Sick in the City
Johannson ärgert sich: Da gibt es schon so wenig zu tun, und wenn mal was da ist, wird er krank. Trotzdem hat er in Warschau schon so Einiges dazu gelernt, vor allem über Politik und Verfassungsrecht.
Warschau macht krank
Und ich hatte mich gewundert, warum ich schon nach den ersten Arbeitstagen immer so fertig war. Dabei war kaum was zu tun. Bin ich so außer Form geraten? Nein, heute hat sich bestätigt was ich schon vermutet hatte: ich habe schon wieder Angina. Niemals in meinem Leben hatte ich Angina, nur in Polen jeden Winter.
Das heißt wieder eine Woche zu Hause. Eine ganze Woche krank geschrieben, wo nicht mal zwei Wochen Arbeit um sind! Das grade jetzt wo a) die Sonne rauskommt b) morgen endlich interessante Themen beraten werden im Sejm (die in Belarus hart schikanierte Chefin der dortigen polnischen Minderheit erstattet Bericht) c) wir morgen fein essen gehen mit irgendeinem Minister und ich d) nach Kielce fahren wollte dieses Wochenende.
Außerdem kommen die Abgeordneten nur alle zwei Wochen zusammen, nur dann ist was zu tun. Nicht im Büro, aber man kann zumindest die Ausschüsse besuchen. Auch alles vorbei jetzt. Diese Woche waren sie weg, nächste Woche bin ich krank, übernächste Woche sind sie wieder weg. Das bedeutet auch, dass ich meinen betreuenden Abgeordneten den gesamten ersten Monat nicht zu Gesicht bekommen werde. Und die sorgen wohl für die meiste Arbeit.
Trotz der fehlenden Arbeit habe ich nie Zeit. Eine Menge Sachen sind schon aus dem Tagesplan geflogen. Von Eurer Post werde ich nur noch auf Fragen antworten, den Rest findet ihr wieder hier.
Parlament für Anfänger
Die ersten zwei Wochen bestanden größtenteils aus Besuchen in den verschiedenen Abteilungen der Sejmkanzlei. Auch wenn ich mich weniger für Politik interessiere, lerne ich langsam wie so ein Parlament funktioniert. Die langfristig Angestellten, insbesondere die Abteilungsleiter, sind ausgesprochen kompetent und beeindruckend. Eine ganze Reihe hat das gleiche Praktikum im Bundestag absolviert. Und das sind tatsächlich die besten Leute, die wir bisher kennen gelernt haben. Die Politiker und Abgeordneten genießen in den Gängen dagegen nicht immer großen Respekt. Aus einer der letzten Mails kopiere ich für das allgemeine Interesse mal das folgende:
Ich bin dem Gesetzgebenden Ausschuss zugeordnet. Ausschüsse sind Gruppen von Abgeordneten, die bestimmte Probleme (meistens Vorschläge für neue Gesetze) erörtern. Vorschläge gibt es nämlich massig, sodass es spezialisierte Ausschüsse für verschiedene Themen gibt. Dort sitzen dann theoretisch Leute, die sich mit der Thematik auskennen. Die beraten und stimmen ab, ob ein Vorschlag gut ist oder nicht. Wirklich rechtskräftig abgestimmt wird allerdings nur im vollständigen Parlament, also wenn alle Abgeordneten da sind. Die Entscheidung des Ausschusses hat dabei nur beratende Funktion. D.h. das Gesamtparlament kann theoretisch auch anders entscheiden. Ich mache grade einen Crashkurs Politikwissenschaft und Verfassungsrecht. Schematisch sieht das so aus:
1. Lesung: neuer Vorschlag (z.B. weniger Steuern) wird allgemein allen vorgestellt, d.h. vor dem vollen Parlament. Diese Gesetzesvorschläge können vom Präsident, der Regierung, einer Gruppe von mind. 15 Abgeordneten oder 100.000 Bürgern gemacht werden.
- dann meckern meistens welche rum, d.h. es gibt Änderungsvorschläge
- Änderungen werden beraten, und das passiert im Ausschuss. Der Gesetzesvorschlag wird geändert oder eben nicht (wenn der Ausschuss meint das ist nicht nötig). Dann kommt die verbesserte Version wieder vors Parlament:
2. Lesung: verbesserter Vorschlag wird vorgestellt
- gleiche Prozedur wie vorher, Änderungen werden beantragt und beraten.
3. Lesung: endgültige Version wird im Vollparlament vorgestellt. Das beschließt dann Annahme oder Ablehnung. D.h. auch wenn z.B. zwei Jahre lang im Ausschuss an dem Ding rumgebastelt wurde und es immer wieder verbessert wurde, kann es am Ende trotzdem aus dem Fenster fliegen.
Das wurde uns letztens von einem der Bundestagspraktikanten erklärt, die jetzt hier hohe Posten haben. Und das zu recht, nicht jeder kann mir mal so nebenbei die Arbeitsweise eines Parlaments erklären. Mein Gesetzgebungsausschuss prüft ob neue Gesetze legal sind. Aber ich bin nur im Sekretariat, wo a) nichts passiert und b) keine Arbeit für mich ist. Ich fühle mich ohnehin wieder vollkommen inkompetent, weil ich a) nichts kann, b) sogar im Vergleich zu den anderen Praktikanten schwach aussehe und c) nach ein paar Tagen schlapp mache.
Heute haben wir die Verantwortlichen der Uni kennen gelernt, jetzt geht hoffentlich bald ein bisschen Studium los wo wir schon nichts zu tun haben.
Im blutleeren Raum
Ich bin in der glücklichen Situation, dass mein Vorgänger noch hier ist. Er ist aus der Mongolei und schreibt seine Doktorarbeit über die Parlamentssysteme der zwei Länder, weshalb er noch hier bleibt. Er wohnt noch direkt im Wohnheim und ich kann ihn spontan besuchen. Seine erste Gehversuche in Polen hat er bei einem Jahr Sprachschule in Lodz gemacht. Wie auch der von dort studierte Chef des außenpolitischen Ausschusses im Sejm und überhaupt alle, die mal dort gelebt haben, hält er Lodz für die bessere Stadt. Ich bemühe mich aber, Warschau trotz aller Voreingenommenheit eine Chance zu geben.
Nach intensiver Suche habe ich sogar erträgliche Orte für einen Kaffee oder Bier gefunden. Die reichen in Sachen Atmosphäre beinahe an das Lodzer Mittelmaß, sind aber leider so teuer, dass man auch wieder zu Hause bleiben kann. Und das sind nur die ungewöhnlich wenigen Perlen, die zwischen auf cool gestylten Bars und Lounges untergehen. Warschau ist ja ganz stolz darauf, Hauptstadt zu sein, und der hohe Anteil von Besserverdienenden, Ausländern und Leuten, die dazu gehören wollen, führt zu einem allgegenwärtigen Streben nach blutleerer Eleganz und Exklusivität, die jedem Spaß entgegensteht.
Nun ja, andererseits brauchte ich auch in Lodz eine Weile zum Eingewöhnen. Und da hatte ich auch alle Zeit der Welt, alle Ecken und Angebote auszuprobieren.