Tschchsch
Erste Gehversuche in einer Sprache, in der „Strč prst skrz krk“ ein korrekter und vollständiger Satz ist.
Man fragt sich zuweilen, was sich unsere Vorfahren aus lang vergangenen Zeiten gedacht haben, als sie Dingen Namen gaben. „Wie nennen wir diese Sprache? Am besten als eine Aneinanderreihung dessen, als was sie uns erscheint: als unverständliches Zischen.“ Schon hat man „Tschechisch“, die Sprache, beziehungsweise „tschechisch“, das Adjektiv. Die Dreistigkeit, einen Digraph (ch) und zwei Trigraphen (sch) in ein einziges Wort zu packen, das außer diesen Lauten nur noch drei andere Buchstaben besitzt, ist kaum zu überbieten. Im Titel sehen Sie, wie das Wort ohne seine Vokale aussieht. Einsam, nicht?
Nun ist die tschechische Sprache voll von stimmlosen postalveolaren Spiranten, wie man Zischlaute in der Linguistik bezeichnet. Das habe ich schon in den ersten Tagen in Tschechien bemerkt.
Jedoch in der Lage zu sein, ein deutsches Wort zu schaffen, dessen korrekte Aussprache selbst Tschechen zur Verzweiflung treibt, ist eine Leistung. Meist ist es nämlich anders herum. In den ersten Wochen konnte ich mit diesen seltsamen Haken, Kreisen und diagonalen Strichen nichts anfangen. Á, Č, Ď, É, Ě, Í, Ň, Ó, Ř, Š, Ť, Ú, Ů, Ý, Ž und wie sie alle heißen. Ich meine, die Akzente kannte ich ja schon aus dem Französischen. Selbst der eigenartige accent circonflexe, auch „Marlboro-Dach“ genannt, war etabliert. Doch nun traf ich auf dessen invertierte Version, ebenfalls ein diakritisches Zeichen, das jedoch die Aussprache komplett verändert.
Eine Umstellung ist nötig. Als Deutscher gibt es ein paar typische Fehler, die man üblicherweise macht:
1. „C“ und „K“ zusammen aussprechen.
Statt in Verbindung mit dem „K“ auf einen kurzen vorangegangen Selbstlaut hinzuweisen, wird das „C“ im Tschechischen als einzelner Buchstabe ausgesprochen. Früher fragte ich mich immer, warum man Marcel Reich-Ranickis Name mit einem „itski“ am Ende ausspricht, dann aber nicht etwa „Karnitskel“ sagt. Ich empfand das immer als Doppelmoral, als Inkonsequenz und Uneindeutigkeit in einer Sprache, die diese sonst wo es geht umgeht. Nun hat Herr Reich-Ranicki polnische Wurzeln. In Polen ähneln die Ausspracheregeln den Tschechischen. Das also war des Pudels Kern! Mittlerweile ist man es gewohnt und muss bei deutschen Wörtern mit „ck“ zweimal hinschauen, wenn man sie vorliest.
2. Das „R“ nicht rollen.
Das deutsche Zäpfchen-R [ʁ] klingt völlig anders als das tschechische. Es entsteht am Gaumenzäpfchen und wird nicht mit der Zunge erzeugt. Man muss die Aussprache durch Üben erlernen, denn es ist ein Laut, den man als durchschnittlicher Deutscher vorher nicht benutzt hat. Im Fränkischen kennt man es durchaus, doch Tschechisch ist eine andere Liga. Wenn Tschechen Fremdsprachen lernen, haben sie übrigens das gleiche Problem, nur umgekehrt
3. Das „Z“ als „Z“ aussprechen.
Zwei Buchstaben, die identisch aussehen, aber anders ausgesprochen werden. Das tschechische „Z“ wird als „S“ ausgesprochen. Jetzt werden Sie sich fragen, warum die Tschechen dann überhaupt noch ein „S“ in ihrer Sprache haben. Das ist eine Frage, die auch ich mir fast täglich stelle und für die ich noch keine Antwort parat habe. Ich habe mich mit ein paar Tschechen darüber unterhalten und diese bestehen alle darauf, dass ein phonetischer Unterschied besteht, wenn gleich sie mir nicht verdeutlichen konnten, wo dieser liegt. Jedenfalls ist das relativ verwirrend, wenn es einem keiner erklärt. In der Schule kam es öfter zu seltsamen Situationen, wenn ein „Z“ involviert war. Ich erzählte etwa von meinem Ausflug zur Schneekoppe, auf Tschechisch: Sněžka. Damals sprach ich noch frei nach Gefühl und dem, was ich kannte. Doch weder Deutsch noch alle anderen Fremdsprachen, die ich beherrschte, konnten mir bei der Aussprache assistieren, warum ich immerzu „Snetschka“ sagte. Die Lehrerin, die mit im Raum war, übersetzte Teile meiner Ausführungen, die auf Englisch stattfanden. Jedoch war stets von einer „Snjeschka“ die Rede, was ich damals als Kuriosität seitens der Lehrerin einordnete. Als dann aber immer mehr Leute begannen, den Berg als „Snjeschka“ zu bezeichnen, kamen langsam Zweifel an meinen abstrusen Theorien auf. Ich ging der Sache nach und stellte erstaunt und viel zu spät fest, dass das „ě“ als „je“ und das „ž“ als „sch“ und nicht als „tsch“ ausgesprochen wird. Aus solchen Fehlern lernt man.
Eines der wenigen Dinge, die die tschechische und die deutsche Sprache gemein haben, ist der gemeinsame Ursprung: der indogermanische Sprachstamm. Etwa zur gleichen Zeit haben sie sich geteilt und gingen getrennter Wege. Der eine gründete den Ast der balto-slawischen Sprachen und der andere den der germanischen. Seitdem ist viel passiert. Die Ursprachen haben sich ausdifferenziert und weisen heute so gut wie keine Gemeinsamkeiten mehr auf. Eher ist von einer deutschen Späteinwirkung zu sprechen, die sich heute darin zeigt, dass viele deutschen Wörter ihren Weg in die tschechische Sprache gefunden haben. Entdeckt man diese Germanismen im Alltag, ist es umso lustiger.
Beim Schwimmen etwa: Einmal in der Woche gebe ich Erst- bis Fünftklässlern Schwimmunterricht, was, wie Sie sich vorstellen können, mehr schlecht als recht funktioniert. Doch die Sprachbarriere hat auch ihre Vorteile. So kommt es zu unerwartet lustigen Situationen. Ich wollte den Kindern sagen, dass wir jetzt tauchen und sie deshalb ihre Schwimmbrille aufsetzen sollen. „Naše brýle?“ Das Ypsilon wird in Tschechien wie ein „i“ ausgesprochen. Rollen Sie einfach das „R“ in „Brille“ und Sie haben in etwa das, was man auch in Tschechien sagt. Und da hört es noch lange nicht auf. Das Tschechische hat eine lange Geschichte im Übernehmen deutscher Wörter. Dem Theologen Jan Hus ging das bereits 1472 zu weit, sodass er heftige Kritik an dieser Praxis übte. Das konnte die Bevölkerung jedoch nicht davon abhalten, unzählige deutsche Wörter aufzugreifen. Mit dem Filzstift herumgespielt? Dann hat man einen „flek“. Meine Mitbewohnerin war in Mailand auf Kurzurlaub. Leider war ihr Telefon nach der Zeit dort jedoch „fuč“, was man nur versteht, wenn man weiß, dass das tschechische „č“ wie „tsch“ ausgesprochen wird.
Selbst in die Politik haben es die deutschen Begriffe geschafft. Zwar “eingetschechischt“, aber dennoch erkennbar. Václav Havel war kein Politiker, der für seine vulgäre Sprache bekannt war. Er bediente sich der Germanismen strategischer. So sprach er sich gegen Gleichschaltung aus, indem er das Wort „glajchšaltace“ benutzte. Seinen Kontrahenten Václav Klaus bezeichnete er zudem als einen „oberkašpar“. Der schoss jedoch zurück und nannte Havel einen „lump“. Es liegt eine gewisse Komik darin. Als Ermunterung beim Lernen sind diese Besonderheiten jedenfalls perfekt. Die Materie an sich ist recht trocken, da erfrischt es, ab und zu auf Eigenarten zu stoßen, von denen es in dieser Sprache unbestreitbar noch unzählige unentdeckte gibt.