auch mein Mitfreiwilliger war, in unserem Hof saß mit einem Glas Wein in der Hand, die Sterne betrachtend.
Ein Lächeln zeigt sich auf meinem Gesicht, während sich in meinem Kopf schon die nächsten Momente bereit machen. Meine Ankunft in Baku wird mir wieder bewusst. Die glitzernden Häuserfassaden der Hauptstadt Aserbaidschans erscheinen nun, in meiner Erinnerung, fast noch prachtvoller. Wie sehr war ich erstaunt, als ich nach meiner Ankunft in Aserbaidschan mit dem Taxi durch das nächtliche Baku fuhr. Alles war auf Hochglanz poliert und ich hatte mich kurzzeitig gefragt, ob ich nicht aus Versehen in Dubai gelandet war. Und dann der komplette Gegensatz, als die beleuchteten Häuser der Innenstadt von Baku im Rückspiegel verschwanden und Aserbaidschan das Auto mit einer Dunkelheit umschloss, die ich kaum kannte. Straßenlaternen waren weit und breit nicht zu sehen. Auch die Häuser lagen im Dunkeln. Erst mit Tagesanbruch konnte ich erkennen, dass diese Häuser nicht den Prachtbauten in Bakus Innenstadt ähnelten. Es waren einfache, graue Häuser mit Höfen, auf denen Hühner unter wehender Wäsche herum liefen. Und dann kommt auch schon die Erinnerung an meinen ersten Tag bei meiner Gastfamilie, bei der ich den ersten Monat meines Freiwilligendienstes wohnte. Ich war völlig erledigt von der Anreise und meinen Eindrücken und wollte eigentlich nur schlafen. Meine Gastmutter, allerdings, die sich so über meine Ankunft gefreut hatte, sah das etwas anders. Sie wollte gleich alles über mich am ersten Tag erfahren und mich ihren Nachhilfeschüler*innen vorstellen. An Schlaf war da nicht zu denken.
Überhaupt, denke ich an Aserbaidschan, legt sich eine große Müdigkeit über mich. Als wäre das Land eine Art Zaubermittel gegen Schlaflosigkeit. Dabei waren es die Eindrücke, die andere Sprache, die ich versucht habe zu lernen, damit ich kommunizieren konnte, die ständige Konzentration, um alles aufzunehmen und gleichzeitig nicht kulturell ‚falsch‘ zu handeln, die mich so müde gemacht haben. Und wahrscheinlich auch der endlos scheinende Winter, in dem die Kälte in jeden Knochen kroch und den letzten Hauch an Energie auch noch stahl. Ich sehe mich noch mit Schichten und Schichten von Klamotten und Decken im Bett liegend und mich fragend, wann dieser Winter denn vorübergehen würde. Und zur gleichen Zeit warteten wir, also mein Mitfreiwilliger und ich, noch auf unsere Aufenthaltsgenehmigung. Unser Visum war bereits abgelaufen und deswegen befanden wir uns im Duldungsstatus. Dieses Gefühl, vielleicht jederzeit das Land verlassen zu müssen, diese Unsicherheit, diese Zukunftsangst – dies alles setzt sich wieder in meiner Seele fest und ich frage mich, ob sich so Asylbewerber*innen fühlen. Und dann denke ich an Novruz, an den fast mehr als symbolischen Befreiungsschlag. Der Winter war vorbei. Die Kälte war weg. Und alles, was an schlechten Geistern noch übrig war, wurde mit Sprüngen übers Feuer vernichtet. Aserbaidschan lebte auf. Auf einmal war es ein anderes Land. Menschen lächelten und genossen ihr Leben. Die letzten Monate des harten Winters schienen vergessen. Nur ich blieb fragend zurück, warum denn nicht einfach ein ordentliches Heizungssystem aufgebaut werden könnte, damit der Winter nicht so erdrückend und Lebensfreude stehlend sein muss. Aber keiner wollte die Frage mehr hören. Jetzt war Frühling. Gleich darauf auch schon Sommer. Und da denkt mensch nunmal nicht an den harten Winter. Und nicht nur für Aserbaidschan war das Ende des Winters erfreulich. Auch für mich ging es wieder aufwärts, als meine Schwester für vier Wochen vorbei kam und wir mit dem Rucksack unendliche Stunden bei aserbaidschanischen Gastfamilien, europäischen Freiwilligen in Georgien und in den Überlandbussen, Marschrutka genannt, verbrachten. Fast immer lachend und begleitet von einem Stofftier, das alle Aserbaidschaner*innen verwundert zur Kenntnis nahmen. Auch unser Versuch, unseren stummen Begleiter als Kunstprojekt zu erklären, war irgendwie nicht erfolgreich.
Die Verwunderung der Aserbaidschaner*innen verwunderte mich hingegen gar nicht mehr. Zu sehr war ich schon daran gewöhnt, dass mich sowieso immer alle anstarren. Mit heller Haut, nicht braunen Augen und nicht schwarzen Haaren fiel ich generell immer auf. Mir war schon von Weitem anzusehen, dass ich nicht aserbaidschanisch bin. Ob ich nun ein Stofftier zu Fotozwecken aufstellte oder nicht, änderte am Anstarren daher wenig. Und manchmal fragte ich mich auch, ob mich nicht schon fast alle Menschen in Ganja kennen würden. Zum Internationalen Freiwilligentag war ich mit dem Chef meiner aserbaidschanischen Organisation beim lokalen Frühstücksfernsehen eingeladen und redete mit den Moderatorinnen über meine Freiwilligenarbeit und mein Leben in Aserbaidschan. Auch durfte ich dort meine Aserbaidschankenntnisse zur Schau stellen. Da ich wusste, wie lustig es alle finden, wenn ich aserbaidschanische Floskeln verwende, suchte ich mir eine aus. Auch die Moderatorinnen lachten herzlich über meine Aussage. Und von da an wurde ich oft mit dieser Floskel in aserbaidschanischen Haushalten begrüßt. Denn meine jeweiligen Gastgeber*innen hatten mich anscheinend alle im Fernsehen gesehen und fanden meine Aussage sehr erheitern.
Manchmal möchte ich auch versuchen meinen Entwicklungsprozess zu erklären. Meine veränderte Wahrnehmung. Ich möchte erklären, wie wütend ich am Anfang meines Freiwilligendientes war, wenn ich von Männern nicht begrüßt wurde. Ich fühlte mich komplett ignoriert, da sie sich nur mit meinem männlichen Mitfreiwilligen unterhielten. Oder ihn zumindest begrüßten. Es war mir egal, ob das aus Respekt mir gegenüber oder aus Ignoranz geschah. Ich war einfach nur verärgert. Und dann, am Ende meines Freiwilligendienstes, hatte sich meine Wahrnehmung dessen fast komplett geändert und ich war entrüstet, wenn mich fremde Männer einfach ansprachen anstatt den Weg über meinen männlichen Mitfreiwillgen zu gehen. Ich wunderte mich, wie sie auf die Idee kamen, mich direkt anzusprechen. Und dann muss ich schmunzeln, weil mensch es mir anscheinend auch nicht recht machen kann.
Aber woran ich am meisten denke, wenn ich versuche, meine Zeit in Aserbaidschan zu reflektieren, ist Tanzen. Egal welche Art von Tanzen. Immer. Ständig. Ich denke an meine Tanzeinlage auf einer Straße in Georgien mit meinem Mitfreiwilligen. Oder meine Salsaversuche mit meinem Mentor im Park in Ganja, während in der Nähe ein Konzert war. Und an meine vielen lustigen Stunden in meinem Tanzkurs. Wie schön war es, sich einfach nur zu bewegen und dabei ganz indirekt einen kulturellen Austausch zu haben. Meine aserbaidschanischen Tanzschüler*innen zeigten mir ihre Art zu tanzen und ich erklärte ihnen die verschiedenen Arten europäischen Tanzens. Von Walzer bis Salsa war da alles dabei. Und das Lachen der Schüler*innen klingt noch in meinen Ohren, wenn ich mit meinem Mitfreiwilligen mal wieder neue Tanzschritte auspropierte, wir uns aber nicht ganz einig waren. (Was meistens daran lag, dass er mich daran erinnern musste, dass der Mann beim Tanzen führt. Meine weiblichen Tanzschülerinnen fanden das sehr erheitern.) Auch eine kleine, etwa sieben Jahre alte Teilnehmerin meines Tanzkurses und die eine Tanzstunde, in der sie uns allen eine Choreografie zu Britney Spears‘ „Womanizer“ beibrachte, hat sich fest als Erinnerung geformt.
Und mein Besuch einer Hochzeit eine Woche vor meinem Abflug, in der ich die Anwesenden mit meinen kaukasischen Tanzversuchen beeindruckte und daraufhin das Tanzbein mit dem Bräutigam schwingen musste, wird wohl immer zu meinen schönsten Momenten im Kaukasus zählen.
Diese Momentaufnahmen strömen durch meinen Kopf und ich versuche auszuwählen, welche ich erzählen sollte. Oder vielleicht auch einen der tausend anderen kleinen und großen Eindrücke. Meine emotionalen Hochs und Tiefs, mein Prozess, mich an die neue Umgebung und Kultur zu gewöhnen, meine schwachen Momente, meine großen Glücksgefühle, meine Angst zu Versagen. Wie kann ich all diese Erfahrungen, Eindrücke und tiefen Emotionen in eine kurze Antwort bringen? Und während ich noch überlege, höre ich mich schon sagen: „Es war anstrengend. Aber es war es wert.“