Tage wie diese – Tag 5
An den großen Hindernissen ist man vorbei – es geht tatsächlich auf das Ende zu. Ein Tag noch voller Wettkampfgeist, Berge und Kraft.
Nun, da diese Pflicht erfolgreich abgeschlossen war, konnte ich mir mein Müsli mit Beerenjoghurt schmecken lassen. Im Magen dabei stets ein flaues Gefühl. Das habe ich immer nach dem Laufen. Hat nichts mit den Innereien zu tun und Magenkrebs wie bei Walter Faber aus Max Frischs Roman „Homo faber“ ist es hoffentlich auch nicht, sondern es ist einfach nur die Bauchmuskulatur, die sich meldet. Bei Frisch heißt es, dass es nicht schlimm, nicht schmerzhaft, nur ein blödes Gefühl sei. „(...) ich spürte nur, daß man einen Magen hat (...)“. Ein seltsames Gefühl, doch kaum von Dauer.
Ich nehme mir noch eine dieser typisch tschechischen Brötchenrollen. Kann man sich vom Format her vorstellen wie eine Laugenstange, bloß aus einem anderen Teig. Schwer zu beschreiben. Wie ein Tafelbrötchen in etwa. Oben drauf kommen dann Mohn und Kümmel. Das Brötchen allein ist relativ trocken, deshalb kommt eine Schicht Meggle-Butter darauf. Die einzelnen kleinen Päckchen haben alle deutsche Aufschrift. Mich darauf hingewiesen hat noch keiner. Scheinbar sind die Tschechen daran gewöhnt. Gerade in “deutschen“ Einkaufsläden wie Kaufland oder Penny, die auch hier in Tschechien vertreten sind, findet man andauernd Produkte, die einem nicht nur als solche bekannt vorkommen, sondern eben auch noch das deutschsprachige Etikett haben. In Polen ist das anders. Während bereits die ganze Landespolitik in Richtung Nationalismus strebt, macht sich das ebenfalls im Supermarkt bemerkbar. Bei meinen bisherigen Exkursionen habe ich kaum ein deutsches Produkt gefunden. Und erst recht keines mit deutscher Aufschrift. Tschechien ist da etwas offener und hat sich scheinbar damit abgefunden, nicht vollkommen von seiner Muttersprache umgeben zu sein, wenn es im Supermarkt ist. Mit Deutschland kann man es schlecht vergleichen, da der Markt eine ganz andere Dimension hat. Ist man damit aufgewachsen, wird man vermutlich kaum noch aufblicken, wenn man wieder ein deutsches Produkt in Händen hält. Zudem hinzu kommt, dass deutsche Waren in Tschechien hoch angesehen sind. Ob Mercedes-Benz oder Meggle-Butter – man weiß zu gefallen.
Mal wieder steht um neun Uhr Sport an. Vollstopfen darf ich mich deshalb nicht. Anders als in der Vergangenheit nutzen wir an diesem Tag den Nachmittag, um Fahrrad zu fahren. Für den Morgen ist etwas anderes geplant. Wir veranstalten eine zweite Runde des Sportturniers. Wieder in der gleichen Mannschaft und gegen die gleichen Gegner. Wir beginnen mit Mintonette. Heute steht auch mal die Sportlehrerin dabei und erklärt die Regeln. Auf Tschechisch natürlich, doch ganz auf den Kopf gefallen bin ich ja auch nicht. Ich verstehe in etwa, was sie sagen will. Die andere Mannschaft macht es uns nicht gerade schwer. Wir gewinnen mit einem Endergebnis von 22 zu 5. Nun geht es aber zum Tischtennis. So langsam kommt auch bei mir das Gefühl zurück. Ein großer Tischtennisspieler war ich ja noch nie, man frage nur mal meine Eltern, die aus mir erfolglos einen Spielpartner machen wollten, doch diesmal machte es tatsächlich Spaß. Da konsequent Spieler unserer Mannschaft gewannen, durften wir stets den Aufschlag machen und weil ich in der Reihenfolge der erste war, stand dieses Recht jedes Mal mir zu. Also ein schneller, niederer Aufschlag und ab nach vorne. Gewohnheitsgemäß hat die andere Mannschaft den Ball nicht bekommen, sodass es wieder einen Aufschlag gibt. Diesen hat immer die Seite des Tisches zu machen, die in der Überzahl ist. Bei Gleichstand spricht man sich ab. Also ein neuer Aufschlag, ein paar Ballwechsel, nach erfolgreichem Spiel darf man auf die andere Seite, und schon bin ich an der Reihe. Gut, gerade noch die Kurve gekriegt. Dann ab auf die andere Seite. Wieder kommt ein Ball. Noch in Bewegung, muss man diesen irgendwie auf die andere Seite befördern. So geht das mehrere Spielrunden lang. Am Ende konnte ich immerhin ein Spiel für mich entscheiden, nachdem ich bestimmt fünfmal ins Halbfinale und dreimal bis ins Finale gekommen bin. Das Tischtennisspiel war mit Sicherheit das spaßigste aller Spiele. Nun mussten wir wieder hinaus, um Korfball zu spielen. Langsam kenne ich die Regeln. Bekommt die andere Mannschaft den Ball, muss sie diesen erst hinter eine Markierung befördern, wo im besten Falle ein Mitspieler wartet. Da die andere Mannschaft seltsamerweise nur aus drei Leuten besteht, setze ich erstmal aus. Große Gedanken über Taktik braucht man sich bei diesem Spiel nicht zu machen. Dann endlich meine Einwechslung. Den Korb treffe ich nur zweimal. Fünfmal geht der Ball daneben. Aber ich habe ja noch Mitspieler, die treffsicherer sind, sodass dann doch jeder seine Rolle hat. Ich bin für die Ballgewinnung zuständig, was in Anbetracht der Größenunterschiede wirklich ein wenig unfair ist, die anderen werfen dann die Körbe. Fünfzehn Minuten geht jedes Spiel. Dann wird gewechselt. Für meine Mannschaft bedeutet das, dass wir nun ein Wurfscheibenspiel spielen. Es geht im Grunde darum, die Scheibe in das “Tor“ der anderen zu bringen. Das „Tor“ ist dabei lediglich ein Gummiring, der auf der Wiese liegt. Zielgenaues Werfen ist dabei nicht so wichtig. Stattdessen muss man schnell und taktisch abspielen. Der letzte Spielzug besteht aus dem Zuwerfen der Scheibe zum Mitspieler, welcher am nächsten zum Ring steht. Heute macht es uns die andere Mannschaft nicht leicht. Ich weiß ja nicht, was in den letzten paar Tagen mit ihnen passiert ist, aber plötzlich sind sie richtig gut. Als der nächste Spielwechsel ansteht, steht es gerade acht zu acht. Wenigstens haben wir nicht verloren. Mit dem Ergebnis können wir zufrieden sein. Die andere Mannschaft war wirklich mehrmals nahe dran, zu gewinnen. Als letztes Pflichtspiel steht Tennis an. Die Sonne blendet uns, sodass wir den Ball kaum sehen und Runde um Runde verlieren. Dann der Seitenwechsel. Nun ist der Spieß umgedreht. Wir gewinnen die Runde zu null gegen die anderen zwei Spieler, die sichtlich erstaunt sind. Wirklich anstrengen tut sich jedoch keiner. Wir haben unseren Spaß und spielen das Spiel eben noch zu Ende, ohne aber wirklich ernst bei der Sache zu sein. Dann endlich die Pause. Viel Zeit ist nicht, man kann kurz etwas trinken, dann geht es aber auch schon weiter. Nun sei die „leisure time“, teilt mir Jarda mit. Freizeit also. Statt auf der faulen Haut zu sitzen, wie die gestern neu angekommenen Kinder, nutzen wir diese, um weiterhin Sport zu treiben. Jedes Kind dürfe selbst entscheiden, wie es seine Zeit nutzen wolle, führt Jarda weiter aus. Ich schließe mich der Korfball-Truppe an. Der Korb ist nun auf der offiziellen Höhe für Junioren und Erwachsene. Die Hanglage erleichtert das Treffen nicht. Aus unterschiedlicher Entfernung werfen wir abwechselnd. Die Trefferquote nimmt stetig ab, je weiter wir uns entfernen. Um zwölf Uhr werden alle herbeigerufen, da es nun Essen gibt. Für den Nachmittag ist das große Radrennen geplant, daher esse ich mal wieder nur so viel wie nötig, so wenig wie möglich. Um 14:00 Uhr war geplant, sich vor dem Haus zu treffen. Um 14:15 Uhr dann die geplante Abfahrt. Fast anderthalb Stunden Pause, da lässt sich doch bestimmt Zeit für ein Schläfchen finden. Zur Sicherheit stelle ich drei verschiedene Wecker. Nicht, dass es wieder so wie gestern endet. Diese drei Wecker werde ich auch nötig haben, denn wieder verwende ich die perfekt abdichtenden Ohrstöpsel. Im Zimmer nebenan toben die Kinder, deshalb kapsele ich mich auf diese Art und Weise erst einmal von der lauten Außenwelt ab. Zu meinem Erstaunen wache ich zwei Minuten bevor der erste Wecker klingeln würde auf. Als erstes wieder alle Wecker deaktivieren, um kein Alarmorchester zu starten. Um wieder die Trägheit loszuwerden, tippe ich ein wenig auf dem Mobiltelefon herum und packe meinen Rucksack für das bevorstehende Rennen. Entgegen meiner Erwartungen fahre ich nicht als Teilnehmer mit, sondern helfe den Lehrern, indem ich den Kindern an einer Schlüsselstelle den Weg weise. Die Strecke befindet sich wieder dreißig Minuten in Richtung Adlergebirge. Den ersten Teil der Strecke sind wir schon gefahren, doch ging es an einer bestimmten Stelle links und nicht rechts. Dort sollte ich stehen. Als wir am Start ankommen, machen sich die Kinder bereits bereit für das Rennen. Manch einer pumpt nochmal den Reifen auf, andere richten sich musikalisch ein. Das Musikwiedergabegerät haben sie im Rucksack, zu ihren Ohren führt ein Kabel. Ein paar der Kinder befestigen die Kopfhörer mit einem Streifen Klebeband an ihrem Ohr. So fallen sie bei der Fahrt nicht heraus. Was ich so an Musik aufschnappe, ist interessant. Relativ aggressive Musik. Die Kinder sind konzentriert und entschlossenen Blickes wie Michael Phelps vor einem seiner Wettkämpfe. Nur zur Erinnerung: die sind alle zwischen 12 und 13 Jahren alt. Ein ungewöhnliches Bild. Allerdings finde ich es bewundernswert, wie überzeugt und motiviert die Kinder sind. Während in Deutschland Diskussionen über Teilnehmerurkunden bei den Bundesjugendspielen von um das Wohl ihrer Kinder besorgten Müttern losgetreten werden, scheint die Welt in Tschechien noch in Ordnung zu sein. Der Sport spielt – besonders an der Plhov-Schule – eine große Rolle, was ich im höchsten Maße wertschätze. Während dieser Woche wurde mir klar, dass ich kein besseres Projekt hätte erwischen können. An der Plhov-Schule bin ich wunderbar aufgehoben. Man ist unter Gleichgesinnten, wo der undankbare Sport wertgeschätzt wird, redet nicht über Videospiele, sondern über Rundenzeiten.
Als erstes starten die Mädchen. Von da an wird minutiös gestartet. Es gibt keinen Massenstart. So kann jeder sein eigenes Tempo fahren und ist nicht dauernd abgelenkt durch Freunde oder sportliche Kontrahenten. Nachdem die ersten vier Leute gestartet sind, fahren auch David, Jarda und ich los. Die beiden sind ganz schön flink, während ich bereits die Laufeinheit am Morgen spüre. Immer schwerer werden die Beine. Sie wollen nicht mehr. Von Zeit zu Zeit stehe ich vom Sattel auf und setze den Lenker zusätzlich ein, um leichter den Berg hochzukommen. Da wären wieder meine Handgelenke. Allerdings haben diese auch zehn Jahre Turnen überlebt, da wird ihnen so eine Fahrradfahrt doch hoffentlich nichts anhaben können. Ich kenne die Stelle, an der ich stehen soll, noch. Mit den Ortsnamen auf den Schildern könnte ich gar nichts anfangen. Nach einer kräftezehrenden Fahrt erreiche ich die vereinbarte Stelle. Ein super Plätzchen. Die Sonne scheint direkt auf die Kreuzung. Ich stelle das Fahrrad ab, lege den Rucksack daneben und warte. Das ist eigentlich schon meine ganze Tätigkeit für die nächste Stunde, zusammengefasst in einem Satz. Das aufregendste, was passiert, ist, dass ein LKW vorbeifährt. Beladen ist er mit gehäckseltem Nadelholz. Dürfte auch Fichte gewesen sein. Man sieht nur noch die fingergroßen Holzschnipsel. Der Duft war jedoch großartig. Noch intensiver als der des frisch geschlagenen Holzes am Wegesrand an den Tagen zuvor.
Ansonsten passiert kaum etwas. Alle paar Minuten schießt eines der Kinder vorbei. Manche grüßen freundlich, andere sind anscheinend hochkonzentriert und fahren starr durch, ohne sich zu regen. Als der letzte Teilnehmer schon seit Minuten die Kreuzung passiert hat, erkunde ich ein wenig die Gegend. Könnte sein, dass ein besonders langsamer Schüler noch folgt. Direkt am Wegrand steht ein Bunker, den ich erst auf den zweiten Blick erkenne. Obwohl ich an der Stelle schon zweimal vorbeigekommen bin, fällt mir erst jetzt der verlassene Beton-Schützenbunker auf. Er hat eine interessante Form. Oben rundlich, etwa einen halben Meter im Boden versenkt und daher nur von geringer Höhe. Verwundert stelle ich fest, dass er nicht verriegelt ist. Es gibt nicht mal eine Türe oder ein Gitter. Man kann direkt hinein, was ich dann auch mache. Dunkel ist es, nur durch ein kleines Fenster scheint Licht. Fenster ist schon übertrieben. Eigentlich ist es nur eine Schießscharte. Sonst ist der Bunker leer. Bunker dieser Art wurden massenhaft als Aufrüstungsmaßnahme gebaut. Viele wurden jedoch nie militärisch genutzt und nach Ende des Krieges war dann erst recht kein Einsatzzweck mehr vorhanden. Bestand haben sie jedoch und es war seitens des Staats scheinbar auch kein Interesse daran, sie wieder zurückzubauen. So stehen sie eben verlassen und einsam im Wald herum, um alle paar Wochen vielleicht mal von einem wie mir besichtigt zu werden.
Ich kehre wieder zum Fahrrad zurück, fahre den Berg ein Stück hinunter, um zu sehen, ob noch jemand kommt. Niemand in Sichtweite, wer jetzt – mit fünfzehn Minuten Rückstand – noch kommt, hat eben Pech gehabt. Ich wende abermals, fahre zur Kreuzung und links den Berg hinauf. Drei Kilometer waren es noch. Vier hatte ich an dieser Stelle bereits. Der Ausblick ist grandios. Durch den Wald hat man eine schöne Sicht über das relativ flache Gebiet nebst dem Adlergebirge. Viel Wald, viele Felder, ein paar Bauernhöfe. Nichts Größeres in Sichtweite. Nach dem völlig zubetonierten Deutschland mal eine willkommene Abwechslung. Doch auch die schöne Umgebung hilft nicht wirklich beim Treten. Vor allem die Langeweile lähmt. Wenn ich mit Jarda fahre, haben wir zumindest dauernd etwas zu reden. Alleine und ohne Musik ist das Fahren nach einer Weile recht monoton. Kurve um Kurve geht es hinauf. Der Asphalt ist dabei wunderbar griffig.
Nach einer Weile sehe ich aus der Ferne eines der Kinder, Petr, der sein Fahrrad schiebt. Schnell habe ich ihn eingeholt und frage, was passiert ist. Er zeigt auf den platten Vorderreifen. Kaum schimpft man über anfällige Hinterreifen, schon geht der vordere kaputt. Aus Solidarität steige ich ab und schiebe ebenfalls. Bis ins Ziel ist es noch ein weiter Weg, aber eine bessere Idee habe ich im Moment auch nicht. Leider kenne ich nur den ersten Teil der Route. Wie es danach weitergeht, weiß ich leider nicht. Wenn es ein Rundkurs ist, wäre es äußerst ungünstig, nun einfach weiterzufahren. Dann wüsste Jarda zwar Bescheid, allerdings hätten wir dann einen einsamen Petr irgendwo auf der Strecke. Irgendwann wird das Ziel schon kommen, auch wenn mir die Strecke bereits jetzt deutlich länger als drei Kilometer vorkommt. Als ich gerade mal wieder mit dem Gedanken spiele, vorauszufahren, um Bescheid zu geben, kommt uns die ganze Truppe entgegengefahren. Alle bremsen, man hört ein paar blockierende Reifen. Wir erklären Jarda die ärgerliche Situation. Den Reifen zu wechseln ist die einzige Möglichkeit, das alles möglichst schnell zu lösen. Die anderen Kinder fahren derweil weiter. Ich schaue Jarda über die Schulter, falls mich mal ein ähnliches Schicksal ereilen sollte. Schon nach ein paar Minuten ist das Problem behoben und wir können weiter. Bergab zu fahren macht selbstverständlich immer mehr Spaß als herauf. Leider liegt auf der Straße viel Kies. Meine Versuche, Ideallinie zu fahren, werden durch den nur schwer einzuschätzenden Charakter der Straße beim Bremsen erschwert. Die Abfahrt ist am Ende doch länger als ich sie in Erinnerung hatte. Nur gabeln wir nun eines der langsamen Kinder auf und müssen fortan hinter ihm fahren. Bis das Überholverbot wieder aufgehoben ist, muss die Reihenfolge nämlich beibehalten werden. Langsam geht es folglich durch den Ort. Mehrmals muss ich bremsen. Einmal sogar bergauf. Spätestens das sollte einem zu denken geben. Wir sind wieder in Olešnice. Bei dieser langsamen Fahrt kann ich immerhin mal die Umgebung näher betrachten. Viel los ist auch heute nicht. Ein paar Leute stehen wieder an der Bushaltestelle. Wir holen die anderen Kinder wieder ein. Hintendran die Französischlehrerin, deren Namen mir stets von neuem entfällt. Jarča lautet er eigentlich. Dann überholt Petr. Jarda sagt nichts, überholt ebenfalls, ich nehme an, das Überholverbot ist außer Kraft gesetzt. Wir sind kurz vor dem Ortsschild. Noch zwei läppische Kilometer bis zur Unterkunft. Nun kann ich alle aufgestaute Kraft rauslassen. Ich sperre die Federung, schalte runter, blicke über die linke Schulter. Alles frei. Ich schere aus und ziehe an der Gruppe vorbei. Es geht bergab, der höchste Gang reicht nicht mehr aus. Ein Rennrad wäre ab diesen Geschwindigkeiten die bessere Wahl. Nach der kurzen, aber kurvigen Abfahrt habe ich wieder eine Steigung, an der ich sämtliche verbleibenden Kraftreserven in den Beinen mobilisieren kann. Die anaerobe Energiegewinnung sind sie nicht mehr gewöhnt. Nicht von Bedeutung. Ein paar hundert Meter noch, dann wird sowieso alles vorbei sein. Über den Asphalt, dann ein hartes Bremsmanöver, links auf den Schotter wechseln. Auch beim steilen, letzten Stück gibt es kein Erbarmen. Hoher Gang. Leistung gegen Drehmoment. Die Kette ächzt, der Muskel brennt. Maximaler Krafteinsatz als sportliche Krönung des Tages. Ein letzter Tritt in die Pedale. Geschafft.
Am heutigen Tag wurde ja bereits geduscht, aber ein zweites Mal kann auch nicht schaden. Allein schon der Beine wegen. Die Wechseldusche lässt grüßen. Zum Abendessen ist es noch ein bisschen hin, daher gehe ich schnurstracks in den gekachelten Raum und nehme eine kalt-lauwarme Dusche. Erst muss ich die eigene Körpertemperatur von gefühlt 50 °C herunterbekommen. Dann kann man über entspannende Duschwassertemperaturen nachdenken. Recht schnell kehrt wieder körperliche Normalität ein. Der Körper braucht jetzt Ruhe. Ein paar Minuten reichen schon. Leider gibt es in dem Doppelzimmer keinen Schreibtisch, sodass ich immer auf dem Bett liege. Mit dem Mobiltelefon lässt sich die verbleibende Zeit bis zum Essen stets erfolgreich füllen. Mit der Uhrzeit nehmen es die Lehrer ohnehin nicht so genau. Wer fünf Minuten später kommt, bekommt noch Essen, was nicht bedeuten soll, dass ich das ausgenutzt hätte. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Ein alter Spruch, dessen wahre Bedeutung zwar eine andere ist – an dieser Stelle empfehle ich ihnen eine Kolumne der Zeit, in welcher eben diese Frage von einem Mann aus der gleichen Stadt, aus der mein Gemeinschaftskundelehrer stammt, beantwortet wird – , was an dieser Stelle jedoch völlig unbedeutend ist, da sich die falsche Bedeutung schon fest im Sprachgebrauch verankert hat.
Als Lehrerhilfskraft muss ich mich nicht an die Reihenfolge der Schulklassen halten. Ein weiteres Privileg, das ich genieße. Der Griff in die Besteckkästen. Messer, Gabel, Löffel, dann der Teller, nicht der mit Goldrand, der könnte mir runterfallen und teuer zu stehen kommen, der tiefe tut es auch. An diesem Tag gibt es sogar eine Suppe zur Vorspeise. Ich nehme mir mal wieder was, ohne vorher nachgefragt zu haben, was es denn eigentlich sei. Als Hauptspeise gibt es Kartoffeln mit Sauerkraut, Speck und Zwiebeln. Dazu die altbekannte Wurst. Die Kombination klingt schlechter als sie schmeckt. Der Koch versteht sein Handwerk. Es ist beileibe kein kompliziertes Gericht, aber es mundet. Und das ist alles, worauf es momentan ankommt. Selbst einfache Speisen kann man in den Sand setzen. Dieser Koch tat das nicht. Schnell bin ich mit dem ersten Teller fertig. Ich stehe auf, bringe meinen Teller jedoch nicht in die Küche zum Spülen, sondern schöpfe mir, so lange es noch etwas gibt. Ohne diese Hamstertaktik kommt man in Tschechien nicht weit. Es ist noch genug da. Allerdings nur von der entschärften Version ohne Schinken, Kraut und Zwiebeln. Doch auch die abgespeckte Version kann überzeugen. Auf alle Fälle macht sie satt. Nach jedem Essen könnte ich mich erst einmal hinlegen, doch was nun folgen sollte, war bei weitem interessanter: die Auswertung des Rennens. Nach und nach werden die Kinder vorgebeten, um ihre Urkunde abzuholen. Jedes von ihnen bekommt einen Schokoladenriegel als Preis. Irgendwie etwas ironisch, nach einer Sportveranstaltung so etwas Ungesundes zu verteilen. In Maßen ist es in Ordnung, zumal keines der Kinder übergewichtig ist (zumindest in den Klassen mit Sportschwerpunkt). Bei den Erstplatzierten gibt es keine großen Überraschungen. Selbst nach den paar wenigen Tagen konnte ich mir bereits ein Bild von der sportlichen Verfassung der Schüler machen. Es gibt ein paar Alphatiere, viele Mitfahrer und ein paar Langsame. Bei der Rückfahrt vom Gipfel des Adlergebirges habe ich die Gruppe der Anführer bekommen. Mit ein Grund, warum die Durchschnittsgeschwindigkeit so extrem hoch war. Zu hoch für mich und die Kinder. Jedenfalls waren in meiner Gruppe bei der großen Tour fünf Kinder. Drei von ihnen haben ihre jeweilige Altersklasse gewonnen.
Erstaunlicherweise fällt irgendwann mein Name. Ich kann mir zwar nicht erklären, wie ich es in die Wertung geschafft habe, da ich ja nur Wegweiser war. Weder wurde meine Zeit gemessen noch war ich offiziell in einer Gruppe mit dabei. Die Zeit wäre wahrscheinlich gar nicht mal schlecht gewesen. Die erste Etappe fuhr ich schließlich gemeinsam mit Jarda und David, welche ein gutes Tempo vorlegten. Ich muss mir Floskeln wie „für ihr Alter“ verkneifen, denn die beiden waren geschätzt erst Mitte vierzig. Laut David feierte dieser zwar erst seinen neunundzwanzigsten Geburtstag, aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich diesen Aussagen Vertrauen schenken kann.
Wie ich in die Wertung kommen konnte, blieb mir rätselhaft. Ein Blick auf die Urkunde schaffte dann jedoch Klarheit. Es gab eine Gruppenwertung und in dieser wurde ich berücksichtigt. Es waren die gleichen Gruppen wie bei den Spielen. Eigentlich hatte ich da sogar eine recht gute Gruppe erwischt. Mein Engagement für die Mannschaft und deren Beitrag durch das fleißige Fahrradfahren gleichen sich im Großen und Ganzen wohl aus. Ich bekomme als Preis einen Corny-Riegel. Na ja, als nächste Fahrradtourration taugt er. Jedenfalls war es schön, nicht ohne Urkunde von der Veranstaltung gehen zu müssen. Wenn man solchen Festivitäten beiwohnt, rechnet man ja eigentlich schon mit dem tatsächlichen Erhalt einer Ehrung. Andernfalls wäre es ziemlich eintönig für den Besucher. Für manchen Besucher mag man eine Ausnahme machen und spontan noch eine Kategorie erfinden, in der man ihn dann prämieren kann. Noch kurz eine peinliche Rede zimmern und der Auftritt ist perfekt. Neben der Gruppenwertung gab es auch noch die Wertung nach Schulklassen, was für mich hilfreich war, um so einen ersten Überblick zu gewinnen, wer in welcher Klasse war. Als Lehrer hat man die Nebenaufgabe, sich Hunderte Namen einzuprägen, sowie grob überschauen zu können, wer zu wem gehört, denn bei den Schülern gibt es natürlich eine gewisse Rivalität, die aus Sicht des Lehrers zwar völlig unverständlich ist, sich jedoch vermutlich nie ändern wird. A- gegen B-Klasse, achte gegen neunte Klasse, solche Konflikte eben. Schon jetzt sah ich die Sisyphusarbeit sich anbahnend. Die ganzen Namen – das würde mich noch viele Stunden und vergebliche Versuche kosten. Ich war schon froh, wenn ich mir die Namen der Lehrer merken konnte. Wenn man diese nämlich nur mündlich erfährt, prägt man sie sich kaum ein. Ich muss das Wort immer sehen, um es im Gedächtnis zu behalten, zudem die Namen für deutsche Ohren ziemlich fremd klingen. Darüber hinaus sind es sowieso meist Abkürzungen. Jeder Name hat ein paar mögliche Kurzformen, dann gibt es auch noch den Vokativ, der das Chaos perfekt macht.
In den letzten Tagen brauchte ich den Schlaf nicht nur für den Körper zur Erholung, sondern auch für den Geist. Denn der war gelinde gesagt leicht gefordert. Der Sprachwechsel zwischen Englisch und Tschechisch, die dauernde Ungewissheit, all das strengt an. Der Sport hat für ein Gleichgewicht gesorgt. Ich habe den Kopf einigermaßen frei bekommen, zumindest frei von Tschechisch. Denken konnte ich auf Deutsch und Englisch, abends konnte ich das Erlebte dann auch in meiner gewohnten Sprache niederschreiben. Jeder Tag bietet neue Überraschungen bei dieser Fahrradtour. In dieser Hinsicht muss man ein bisschen offen sein und das Abenteuer suchen, denn andernfalls würde man verrückt werden. Mir hat es geholfen, ein paar fähige Lehrerkollegen gehabt zu haben. Mit ihnen war der Umgang einfach, da zwei von ihnen Englisch sprachen, sodass es nie zu einer Situation kam, die ich aufgrund der Sprachbarriere oder sonst etwas nicht bewältigen hätte können. Für die Lehrer ist es eine von unzähligen Klassenfahrten, die sie schon begleitet haben. Das sorgte dafür, dass ich mich selbst inmitten der tschechischen Einöde in einem Ort mit unaussprechlichem Namen nie unsicher gefühlt habe.
Die Abende konnte ich glücklicherweise nutzen, um all das einzufangen. Nie wusste ich, was mich am nächsten Tag erwarten würde. An diesem Tag wusste ich jedoch, dass am nächsten Tag die Rückfahrt sein würde. Ein wenig betrübt war die Atmosphäre, da das Wetter gerade so schön geworden war. Allerdings hätte ein Blick in die Reisetasche ebenfalls gezeigt, dass bald Schluss ist. Die Tour war wunderschön, aber ein wenig sehnt man sich immer nach dem Zuhause, wo man genug von allem und eine funktionierende Heizung hat.
Wie auch in jedem Urlaub war eine Beschleunigung des Zeitempfindens zu beobachten. Man kommt an, alles ist neu, man meint, ewig Zeit zu haben, dann denkt man an die Pläne, freut sich oder scheut vor der großen Tour an Tag drei, macht danach noch zwei Tage mit und schon ist wieder der Tag der Abreise. In meinem Fall mag es eine Sonderkonstellation gewesen sein, da ich in Tschechien nicht wirklich zuhause bin. Ich habe eine Wohnung, doch Heimat ist das nicht. Es ist eine temporäre Lösung. Wenn ich also “nach Hause gehe“, lande ich trotzdem wieder in der Ferne, ich werde immer noch in Tschechien sein, einem mir fremden Land, an einem Ort, der mir im besten Fall ein bisschen weniger fremd ist als Rzy.
Immer noch fühlt man sich neu und nicht einheimisch, aber zumindest gut aufgenommen. Man überlebt. Ein wenig belustigend ist es dennoch, den Schülern zuzuschauen, wie für sie bereits der Abschied von den Eltern für eine Woche eine große Sache ist. Da ist man selbst, das Vöglein, das das Nest schon längst verlassen hat. In Tschechien angekommen oder nach Tschechien verirrt, das konnte ich noch nicht sagen. Man kommt zurecht, hat sich umzustellen, anzupassen, doch im Kern ist es nicht anders als in Deutschland oder sonstwo. Es ist anders, neu, ungewohnt, doch nichts, was man nicht schaffen könnte. Leute zollen mir meinen Respekt dafür, dass ich den Freiwilligendienst bisher so souverän meistere – immer noch warte ich auf die Herausforderung, von der dauernd die Rede ist. Ist es am Ende der reine Prozess des Dabeibleibens, des Weiterführens und Nicht-Aufgebens? Scheinbar ist das tägliche Leben gemeint, das mir in seiner Einfachheit schon fast zu entgleiten droht. Strapazen, die der Erinnerung bedürfen, um sie wahrzunehmen, können so groß nicht sein.
Zu diesem Zeitpunkt war der Großteil der Fahrradwoche bereits vorbei. Es war ein schöner Schuljahresstart, denn wäre man sogleich in der Theorie des Unterrichts eingestiegen, hätte man vermutlich kaum einen solchen Einblick erhaschen können. Ebenso bezogen auf Tschechien, seine Natur, seine Leute, seine Kultur. An bekannten und geschichtsträchtigen Orten sind wir vorbeigekommen, unterbewusst erwuchs ein besseres Verständnis für die hiesigen Umstände. Die Woche glich der Arbeit eines Fotografen, der tagsüber durch die Stadt läuft, Bilder macht, weitergeht, weitere Bilder macht, jedoch erst am Abend, in der Nacht, am Rechner seine Erlebnisse reflektiert, aussortiert und archiviert. Erst in der abendlichen Reflexion wurde klar, warum diese Erfahrung so einmalig war. Eine Zeit, auf die man gern zurückblicken wird, wenn man sich liegen sieht, nachdenkend über genau das: unvergessliche Tage – Tage wie diese.
Schlafen war problemlos möglich. Der Körper? Ausgelaugt. Der Kopf? Voll. Die Nächte waren der Kontrast, den es brauchte. Erholung bietend und dabei so phänomenal leer, so abweisend und kalt, sodass man sich umso mehr auf die aktive Zeit, den Tag freuen kann, wiewohl bald die Rückfahrt anstehen würde. Noch einmal schlafen, dann würde es nicht mehr auf tschechische Berggipfel, durch Wälder und über Wiesen gehen, sondern zurück nach Náchod, ins temporäre Heim. Man trauert und freut sich zugleich, ein gemischtgefühliger Abschied würde bald folgen. Eine großartige Tour geht zu Ende. Viele Spuren hat sie hinterlassen. Gedanken, Erinnerungen – und etwas mehr als 21.000 Wörter.