OSTEUROPA | Der Traum von der Burg über dem Fluss
13,5 Millionen Jugendliche sind am 1. Mai in die EU beigetreten. Auf dem Weg vom Einheitsstaat in die freie Marktwirtschaft sind sie die größeren Realisten geworden. Aber an ihre Träume erinnern sie sich noch.
Einmal erzählte mir Georgiana aus Rumänien von ihrem größten Kindheitstraum. Als sie klein war, waren auf den Streichholzschachteln, die ihre Eltern zu Hause hatten, Burgen aus Deutschland abgebildet. Große, kleine, verträumte, stolze Burgen, die hoch oben über Flüssen und Tälern auf Gipfeln ruhten, wie Adler, die in ihrem Nest thronen und mit festem Blick in die Welt hinausschauen. Georgiana dachte fortan, ganz Deutschland bestünde nur aus Burgen. Und irgendwann, so träumte sie als Kind, würde sie auch im Land der Burgen leben, in einer Burg heiraten und dort leben.
Wir EU-Kinder sind mehr oder weniger mit der Gewissheit aufgewachsen, dass es und nie wirklich schlecht gehen würde, dass immer einer da sein würde, der uns unter die Arme greift. Meistens verbringen wir unsere Zeit damit, sie totzuschlagen. Von der Werbeindustrie als Zielgruppe umschmeichelt, von den Soziologen jedes Jahr mit einem neuen Etikett à la „Generation X“ versehen, von der Politik als die Zukunft der Nation hofiert, können wir uns nicht über mangelnde Aufmerksamkeit beklagen. Nur tief im Herzen merken wir hin und wieder, dass uns da irgendetwas fehlt. Und irgendwann wollen wir alle nur noch allein gelassen werden, um auf die Suche zu gehen nach dem, was uns am meisten fehlt: Orientierung.
Unsere Altersgenossen in Litauen, Polen, Rumänien – sie alle haben den Kommunismus als Kinder miterlebt. Sie haben noch erfahren, was es heißt, wenn man stundenlang Schlange stehen muss, um ein Stück Fleisch zu ergattern. Wie es ist, eine fremde Sprache zu sprechen, die der Hegemon einem auferlegte. Haben im Sommer drei Monate schulfrei bekommen, um auf dem Feld bei der Ernte zu helfen. Bis dann plötzlich alles ineinander zusammenfiel und eine neue Welt hereinbrach.
Akvile war dabei, als die Panzer der Roten Armee in Vilnius einrückten, um Litauens Freiheitswillen in den Boden zu stampfen. Sie hielt auch eine Kerze in der Hand, wie viele tausend ihrer Landsleute, um für die Unabhängigkeit zu demonstrieren und für eine bessere Zukunft. Der Sieg war triumphal. Doch die Realität holte sie schnell wieder ein. Das Leben wurde erst einmal härter. Die Eltern kauften noch schnell eine Ladung Steine, bevor die Preise explodierten, luden nachts, in aller Eile, die noch warmen Klinker in den Wagen und fuhren zu dem alten Gut der Großeltern auf dem Land, um dort ein neues Haus zu bauen. Denn in der Stadt gab es erst einmal keine Arbeit, auch nicht für die Hochqualifizierten, die Lehrer, Professoren, Biochemiker.
Dann zogen sie die Supermärkte hoch. Einkaufstempel, Paläste des Konsums, wie es sie vorher nirgends gab. Plötzlich gab es alles zu kaufen: Fleisch, wann immer man es wollte, Fertiggerichte, Autos, Parfums, jeden Luxus, den man wollt. Freilich: Leisten konnte sich das nur eine Minderheit. Die meisten leben immer noch in der Zweizimmerwohnung, die für die ganze Familie reichen muss. Die Träume blieben, die Sehnsucht nach dem Gefühl, im Wohlstand zu leben. Im Videoclip von „Ich Troje“, einer der erfolgreichsten Popbands Polens, sieht das dann aus wie in einer kitschigen Kaffee-Werbung: Das Haus mit dem großen Garten, die junge Mutter, die weiße Laken in den Wind hängt, der satt gedeckte Mittagstisch. In Polen sind das wahre Träume.
Die Vorstellungen haben sich an die Wirklichkeit angepasst. Heute sind die Jugendlichen in Osteuropa die größeren Realisten. Irgendwie finde ich sie ambitionierter, disziplinierter, ernster als viele Jugendliche im Westen. Ich erinnere mich an die Schüler in dem Gymnasium in Vilnius, die freiwillig nach einer Stunde Gespräch in den Mathematikunterricht zurückgingen, anstatt weiter mit uns, die als Gäste gekommen waren, über Europa zu reden. In ein paar Monaten stand das Abitur bevor, und da wollte keiner Zeit vergeuden. Zum Schluss fragten wir sie der Reihe nach durch was sie für die Zeit nach der Schule planten – und bis auf eine wollten alle nach dem Abitur ins Ausland, nach Deutschland oder Amerika.
Viele sind schon mehrmals im Ausland gewesen, in Schüleraustauschen oder Sommerfahrten. Sie haben Europa gesehen und kennen sich aus – besser als mancher Jugendliche in Deutschland. „Ich glaube, sie interessieren sich nicht dafür, weil sie schon in der EU sind“, sagte uns Carolina in Warschau. „Sie brauchen das Wissen nicht. Wir wissen, dass die EU wichtig für uns ist, darum interessieren wir uns dafür.“ Und immer wieder gebe es diese Vorurteile: „Als ich das erste Mal in Aachen war, wollten mir die Leute beibringen, wie man die Fernbedienung vom Fernseher benutzt“.
Jugendliche in Osteuropa fühlen sich genauso europäisch, modern und hipp wie andere auch. Nur machen sich im Westen viele noch falsche Vorstellungen vom Osten. Die Polen, Tschechien, Litauer wissen, dass sie es schwerer haben als ihre Altersgenossen im Westen. Umso härter arbeiten sie, schon in der Schule. Der Klassenbeste ist hier kein Streber, sondern ein Vorbild. Denn deutlicher als bei uns haben sie ein Ziel vor Augen: Sie wollen nach oben, wollen Karriere machen, wenn möglich im Ausland. Darum ist das größte an der EU für viele, endlich frei reisen zu können. Dass das für das Arbeiten bislang nicht gilt, macht viele ungeduldig. Denn im Innern tragen sie ihn weiter, den Traum von der Burg, hoch oben über dem Fluss.
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