Über Rollenwechsel, Anfangsschwierigkeiten und das Gefühl angekommen zu sein
Es ist fast schon seltsam zu realisieren, sich plötzlich zuhause zu fühlen in einem fremden Land. Für mich passierte das von einem Moment auf den anderen, von einem Tag auf den nächsten.
Gerade hatte ich noch darum gekämpft, mich in meiner Freiwilligen-Gruppe einzufinden und plötzlich fühle ich mich wie ein Teil von ihr. Gerade noch hatte ich mich in Debrecen verfahren und nun finde ich auch nachts von überall her den Weg zurück. Das leere WG-Zimmer ist mit Basilikum auf der Fensterbank, einer Menge persönlicher Fotos und meiner Lichterkette an der Bettkante zu meinem Zimmer geworden. Die ungarische Stadt voller fremder Begriffe und unbekannter Orte wird zu meinem Wohnort. Vieles ist einfach selbstverständlich geworden und vertraut, das Land und die Menschen, meine Aufgaben und meine Rolle. Es fühlt sich an, als wäre ich nun angekommen!
Mit der letzten Woche des Augusts hat nun nach fast einem Monat mein Arbeitsleben begonnen, was für das nächste Jahr meine Wochen dominieren wird. Eintönig und langweilig ist dies aber nicht, das ist mir ziemlich schnell klargeworden. Jede Woche stehen neue Events und Aufgaben an. Seminare und Camps bringen besonders viel Abwechslung mit sich, Tag für Tag lerne ich eine Menge Neues und wachse mit meinen Aufgaben. Schon in den ersten beiden Wochen, ist mir die Arbeit mit der Kamera und Photoshop viel vertrauter geworden. Die für mich sehr unverständliche Technik scheint immer weniger unverständlich und langsam kommt ein wenig Licht in die Sache, wie ich die Helligkeit beim Fotografieren regeln kann.
In der ersten Woche hatte aber noch alles ein wenig schleppend begonnen. An einem meiner ersten Events, zu dem ich Frederico begleitete, stand ich schließlich mit Kamera ohne Batterie da, aber das passiert mir so schnell nicht mehr. Und auch das Schloss in der Eingangstür werde ich nicht mehr zerstören, das ist mir schließlich schon längst passiert:D. Nach diesen Anfangsschwierigkeiten konnte nur noch alles besser werden. Anfangsschwierigkeiten sind nämlich total normal, aber alle diese haben dann auch irgendwann ein Ende!
Chiaras Abschlussparty bedeutete für sie ein Ende, für mich aber einen neuen Anfang. Während sie die Freiwilligengruppe verließ, betrat ich sie nun immer mehr. Da ich Chiara als einen super lieben Menschen kennengelernt habe, ist es schade, dass sie ging. Von mir begann nun aber zunehmend die Rolle der stummen Neuen, die etwas überfordert von der komplett neuen Situation ist, ab zu bröckeln.
Am Freitag stand für mich wie selbstverständlich die Bike Maffia auf dem Plan und ich brachte Patrick dorthin mit. Jetzt war ich dort nicht mehr neu, sondern die, die sich auskannte. Bis spät in die Nacht nahm ich an meinem zweiten Night Ride teil und lernte noch mehr Ecken von Debrecen im Dunkeln kennen, bis wir schließlich an der Universität hielten und unseren Abend mit Musik und witzigen Unterhaltungen ausklingen ließen. Auch den nächsten Tag habe ich beim Kleiderspendensortieren und Essenverteilen auf dem Fahrrad und in der Bike Maffia verbracht und am Sonntag habe ich meine Mitfreiwilligen zum Maultaschenessen eingeladen. Es ist ziemlich schwer, ein deutsches Rezept in Ungarn umzusetzen und ich wusste echt nicht, dass man so viel beim Mehlkaufen falsch machen kann. (Patrick, der mir half, und ich haben versehentlich Gries gekauft, weil Google diesen als „Weizenbeerenmehl“ übersetzt hat:D) Letztendlich hatte ich aber Maultaschen, die nach Zuhause schmeckten und gleichzeitig habe ich mich hier ein wenig mehr Zuhause gefühlt.
Mit dem Montag fiel dann alles, was von meiner Rolle als die Neue noch übriggeblieben war, endgültig von mir ab. Wir haben einen neuen Freiwilligen empfangen, Juha aus Finnland. Zwei Tage später wurde mit Ellie aus Großbritannien unsere Gruppe komplett. Auf einmal konnte ich den Beiden erste Tipps aus Debrecen verraten und sie durch die Stadt führen, es fühlte sich an wie ein Rollentausch. Die Anderen waren jetzt die Neuen. Das traditionelle Pizzaessen zur Begrüßung war nun nicht mehr für mich. Ich hatte den Platz gewechselt und fühlte mich kaum mehr überfordert. Stattdessen fühlte ich mich verdammt wohl. Zwischen mein Fremdfühlen und mein Heimweh schleicht sich nun langsam ein Gefühl vom Angekommensein und bringt einen Haufen guter Laune, Kraft und neue Motivation mit sich. Die nächsten Tage schienen nur so dahin zu fliegen. Arbeit ungarisch lernen und gute Gespräche mit neuen und „alten“ Freiwilligen wechselten sich steht’s ab. Und wenn mir das Englischreden einfach mal zu viel wurde, konnte ich mich darauf verlassen, bei Tizian, Patrick oder auch bei Elisabeth ein offenes Ohr zu finden. Bekanntschaften werden zu Freundschaften. Meine oft negative Einstellung der ersten Wochen wandelt sich in neuen vorsichtigen Optimismus und ich bin so viel unterwegs, wie ich nur kann. Ich fange an, meine neue Rolle hier immer mehr anzunehmen. Es wird mir immer klarer, warum ich hier bin und was ich hier will. Ich will lernen, genau solche Schwierigkeiten zu überwinden, die ich nun zunehmend überwinde. Ich kann Schritt für Schritt ungarische Speisenkarten immer besser übersetzen und stolpere steht’s über ein paar Wörter in Gesprächen auf Ungarisch, die ich tatsächlich verstehe (Ok, es sind meistens nur Zahlen oder Schimpfwörter, so dass das nicht bedeutet, dass ich auch den Sinn des Gespräches verstehe, aber jeder fängt mal klein an:D). Bei einer Karaoke-Party am Freitag haben Tizian und ich begeistert ein ungarisches Lied wiedererkannt und mitgesungen. Auch wenn wohl nicht unbedingt jedes Wort richtig klang, ich fühlte mich da schon ziemlich Ungarisch:D.
In unserer Gruppe von Freiwilligen, in meiner Arbeit und in Ungarn fühle ich mich jeden Tag mehr am richtigen Platz. Vor einem Monat hatte ich noch das Gefühl, das Fremdsein nie überwinden zu können, aber die Zeit hat mir das Gegenteil bewiesen! Ich bin nun hier in meinem neuen Land, mit meinen neuen Freunden, in meinem neuen Leben. Ich weiß, dass das Jahr, was auf mich zukommt nicht einfach werden wird, aber das Schwerste, den Anfang, den habe ich nun überwunden. Heimweh wird an mir zerren und tut es jetzt schon. Meine Familie und meine besten Freunde machen es mir nicht leicht hierzubleiben. Besonders, da mein Freund dort ist, zieht es mich oft nach Hause. Er fehlt mir sehr und das wird sich wohl nicht ändern, egal wie wohl ich mich hier fühle, das kann ich nicht leugnen. Auch die Sprachbarriere wird immer wieder zu einem Problem werden.
Aber, und das steht nun fest, trotzdem gehöre ich jetzt für diese Zeit genau hier hin und nirgendwo anders! Ich freue mich auf elf weitere spannende, abenteuerreiche, turbulente Monate voller neuer Aufgaben und Erfahrungen und bin gespannt, was mir mein Auslandsjahr noch so alles bieten wird:).