The Master of Desaster
...oder wie ich die "Woche der Enttäuschung" überlebte.
Wie man vielleicht an meinem Titel merkt, war die letzte Woche nicht besonders erfreulich, weshalb ich am liebsten gar nicht darüber geschrieben hätte. Warum ich mich umentschied? Meine Antwort lest ihr in den folgenden Zeilen...
Dienstag wartete mal wieder eine Premiere auf mich. Nachdem ich nun einen Monat lang ein Schonungsprogramm durchlaufen bin und stets in der Tagesgruppe nur ausgeholfen habe, wurden meine Fähigkeiten diesen Dienstag besonders gefordert. Anstatt „nur“ mit den Senioren zu spielen, ihnen zuzuhören, sie zum Essen zu geleiten, Tassen zu spülen und für neuen Kaffee zu sorgen, hieß es nun: eine Stunde GESTALTEN. Ganz allein. Auf Polnisch. Haha! Und ich habe mich wirklich angestrengt. Da ich noch nie in meinem Leben mit Demenzkranken gearbeitet habe, recherchierte ich erst einmal ausführlich. Was kann man alles so mit Senioren mit Demenz machen? Ich fand verschiedenste Seiten, die wärmstens empfahlen Dinge vorzubereiten, die die Erinnerungen der Senioren an alte Zeiten wach werden ließen. Alte Bilder ansehen, Lieder aus früheren Zeiten hören, Witze oder Sprichwörter vorlesen...alles Dinge, die mir als Ausländer nicht oder nur schwer möglich sind. Außerdem machten die Betreuer all das bereits mit den Senioren. Ich hatte den Anspruch an mich selbst, etwas Besonderes vorzubereiten, etwas, was die Betreuer bis jetzt noch nicht gemacht hatten. Aber ich war mit keiner Idee zufrieden, die im Internet vorgestellt wurde. Sie waren mir zu simpel oder zu langweilig oder eben für mich zu schwer auf Polnisch. Einen Tag vorher musste ich dann aber eine Entscheidung treffen.
Ich schreibe gerne Gedichte. Früher habe ich das wesentlich mehr gemacht als jetzt, aber ich muss dringend mal wieder damit anfangen. Wie ich jetzt darauf komme? Nun, ich wollte mit den Senioren ein Gedicht über den Herbst schreiben. Aufgrund ihrer Demenz wählte ich die leichteste Form, die mir einfiel und das war das in Deutschland denke ich allerseits bekannte „Elfchen“. (Ein Gedicht, bestehend aus elf Wörtern. Es reimt sich nicht, hat aber ein bestimmtes System, nachdem man die einzelnen Wörter für die verschiedenen Zeilen wählt. Es hat ein Thema, dieses wird genauer beschrieben, eigene Gedanken fließen ein und am Ende gibt es ein Wort als Fazit.) Ich hatte das damals in der Grundschule und ich weiß, dass es sehr viele andere in meinem Alter auch in der Grundschule hatten und aus irgendeinem Grund hoffte ich, dass die Senioren es ebenfalls kannten. Diese Form des Gedichts wollte ich ihnen also kurz erklären, sie sollten ein eigenes Gedicht verfassen und es dann schön auf ein Blatt Papier schreiben und dieses dann verzieren. Ich hatte dafür extra bunte Herbstblätter gesammelt. So der Plan.
Also ging ich am darauffolgenden Tag mit einer Gefühlsmischung aus Nervosität und Vorfreude an die Sache heran. Die Grundstruktur schrieb ich auf eine Tafel. Ich fing an, zu erklären: "Die erste Zeile soll das Thema darstellen und man darf nur ein Wort dafür verwenden..." Verdatterte Gesichter blickten mir entgegen: „Ein Wort? Warum denn nur ein Wort? Warum denn nur elf Wörter? Was macht das für einen Sinn? Welches Wort soll ich den aufschreiben? Was ist das denn für ein komisches Gedicht? Das reimt sich doch gar nicht!“, tönte es von allen Seiten des Raumes. Die Senioren waren verunsichert und verwirrt. Dank mangelnder Sprachkenntnisse konnte ich ihnen diese Fragen nicht beantworten. Die anderen Betreuer versuchten mir auszuhelfen. Magda lief zu den einzelnen Senioren, gab ihnen Wörter vor und ließ sie sie aufschreiben. Währenddessen kamen die anderen Betreuer immer wieder zu mir und flüsterten: „It is too hard for them. It is too hard!" Mir wurde ganz heiß, mein Kopf war mit Sicherheit feuerrot. „Es ist zu schwer für sie. Es ist zu schwer!“ Natürlich. Wie konnte ich Menschen, die sich beim Malen noch nicht einmal für eine Farbe entscheiden können, so eine Aufgabe stellen? Doch nun war es zu spät. Die Verwirrung hatte ihre Geister fest im Griff und ich musste ein wenig Sinn hineinbringen. Das Gedicht musste irgendwie fertig werden. Ich versuchte Lilla, der einzigen Deutschsprachigen Seniorin, das System zu erklären. Nachdem ich ihr einige Fragen beantwortet hatte, konnte sie mir folgen. Ich zog meinen Vortrag durch und Magda ließ die 7 Senioren von vielleicht 25, die ein Gedicht auf die Reihe bekommen hatten, vorlesen. Viele hatten die richtige Anzahl der Wörter nicht eingehalten. Und was eigentlich noch trauriger war: Die Gedichte waren sachlich oder negativ. Ein Beispiel: „Ich kenne den Herbst, er ist kalt und nass, ich mag den Herbst und den kalten Wind nicht, deshalb bleibe ich zuhause.“ Vielleicht war das unrealistisch, aber ich hatte mir erhofft, dass sie über die schönen bunten Blätter schreiben würden, das Kastanien-und Blättersammeln in der Kindheit, den Duft der Blätter, den frischen Wind...stattdessen war das Thema für sie nur eins: deprimierend. Und genau das sollte mein Beitrag nicht sein.
Ich kann es nicht anders sagen, ich war einfach hoffnungslos enttäuscht. Enttäuscht, vor allem von mir selbst. Ich las es später im Internet: "Senioren mit Demenz soll man einfache Aufgaben geben, um ihnen Erfolgserlebnisse zu schenken. Etwas neues zu lernen ist hier völlig fehl am Platz, da es die meisten überfordert und somit zu dem Gefühl: „Ich kann ja gar nichts mehr, ich bin ja so alt...“ führt." Das war ja ein Volltreffer, Leonie. Ich konnte meine negativen Gefühle nicht verbergen und isolierte mich etwas von der Gruppe. Und ich weiß nicht, wie ihr mit Enttäuschung umgeht, aber bei mir fängt dann ein Gedankenkreislauf an: „Leonie, das war jetzt echt blöd. Hättest Du das nicht ahnen können? Ich meine, so schwer kann das doch nicht sein, etwas für alte Menschen vorzubereiten? Mattis hat es doch auch geschafft! Warum warst du mit den Vorschlägen im Internet nicht zufrieden? ...“
Mit Kritik oder Rückschlägen klarkommen ist nicht gerade meine Stärke. Wohin bloß mit diesem schlechten Gefühl? In meinem Bauch machte es sich breit und ich konnte es so schnell nicht verdrängen. Ich bin eben keine Maschine, die immer optimal arbeitet. Ich habe Gefühle. Als mich Magda mich dann auch noch darauf ansprach, warum ich denn so traurig sei, stiegen mir doch Tränen in die Augen. Ich habe nicht geweint, aber sie hat es mit Sicherheit mitbekommen. Anstatt weiter auf meinem Fehler herum zu hacken, meinte sie, dass es doch gar nicht so schlecht war und ich nicht traurig sein soll. Sie erzählte mir, dass sie momentan selbst am Ende ihrer Nerven ist und gerade zu nach dem Wochenende lechzt. Ich war erstaunt und meinte, dass sie immer so stark wirkt. Das sei ihre Maske, meinte sie. "Diese Maske brauche ich auch.", sagte ich. Darauf lachte sie und ich war erleichtert, dass es mir nicht als einzige schlecht ging und sie mir meinen Fehler gewissermaßen verziehen hatte.
Doch das änderte nichts daran, dass ich den ganzen Tag schlechte Laune hatte. Zu allem Überfluss stand dann noch der Deutsch-Unterricht an. Meine Lieblingsaufgabe. Nicht. Danach war das Gefühl immer noch nicht weg. Also machte ich mir Musik an, ich sang dazu. Ich schrieb mir eine Liste, was mir gegen meine Enttäuschung hilft. Ich ging spazieren. Ich skypte mit Menschen, die ich gern habe. Reden ist immer gut. Beten ist immer gut. Sport ist immer gut. Auch das Schreiben hilft mir gegen die Enttäuschung anzugehen. Außerdem habe ich im Internet recherchiert, wie man mit Senioren umgehen sollte und dabei einiges dazu gelernt. Und das ist es. Fehler sind zum lernen da. Man könnte sogar sagen: Nur, wenn wir „Fehler“ machen, können wir daraus lernen. Also: Habe Mut zum Scheitern!
Doch Woche war noch nicht vorbei. Sie war sehr anstrengend für mich und ich war ständig müde. Meine Hoffnung auf ein schönes Wochenende ließen die Tage vorbeigehen. Am Freitag hatte mich Marcel auf eine Party eingeladen. Doch schon Freitagmorgen wachte ich mit einem schmerzenden Kopf auf und abends kam dann noch Übelkeit dazu. Also sagte ich ihm ab. Er war davon nicht besonders begeistert und sagte mir halb im Spaß halb im Ernst, dass ich ja „langweilig“ sei. Genau das habe ich in diesem Moment gebraucht. Danke Marcel.
Und die nächste Katastrophe machte sich auf den Weg, um mir mein Leben schwer zu machen... Schon seit Wochen freute ich mich auf ein Treffen mit anderen internationalen Freiwilligen in Breslau. Der Spanier, den ich auf dem „Friday-Travel-Meeting“ getroffen hatte, wollte einen Karaoke-Bar-Treffen am Samstag organisieren. Ich hatte noch zwei neue Freiwillige aus der Diakonie (Adam und Freya) sowie Mattis eingeladen. Doch als ich Alberto am Freitagabend nach der Uhrzeit fragte, meinte er, dass sie geplant hatten zu einem Fußballspiel zu gehen und das ihnen ja heute besser passen würde. Na danke. Heute geht es mir schlecht, das geht nicht. Doch ich wollte nicht aufgeben. Menschen aus anderen Ländern sind eben spontaner mit An-und Absagen, also werde ich jetzt nicht eingeschnappt sein, sondern spontan darauf reagieren und sie nach dem Fußball zu uns einladen. Jeder bringt was mit und fertig ist die Party. Yeah, von wegen ich bin langweilig.
Am Samstag Nachmittag kam dann die Antwort: Das ginge nicht, sie müssten am Tag danach früh aufstehen, da sie einen Ausflug machen wollten. Na wunderbar. Doch ich wollte die Enttäuschung immer noch nicht siegen lassen. Also hoffte ich auf die anderen zwei Freiwilligen aus der Diakonie. Der eine (Adam) antwortete mir nicht, bis er mir abends schrieb, dass er ja nicht trinken würde und deshalb nicht kommt. Okay...warum hat er mir das nicht einfach gesagt?! Denkt er wir sind Säufer? Scheinbar. Als ich der anderen Freiwilligen (Freya) schon ganz verzweifelt schrieb, dass wir ja einen Mädelsabend zu zweit machen könnten mit Eis und netten Filmen, antwortete sie mir, dass ihre Eltern ja da seien und dass sie ja doch lieber etwas mit denen machen wolle.
Ich war wütend. Und traurig. Und...enttäuscht. Ich fing an zu kochen. Also wirklich jetzt, ich habe gekocht und zwar eine Reis-Gemüse-Pfanne. Ich musste einfach irgendetwas aus diesem schlechten Tag machen, was gut ist. Und Essen ist gut. Abends skypte ich noch mit meinem Bruder, was mir wieder etwas Kraft gab. Momentan muss ich echt sagen, dass ich meine Freunde und meine Familie vermisse und die Deutschen generell zu schätzen lerne...für ihre Zuverlässigkeit.
Am Sonntag war ich mit Mattis auf einem Flohmarkt am alten Bahnhof. Er war wirklich riesig. Einerseits gab es viele Stände mit Klamotten, auch mit neuen Produkten. Andererseits waren dort auch viele Menschen, die wirklich arm aussahen und alte Bauteile, Werkzeug, gebrauchte Klamotten, uralte Telefone, alte Bücher, scheinbar alles was sie entbehren konnten, verkauften. Das brachte mich auch wieder auf den Gedanken, wie dankbar ich für alles hier sein kann, was ich habe. Es ist so ein Luxus-Problem, mal ein misslungenes Wochenende zu haben oder mal einen Fehler zu machen.
Zuhause begegnete ich dann Marcel in der Küche. Obwohl ich eigentliche keine Lust darauf hatte, mich zu unterhalten, fragte ich ihn, wie denn das Fußball-Spiel war. Seine Antwort lautete „langweilig“. Er fragte mich, warum wir denn doch keine Gäste hatten am Samstag und ich entschied mich, mich ihm zu öffnen: „Also ehrlich gesagt, war meine ganze Woche ziemlich bescheiden.“ Ich erzählte ihm nur von dem misslungenen Freiwilligentreffen und dass Freya lieber mit ihren Eltern etwas machen wollte, als mit mir. Da meinte er zu mir, dass ich ja zu viel von ihr gewollt hätte. Hä? Ja, ich hätte ja einen Netflix-Abend gewollt und so etwas sei ja seeeehr intim und danach folge ja meistens Sex. Sie hat natürlich gedacht, dass ich lesbisch bin! Aha! Ich stieg in die Ironie mit ein und stimmte ihm zu, ich war da vielleicht etwas zu sehr auf Sex aus. Nächstes Mal lasse ich Marcel eine Aktivität für uns vorschlagen, die weniger sexuell endet. Lesson learned. :D Er erzählte mir daraufhin, dass er sich diese Woche auch sehr über einen spontanen und naiven Kumpel geärgert hat...und so teilten wir die Enttäuschung und unseren Ärger gemeinsam. Geteiltes Leid ist eben halbes Leid...
Die nächste Woche werde ich mit anderen EFD-Freiwilligen auf einem Seminar in Warschau verbringen. Diese Abwechslung kommt für mich gerade wie gerufen. Hoffentlich werde ich dort viele tolle Menschen kennenlernen, mit denen ich mich treffen, reisen und feiern kann. Und bald könnt ihr dann auch hoffentlich davon lesen. Bis dann! :)
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