Salzstreuer
Kein Leistungskurs dieser Welt hätte mir beibringen können, wie man es schafft, sich selbst eine Chance zu geben.
“Die Persönlichkeit eines Menschen gilt als lebenslang recht stabil. Nur besondere Lebensereignisse können sie messbar und dauerhaft verändern.
Ein Auslandsjahr gehört dazu, wie Forscher herausfanden.”
Am 22.04.2016 veröffentlichte die WELT einen weiteren von Millionen Artikeln, aufgemacht mit dem obenstehenden Zitat.
Am 22.04.2016 steckte eine junge Lena mitten in den Vorbereitungen für ihre mündliche Abiturprüfung, als sie über den Artikel stolperte und ihn nicht wirklich ernstnahm.
Vor meinem Auslandsaufenthalt, da habe ich meinen EFD wie ein gleichgroßes Puzzlestück in einem sehr gradlinigen Lebensplan behandelt, wie man es als naive Siebzehnjährige aus der Kleinstadt nunmal so macht. Ja, ich geh’ nach Rumänien, dann studier’ ich, dann mal gucken - Jacke wie Hose.
Zum Teil unterdrückte diese Trivialisierung sicher die Angst von der Fremde, dem kompletten Neuanfang, der mir unmittelbar bevorstand. Denn um eure erste Frage zu beantworten - “Angst” ist zwar kein Charakterzug, aber es ist ein ziemlich starkes Gewürz, mit dem mein Charakter, mein Ich-vor-Rumänien versalzen war.
Als frische Halbwaisin, bei der nichts wirklich gut laufen wollte, als ziemlich einsames Mädchen ohne Selbstvertrauen und mit weit mehr Problemen als Lösungen. Da hatte ich nun eine Chance vor mir, die theoretisch vielversprechend war, sich jedoch eher wie ein weiteres Versprechen zum Scheitern anfühlte. Und die ich deswegen kleinhielt. Angst, schon wieder.
Das ist Teil eins.
Teil zwei - ich hätte mehr Fantasie als die größten Künstler gebraucht, um mir auszumalen, was aus diesem Jahr werden würde.
Im September 2016 kam ich in Rumänien an, mit kleinem Handgepäck und großen Augen. Was macht man beim EFD eigentlich? Wenn man es praktisch betrachtet, nicht mehr als umziehen und arbeiten.
Aber irgendetwas Ungreifbares ist da in der Luft des EVS, das dich - oder mich - zu Abenteuer inspiriert. Zur Überwindung, zum Wagen. Vielleicht der Neuanfang. Vielleicht die urplötzliche Unabhängigkeit. Vielleicht war das rumänische Essen so schwer, dass es mir zu Kopfe stieg.
So oder so. Ich überwand mich.
Indem ich mit jungen Kindern arbeitete und eine unvergleichliche Liebe erfuhr. Indem ich Improv-Theater spielte, für Festivals Reportagen schrieb, mich über ungespültes Geschirr stritt, elf neue Länder bereiste und drei Wochen allein über den Balkan backpackte, das Leben von oben bis unten lebte.
Und indem ich mich kopfüber ins Freundefinden stürzte, fest entschlossen, es zumindest zu versuchen. Indem ich an Parties und Abendessen und Konzerten und Brettspielabenden teilnahm und teilweise auf Fremde auf der Straße zuging. Verrückt, dass das für mich das größte Wagnis war, größer als jede Soloreise, und auch mit Abstand das Beste.
Vor dem EFD hatte ich keine Freunde, mit denen ich nicht Deutsch sprach, die nicht aus meinem eigenen Kulturkreis kamen, für die meine eigenen kulturellen Gewohnheiten - Liebe zu dunklem Brot, eine gewisse Menge Effizienz, ein Hass auf bei-rot-über-die-Ampel-gehen, eine emotionale Distanz gegenüber Fremden, ein Mangel an Patriotismus und so viel mehr - nicht komplett normal waren. Noch viel eher aber hatte ich, das verschlossene Mädchen, keine Freunde, die um halb zwei Uhr morgens vorbeikommen, wenn ich traurig bin, die mich ohne Unterbrechung oder Selbstbezug über meine Vergangenheit reden lassen, die so für mich da sind.
Und am wichtigsten. Ich hatte mich selbst nicht zur Freundin.
“Wenn ich mich selbst kennenlernen würde, ich würde mich nicht ausstehen können”. Dieses furchtbar selbstbewusste Zitat stammt von mir, circa 2015. Und nun?
Der EFD hat mich nicht verändert. Er hat das Schlechteste an mir hervorgebracht und es in den Griff bekommen, und er hat das Beste an mir, auch das tief Vergrabene, hervorgebracht, gefestigt und wachsen lassen. Wenn ich mich jetzt selbst treffen würde, würde eine interessante, intelligente, chaotische und liebenswerte junge Frau auftauchen. Sie ist einfach super. Ich will mich mit ihr anfreunden. Ich will wie sie sein.
Das beantwortet eure zweite Frage. Ich bin jetzt, im August 2017, nach meinem Europäischen Freiwilligendienst, nicht mehr mit Angst versalzen. Ich bin nicht nur mein eigenes Vorbild. Sondern auch meine eigene Freundin.
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https://www.welt.de/gesundheit/psychologie/article154638135
https://link.springer.com/article/10.1007/s10964-016-0479-1
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