Sister Suffragette
Über Litauern und übers Teetrinken, darüber eine Freundin für Fremde zu sein, über Frauenrechte und darüber, dass hoffentlich doch alles gut wird.
Gerade sitze ich im Büro meiner Projektkoordinatorin Jurgita und trinke meine tägliche Ration Melissentee.
Es ist jetzt etwa 14 Uhr und ich habe bald Feierabend.
Nach einem kleinen Plausch mit meiner Mitbewohnerin und Haferschleim ging es heute wie jeden Tag von der Haltestelle Mituvos gatvė gute 15 Minuten zur Laisvės alėja (Freiheitsallee), um dann nocheinmal eine Viertelstunde durch die Altstadt zum Hauptgebäude der Caritas Kaunas zu gehen. Der Ammateur-Graffittischriftzug "Kaunas Old Town Ultras", der in grün an einer Parkmauer prangt, wurde letzte Nacht mit schwarzem Edding durchgestrichen. Eine Menge Schüler und Studenten kommen mir entgegen; manche in förmlicher Uniform, andere in Highheels und greller Schminke. Ich begreife immer noch nicht, wie all die litauischen Frauen es überleben, mit derartigen Schuhen auf dem ein bisschen mehr als unebenen Fußgängerweg des Vilniaus gatvė zu stacheln.
Bei dem Anblick dieser heterogenen Masse von Stadtmenschen kommt mir der Film in den Sinn, den ich gestern Abend im Rahmen des Kauno kino festivalis angesehen haben. "Tik ne su juoda", "Anything but black" hieß er, der in einer guten halben Stunde das Leben der Menschen in einem kleinen litauischen Dorf aufzuzeigen versuchte. Abgesehen davon, dass die Macher des Films nach der Vorführung für weitere 30 Minuten litauisches Kauderwelsch von sich gaben und wir eher fehl am Platz waren, gab uns der Film doch einen kleinen Einblick in das "wahre" Litauen.
Denn kann man Kaunas oder gar Vilnius gleichsetzen mit all den kleinen Orten und Dörfern, aus denen Litauen zum größten Teil besteht?
Da schon eher Kaunas, die Stadt, die sich in den letzten 20 Jahren nicht verändert hat, wurde uns gesagt. Und es scheint wahr zu sein: Schaut man sich die schicken Häuser von Vilnius an und sieht dann die bleichen Fassaden der Straßen von Kaunas steht es außer Frage, wo es nun schöner und vor allem moderner ist. Fragt man die jungen Leute von hier, was man denn in seiner Freizeit in Kaunas alles treiben kann, wird einem geantwortet: "Nach Vilnius gehen!"
Thomas hat gesagt, jeder hier habe seine eigenen Probleme und die Leute in Kaunas seien traurig. Und das sei es, was Kaunas daran hindere, sich weiterzuentwickeln und sein russisches Image abzulegen. Und vielleicht ist da tatsächlich etwas Wahres dran, denn Kaunas ist nicht voller lachender Gesichter und feiernder, erfolgreicher Leute; im Bus sollte man seine Tasche lieber eng an sich halten und nachts alleine unterwegs zu sein wird einem auch nicht gerade geraten. Aber an welchem Ort ist es denn anders?
Ich jedenfalls fühle mich wohl in Kaunas. Ich genieße es, nach Feierabend durch die Laisvės alėja zu schlendern, den Haudegen neben dem Pizza Jazz Gitarre spielen zu hören, den Sonnenuntergang das Dach der Mykolo bažnyčia (St.Michael Kirche) rot beleuchten zu sehen, die Leute mit meinen ersten gebrochenen litauischen Sätzen zum Lächeln zu bringen (Atsiprašau, aš nekalbu lietuviškai), all das macht meine Tage hier schön.
Die Gesichter der Menschen erscheinen oft grimmig, das stimmt, aber wenigstens setzen sie sich keine lächelnden Masken auf, und das ist doch eigentlich etwas angenehmes.
Und durch meine jetzige Arbeit, die Unterstützung und Hilfe von Prostituierten, in der ich oft nur den Namen und die Adresse einer Frau in die Hand gedrückt kriege, um dann orientierungslos wie ich nun mal bin in der Stadt umherzuirren, hatte ich schon oft die Gelegenheit, nette Litauer zu treffen, die sich viel Zeit nahmen mir zu helfen. Auch ohne sich verständigen zu können.
Bei den Frauen, zu denen ich entweder alleine oder mit der litauischen Freiwilligen Krystina gehe, handelt es sich meistens um jugendliche Schülerinnen, die durch schlimme Erfahrungen in ihrer Kindheit, Armut, schlechten Familienverhältnissen oder auch einfach aus Trostlosigkeit zur Prostitution kamen. Da ich ja keine ausgebildete Sozialarbeiterin bin und mit derartigen Geschichten nie zuvor konfrontiert war, soll ich mehr eine Freundin für die Klienten sein; jemand, der da ist und sich nach ihnen erkundigt.
In der Realität sieht die Arbeit so aus, dass ich Unmengen Tee trinke und Unmengen Treppen steige. Die meisten unserer Klienten wollen aus Scham oder Traurigkeit nicht mit den Arbeitern der Caritas reden, daher trifft man von 10 Frauen, deren Wohnungen man sucht, höchstens zwei an, die auch wirklich öffnen und mich/uns hineinlassen, um noch ein bisschen mehr Tee zu trinken.
Ich fühle mich sehr wohl dabei, auch wenn die Geschichten, die man hört, alles andere als einfach sind, aber ich fühle mich nützlich und das macht mich glücklich.
Meine Chefin hat mich heute gefragt, ob mir das Projekt denn eigentlich gefalle und als ich das bejahen konnte, hat sie mir geantwortet: "Jetzt kannst du dich bei all den Frauenrechtlerinnen der Geschichte einreihen."
Wer weiß, vielleicht kann ich das ja wirklich, zumindest könnte ich ja eine winzig kleine Fußnote sein.
Bald habe ich Feierabend und dann geht es zurück zum Bus Nummer 11. Vielleicht treffe ich ja wieder den Straßenmusiker mit seinem Freund, der ganz genau weiß, dass ich ihm ein paar Centas gebe, wenn er mich lieb darum bittet und ich dann hinter mir das Lied "Viskas bus gerai" aufgrölen höre, wenn ich wieder weitergehe. "Alles wird gut." - wenn er das sagt, dann nehme ich das doch auch mal an.
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