Tõrva Kodu
Was von Ed Sheerans Stimme begleitete Autofahrten, estnische Volksmusik, aus fremden Gärten geklaute Äpfel, gefilzte Tiere, Gurkensalat und Airhockey gemeinsam haben oder die Antwort auf die Frage: „Was machst du hier denn jetzt eigentlich genau?“
Wenn ich meinem Gegenüber von meiner Arbeit mit Menschen mit Behinderungen erzähle, herrscht meist erstmal betretenes Schweigen. Danach folgen Sätze wie: „Respekt, dass könnte ich nicht“ „Cool, dass du Dir so etwas zutraust.“ „Naja, so lange es dir gefällt.“
Und ja, es stimmt. Nicht jeder kann und möchte mit Menschen (mit Behinderung) arbeiten, jeder traut sich etwas anderes zu und folgt seiner eigens definierten Form von Spaß. Aber lässt sich dies nicht jedem Lebensbereich zu ordnen? Ich habe manchmal das Gefühl, dass niemand weiß, wie er offen und zwanglos eine Konversation mit einem eben doch etwas ernsterem Thema führen soll. Aus Angst etwas Falsches zu sagen und Unsicherheit wird mit eben genannten Floskeln um sich geworfen. Ich kann das nachvollziehen, möchte das alles andere als verurteilen, jediglich schildern unf finde es doch schade, dass kaum jemand den Mund aufmacht und tatsächlich sagt, was oder wie er über meine Arbeit denkt. Denn nur wenn man miteinerander spricht, offen und ehrlich miteinander kommuniziert, kann man Vorurteile aus dem Weg räumen und das Stigma, welches Menschen mit Behinderungen umgibt Schritt für Schritt beseitigen.
Aber was erzähle ich den jetzt eigentlich, wenn über mein Projekt hier in Estland spreche? Ich arbeite in Tõrva Kodu, einer Einrichtung für psychisch, aber auch physisch beeinträchtigte Menschen. Die Einrichtung setzt sich aus sechs Häusern zusammen, in welchen je 10 Patienten wohnen. Dort haben sie nicht nur ihr eigenes Zimmer, sondern auch eine Küche, einen Waschraum und ein Wohnzimmer. Sie leben also so unabhängig und selbstständig, wie es ihnen aufgrund des Krankheitsbildes möglich ist, in einer Art betreuten Wohngemeinschaft. Tagsüber befindet sich je ein Mitarbeiter in jedem Haus, während nachts zwei ihrer Kollegen für die gesamte Einrichtung verantwortlich sind.
Einige der Bewohner arbeiten außerdem 2 Stunden täglich in der Behindertenwerkstatt, filzen dort (u.a. Tiere), stellen Tassen, Schüsseln und andere Dinge aus Lehm her, weben Teppiche, Kissenbezüge und sind anderweitig kreativ. Die Gegenstände werden nicht nur im Shop, der sich direkt neben der Werkstatt befindet, sondern im Sommer wohl auch auf einem Markt verkauft. Neben dieser Arbeit, wofür unsere Klienten, wie wir sie nennen, ein kleines Entgelt erhalten, machen sie Sport, gehen zum Jugendcenter oder fahren ins Tierheim, um mit den Hunden spazieren zu gehen. An dieser Stelle kommen dann wir Freiwilligen ins Spiel.
Man könnte uns mit den Pool-Animateuren der Ferienresorts vergleichen. Es gibt Bewohner, die uns gerne mögen, so viel wie möglich mit uns unternehmen wollen, mit uns sprechen, sich wirklich freuen, uns nach dem Wochenende zu sehen und dann gibt es aber auch einige Klienten, welche sich genervt abwenden, sobald sie uns sehen. Wir sind für die Unterhaltung und den Spaß in der Einrichtung verantwortlich. Ich arbeite 2x die Woche in der Werkstatt, versuche dort den Bewohnern, sofern dies möglich ist, zu helfen und darf selbst kreativ werden. Wenn ich mich in einem der Häuser oder viel mehr Haus Nummer 6 aufhalte, (ich nenne den Wohnort liebevoll meine Base) bringe ich zwei Bewohnern Englisch bei und lerne mit Gegenzug ein paar Wörter Estnisch. Allerdings verbringe ich gar nicht all zu viel Zeit in der Base. Unter anderem fahre ich Klienten zum Tierheim, eine Fahrt, welche ingesamt ca. 60 Minuten beeinsprucht. Zeit, die ich gerne nutze, um laut Musik zuhören und die schöne Landschaft zu genießen.
Auch wenn ich einige der Bewohner ins Jugendcenter begleite, vergeht die Zeit wie im Flug. Noch lieber als wirklich Airhockey zu spielen, lachen sie über mich, wenn ich eben dieses Spiel verliere und nicht nur sie können kaum glauben, wie grottenschlecht ich spiele ;) Der Fußweg durch den Ort zurück in die Base ist immer interessant. In Tõrva reihen sich Gärten mit unzähligen Apfelbäumen aneinander, die sehr gerne als Wegproviant entwendet werden. Kurz danach wird aber auch schon das Mittagessen angeliefert, welches meist aus einer Suppe und Salat besteht. Da ich die meiste Zeit im Haus Nummer 6 verbringe, haben mich die Bewohner schon in ihr Herz geschlossen und wollen vorallem, dass ich genug esse und auf keinen Fall hungrig nach Hause gehe. Da ich mich vegan ernähre und die Supper daher nicht essen möchte, stellen sie mir oft eine große Schüssel Gurkensalat vor die Nase und freuen sich, wenn ich mich während der Mahlzeit zu ihnen geselle, auch wenn ich das Angebot des öfteren ausschlage, da ich Gurkensalat dann doch nicht so unfassbar gerne esse.
Meine Arbeitswoche endet mit dem wöchentlichen Event am Freitagnachmittag. Dann findet entweder eine Tanzparty statt (Estnische Volksmusik steht besonders hoch im Kurs), es wird gebastelt, Sport gemacht oder ein Film angesehen. Ab nächster Woche sind auch wir Freiwilligen für die Planung zuständig und ich freue mich schon sehr meine Ideen umsetzen zu können.
Ich verbringe unglaublich gerne Zeit mit den Bewohnern und freue mich sie nach dem Wochenende wieder zu sehen. Sie haben, wie jeder Mensch schlechte Tage. An die Eigenheiten und verschiedenen Ausdrucksweisen habe ich mich mittlweile gewöhnt. Meine Arbeit habe ich überwiegend positiv dargelegt, da ich sie eben so erlebe. Trotzdem geschehen auch in unserer Einrichtung Dinge, über die ich nicht sprechen darf und wir leben nicht im Regenbogen/Einhorn-Paradies. Diese Zwischenfälle sind herausfordernd, anstrengend, alles andere als schön, gehören aber zur Arbeit in der Heilerziehungspflege. Weshalb all das in Kauf nehmen? Nicht nur weil die schönen Momente, zumindest meinem Empfinden nach, überwiegen, sondern weil es sich gut anfühlt helfen zu können. Beziehungen zu den Bewohnern aufzubauen, ob man nun zu estnischer Musik tanzt, Tiere filzt, Airhockey spielt oder Gurkensalat isst und am Ende des Tages realisiert, dass wir trotz aller Unterschiede alle gerne lachen, uns wohlfühlen und von lieben Menschen umgeben sein möchten.
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