Mit jungfräulichem Blick
„Ich sehe meine Unterwäsche trocknend von der Decke baumeln und fühle mich in MEINEM Zimmer, in MEINEM Leben, in Spanien. Seit wann fühle ich mich hier zu Hause?“
oder: Claudi bleibt Claudi
Es hat gerade zwölf geschlagen. Ich liege auf meinem Bett, schaue, wie sich das Lampenlicht auf meiner Bettdecke kräuselt und denke starrend vor mich hin. Ich liege in MEINEM Bett – denn es fühlt sich an wie MEIN Bett. Ich sehe meine Unterwäsche trocknend von der Decke baumeln und fühle mich in MEINEM Zimmer, in MEINEM Leben, in Spanien. MEIN Zimmer ist nicht mein “richtiges” Zimmer oder ist es gerade das? Seit wann fühle ich mich hier zu Hause?
Ich glaube, alles fängt mit dem Sich-daran-gewöhnen an. Wenn man bestimmte Situationen mehrmals erlebt, sich an Orten öfter wieder findet, ändert sich die Wahrnehmung. Das erste Mal im Bus zur Arbeit, die erste Nacht im neuen Bett – alles läuft ganz bewusst ab. Man betrachtet die Dinge genau und vor allem irgendwie von außen. Und je mehr man mit ihnen lebt, sich an sie gewöhnt, desto mehr werden sie Teil von einem selbst oder besser: Man selbst wird Teil von ihnen. Die spanischen Popsongs morgens im Bus um mich für den Tag zu motivieren, der Blick vom Fußende meines Bettes in den Himmel jedes Mal wenn ich nachdenklich bin – diese Erlebnisse und Gefühle schlagen sich auf meine Betrachtungsweise der Umgebung nieder. Sie verbinden mich mit meinem neuen Umfeld und geben mir ein Gefühl von zu Hause.
Und das alles geschieht so schnell. Was sind drei Monate im Vergleich zu den letzten 19-einhalb Jahren? Doch scheinbar erschreckend schnell lässt es sich an Neues gewöhnen. Das ist eines von den Dingen, die mich als Frischling in der Welt am meisten überraschen: Man lebt einfach. Man tut die Dinge einfach, die großen wie die kleinen.
13 Jahre existiert dieses große, graue Etwas: Abitur! Dann fange ich doch erst zwei Wochen vorher an zu lernen, schreibe ein paar Klausuren in schicken Sachen und alles ist vorüber…*TICK*
Aber es bleibt wenigstens noch ein Sommer im normalen Leben – scheinbar unendliche Tage - und auf einmal…*TACK*… Flughafen und Auf wieder sehen Gewohnheit.
Eindrücke fluten, Erlebnisse schlagen Purzelbäume. Ich lebe und lebe, sauge ein und sauge auf, ertrinke, schnappe nach Luft und schwimme…
TICK* Der bewusste Moment lässt klar werden, dass soeben drei Monate vergangen sind. Ich habe 1000 Sachen getan, vor denen ich unglaubliche Angst hatte, die ich mir nie zugetraut hätte oder bei denen ich nicht einmal die Möglichkeit ihrer Existenz in Betracht gezogen habe – einfach so. Man tut die Dinge einfach, die großen wie die kleinen. Und so ist dann auch nach kurzer Zeit schon ein neues Land zweite Heimat, völlig unbekannte Personen neue Freunde und ungewohntes Alltag.
So funktioniert das also mit dem großen, grauen Mysterium Zukunft-Schrägstrich-eigenes-Leben; man wandelt nach einigen stockenden Momenten völlig unbewusst immer weiter nach vorn, reagiert auf neue Situationen, lebt sich ein und aus, tut einfach Dinge… Ich hätte mir das komplizierter vorgestellt.
Alles ist offen und es ist so einfach, Entscheidungen zu treffen um damit irgendeine beliebige Richtung einzuschlagen. Außerdem scheint fast nichts endgültig oder abgeschlossen, «Für 180-Grad-Wendungen ist es nie zu spät!»
Jede andere Lebensweise scheint bieder, von verpassten Momenten gespickt. «Lebe deine Träume!»
Doch ohne Fallschirm von der Tragfläche springen? Irrgänge im Dickicht aus Gelegenheiten? Im Erlebnisrausch falsch abgebogen und Sackgasse!
Kann bei diesem Krach im Kopf überhaupt noch jemand LEBEN?
«Con Calma! Du denkst zu viel!» Man tut die Dinge einfach.
Wo auch immer wir beim nächsten *TACK* sein werden, meine Gedanken und ich, lässt sich glücklicherweise nicht erahnen. Jetzt gerade habe ich meinen neuen Heizer in die Steckdose gesteckt, der Geruch nach verbrannten Fliegen erinnert mich an die überhitzende Spiegellampe auf der bestimmt schon das Haarspray schmilzt und der Wecker(!) muss auch noch programmiert werden.
Was wäre das Leben, wenn man die Dinge einfach nur täte (die großen, wie die kleinen) ohne auch ab und an einmal genüsslich darüber nachzudenken… ;)
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