SCHWEDEN | Ein Lamm auf Reisen
Feiertage in fremden Landen zu verbringen kann spannend sein – oder das Heimweh noch erhöhen, wenn elementare Elemente fehlen, die für einen einfach dazu gehören: zum Beispiel ein Osterlamm aus zitronengelbem Biskuitteig.
Ich war kaum zwei Wochen in Göteborg, als ich zum ersten Mal Wäsche waschen wollte. Den Wäschekorb unterm Arm kam ich in die Waschküche, wo eine weißhaarige Frau einen roten Wollpulli im Handwaschbecken bearbeitete. Als ich die Tür öffnete, ließ sie die Arme sinken und schaute mich interessiert an. Aha, dachte ich, so wäscht der Schwede also seine Wäsche.
Gut, dann wollte ich doch gleich mal meine neu erworbenen Schwedisch-Kenntnisse testen. Ich blieb also im Türrahmen stehen, straffte die Schultern und nahm einen Anlauf: „Hej! Jag heter Anna och jag kommer fran Tyskland…“ (Hallo! Ich heiße Anna und komme aus Deutschland…). Mitten im Satz wurde ich unterbrochen, mit strahlendem Gesicht fiel mir die Frau ins Wort: „Ja dann könn `ma doch Deutsch miteinander reden!“
Das gab natürlich ein großes Hallo, und nach einer halben Stunde wusste ich recht gut über das Leben der Österreicherin Bescheid (ich hatte sie später einmal bei einem Telefongespräch mit meiner Familie so genannt, weil sie in Wien aufgewachsen war, und irgendwie hat sie diesen Namen von da an beibehalten). Erstaunlicherweise teilten wir beide eine Menge Gemeinsamkeiten, obwohl sie über ein halbes Jahrhundert älter war als ich.
Sie freute sich jedenfalls wie eine Schneekönigin, endlich mal wieder die Sprache ihrer Kindheit sprechen zu können (mit dem possierlichen Wiener Akzent übrigens) und ich war auch ganz beruhigt, sie hier zu wissen, für den Fall, dass mich das Schwedische vollkommen überfordern würde und ich den Äußerungen meiner schwedischen Mitmenschen auch nach meinen zehn Monaten Freiwilligendienst nicht mehr als einen lustigen Sing Sang entnehmen würde.
Um es kurz zu sagen: Wir waren beide überaus erfreut, uns kennen gelernt zu haben, und ich wurde mehr als einmal in die kleine hübsche Wohnung der Österreicherin eingeladen. Sie servierte jedes Mal handgebrühten Kaffee und kleine dunkle Schokoladen-Plätzchen und erzählte mir ihre Lebensgeschichte auf dem geräumigen weinroten Plüschsofa, in das man beim Draufsetzen immer ein wenig versank und das mit einem Haufen Samtkissen versehen war.
Ihre Geschichte begann in der Tschechei, von wo aus sie nach dem zweiten Weltkrieg mit ihrer Familie nach Österreich vertrieben wurde. Dort fand sie die Heimat ihrer Kindheit, die mit ihrer Reise nach Schweden endete, wo sie sich bessere Möglichkeiten auf eine Arbeitsstelle erhoffte, die im zerstörten Wien schwer zu finden war.
In Schweden ging es ihr, wie so vielen anderen Deutschen: Sie verlor ihr Herz an ein paar schwedischblaue Augen und blieb. Arbeitete bei SKF, der großen Kugellagerfabrik Göteborgs, zog ihren Sohn groß und wurde einsam, als ihr Mann in den siebziger Jahren starb.
Und die Einsamkeit begleitet ihr Leben auch heute noch. Irgendwie liegen ihre Wurzeln eben doch in einem andern Land. Die meisten Verwandten liegen längst auf einem europäischen Friedhof in weiter Ferne und Freunde hat sie nicht viele. Außer den Frauen der SKF Pensionsgruppe, mit der sie sich regelmäßig zwei Mal im Monat trifft.
--
Mein Jahr in Schweden nahm seinen Lauf, ich erlebte Lucia und buk Pfefferkuchen, lernte Schwedisch (gegen alle Befürchtungen) und las Selma Lagerlöf im Original.
Irgendwann nahm auch der zähe Winter ein Ende und der Frühling hielt Einzug in Göteborg! Ich war darüber so glücklich, dass ich jeden Abend mit dem Photoapparat durch die Stadt spazierte, um ihr Erwachen aus dem Winterschlaf zu porträtieren. Endlich wieder Licht und Sonne!
Und dann nahte auch schon das Osterfest und ich bekam ein bisschen Heimweh. Weil mir meine Familie fehlte, Eierbemalen und vor allem…ein richtig schönes Osterlamm. Das gehört hier in Süddeutschland nämlich einfach zum Fest dazu. Ich spreche nicht von Lammbraten. Sondern von den Lämmern aus zitronengelbem Biskuitteig, die einem auf der Zunge zergehen wie ein Stückchen Wolke, und mit Puderzucker bestäubt sind, dass es eine Freude ist.
Ach ja, leider gab es in Göteborg keine Osterlämmer. Die Österreicherin wusste auch keinen Rat. Aber immerhin ging es ihr in Sachen Lamm wie mir: Das war nämlich auch ein Bestandteil ihrer Kindheits-Ostererinnerungen. Und mittlerweile waren es über fünf Jahrzehnte, dass sie darauf verzichtet hatte.
Auf irgendeinem Weg muss mein Verlangen nach dem geliebten Kuchen meiner Tante in Bretten zu Ohren gekommen sein. Auf jeden Fall durfte ich in der Woche vor dem Ostersonntag ein Paket von der Poststelle abholen und was wickelte ich da wohl aus grünem Seidenpapier? Natürlich, ein kleines, zuckerweißes Osterlamm, das den Weg durch die Luft wunderbar überstanden hatte.
Ich war gerührt und holte mir gleich ein Glas Milch aus der Küche, aber als ich das Messer gerade gezückt hatte, kam ich ins Stocken. Und wusste plötzlich, was zu tun sein.
Rasch war das Lamm auf einen Teller bugsiert und wenig später klingelte ich vor der Tür der Österreicherin. Als die mir öffnete, sah sie zuerst mich und dann das Lamm an, dann wieder mich und noch mal das Lamm und dann sagte sie: „Nein! Nein!“ Und dann zog sie mich in ihre Wohnung. „Ein Lämmlein! Wo hast Du das denn her! Das ist ja… Dass ich noch mal ein Osterlämmlein essen werde! So was.“ Und ihre Stimme war ganz aufgeregt vor Freude. Und dann holte sie das blaue Sonntagsgeschirr aus der Vitrine, brühte uns eine kleine Kanne voll Kaffee und dann aßen wir gemeinsam Osterlamm.
„Das schmeckt traumhaft!“, fand die Österreicherin. „Ich weiß nicht, ob das damals auch so zart war.“ Und da saßen wir und aßen und strahlten vor uns hin. Ich war erstaunt, welche Wirkung man manchmal mit ein bisschen Biskuitteig erzielen kann.
comentarios