Selbstfindung als Massenware
Warum machst du deinen EFD? Um als Person zu wachsen, einmal auszusteigen aus dem Alltag? Das selbe Ziel verfolgen tausende Pilger die jeden Tag in Santiago de Compostela ankommen, und zwar im Kurzprogramm. Ein Rant darauf, wie das Pilgertum verkommt.
Camino - Weg auf Spanisch. Aber es ist nicht ein beliebiger Weg, es ist DER Camino, der Pilgerweg nach Santiago auf dem schon im 11. Jahrhundert Christen gepilgert sind, um sich eine allumfassende Vergebung der Sünden zu erlaufen. Geendet hat ihr Weg seit jeher in Santiago de Compostela, Hauptstadt der Autonomen Region Galicien, im Nordwesten Spaniens, UNESCO-Weltkulturerbe, Studenten- und jetzt auch meine Stadt.
Doch “Camino” beschreibt nicht nur den geographischen Jakobsweg - wie denn auch, wenn es hunderte davon gibt. Auf ganz Europa verteilt findet man diese mit blaugelben Jakobsmuscheln gekennzeichneten Wege, bis nach Russland, und in Santiago schließlich laufen fünf von ihnen zusammen, allen voran der Camino Francés von den Pyrenäen aus. “Camino” beschreibt zurückgelegte Fußkilometer genauso wie zurückgelegte emotionale Kilometer, die Veränderung in einem selbst, die unsichtbaren Zentimeter die die Seele angeblich wachsen kann. Einmal unerreichbar sein, das Handy nicht laden zu müssen, Langeweile und Selbstreflektion wieder lernen und dem Körper Auslauf gönnen - in einem immer mehr säkularisierten Europa wird schon längst nicht mehr nur wegen der Sündenvergebung gepilgert.
Doch was meist als einsame Wanderung geplant wird, ist mehr zum Massentourismus verkommen. Alleine läuft man auf dem Camino Francés, dem gängigsten der vielen Wege, schon lange nichtmehr, und auch wenn auf dem Camino so manche tiefe Freundschaft in nur einer Woche entstehen kann, so ist die Flucht vor den Menschen und die Selbstfindung wahrscheinlich gar nicht so einfach, wenn man alle zweihundert Meter jemand überholt oder überholt wird.
Seit Hape Kerkeling’s Buch “Ich bin dann mal weg” und diversen Filmen ist der Jakobsweg wichtigste Identifikations- und ebenso Einkommensquelle für Galicien geworden. Pfadfinder- und Abschlussfahrtgruppen sind genauso zu treffen wie willkürlich zusammengewürfelte Zweck-Pilgergemeinschaften, mit vorgebuchten Hotels, Bibelstunde am Abend und Gepäck-Shuttle inklusive im Pauschalpreis. In die Albergues, die Pilger-Herbergen bringt längst jeder den Hightech-Schlafsack mit und statt den ursprünglichen 774 Kilometern werden meist nur noch die für die Urkunde (übrigens “Compostela” genannt) benötigten 100 km auf den Meter genau gelaufen. In Santiago warten dann spezielle Pilger-Massagen und im Pilgerbüro selbst die optionale aber praktisch unverzichtbare, mit Sehenswürdigkeiten der Stadt bedruckte Hülle für die ach-so-verdiente Urkunde. Hat das noch etwas mit Pilgern um des Pilgerns willen zu tun? Damit, das Alleinsein zu wagen und einen ganzen Tag in Stille (oder zumindest nur durch das eigene Singen gestört) zu laufen? Mit Abschalten, Flucht vor gesellschaftlichen Zwängen und allem voran der großen Versprechung der ultimativen Selbstreflektion?
Und dennoch ist der Camino, was man daraus macht. Allein wenn man eine alternative Route als den wortwörtlich überlaufenen Camino Francs aussucht, tut man sich schon etwas Gutes. Und wenn sich in jedem der tausenden Pilger, die täglich hier in Santiago ankommen, auch nur ein kleines Stückchen regt und neu ausrichtet, dann hat sich der Weg doch schon gelohnt - auf jeden Fall mehr als jeder Mallorca-Urlaub. Also: Buen Camino!
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