Maža Princesė
Die "Kaunas Cathedral Basilica" Kirche vor unserem kleinen Hinterhof hat soeben zwölf geschlagen und anstatt wie sonst mit Mitternachtstee, liege ich Cinnamonu bandele mampfend im Bett.
Die „Kaunas Cathedral Basilica“ Kirche vor unserem kleinen Hinterhof hat soeben zwölf geschlagen und anstatt wie sonst mit Mitternachtstee , liege ich cinnamonu bandele mampfend im Bett. Vor zehn Minuten kam ich hustend die „šv.gertrudos gatvė“-Straße heruntergepest, um mich nach meinem bislang längsten Arbeitstag zuhause einzumummeln. Eine Gruppe aufmerksamkeitsbedürftiger Jugendlicher ruft mir irgendeine Idiotie entgegen und ich überlege erst, ob es sich wohl lohnt, in meinem Reportoire an litauischen Schimpfwörtern von „F*** dich“ über „Deine Mutter ist ein Schaf“ nach einer passenden Antwort zu suchen, lasse es aber sein und widme mich dem Weg, der mit seinen immensen Eisbergen am Bürgersteigrand, um die sich niemand zu scheren scheint, ohnehin abenteuerlich genug ist.
Halbzeit, nach nun viereinhalb Monaten.
Und es will einfach nicht in meinen Kopf, dass das Leben nicht immer so weitergehen wird wie momentan.
Die Hausmeisterin der Caritas, die mir „Tap! Tap! Tap!“ hinterhersingt, um meine durchaus lächerlichen Gummistiefel auf Treppenstufen nachzuahmen, morgens dreckige Tassen im Waschbecken zu sehen und zerdepperte Leute mit Kater auf dem Sofa im Wohnzimmer, eine Sicht wie ins Nichts, Nichts, außer Felder und Nebel auf der Autobahn, knauserig nachhaken, wer einem nun wieviel Geld schuldet, immer und immer wieder 5´Nizza hören und sich natürlich ab und an nochimmer verloren fühlen, wenn man gerade denkt, jetzt durchschaue man die Sprache langsam.
„Heute italienisch kochen, dann Reggaenacht, hast du Zeit?“
„Möchtest du nicht mal wieder nach Vilnius kommen, dieses Wochenende scheint gut zu werden hier, hast du Zeit?“
„Wir haben eine neue Klientin hier, ihr gehts es gerade nicht gut so alleine in Kaunas, könntest du sie besuchen heute Abend, hast du Zeit?“
Nein, ich habe keine Zeit, sie rennt mir davon, und ich bin nicht schnell genug sie einzuholen, denn zuerst muss noch der Müll herausgebracht werden, hier muss eine Rechnung abgeholt werden, da ein Freund von der Bushaltestelle – und dann finde ich vielleicht endlich die Zeit, der Zeit hinterherzulaufen.
Ich erinnere mich noch genau an unser letztes Gruppentreffen bei der Caritas, als einige der Freiwilligen gefragt hatten, ob sie ihre Mentoren ansprechen sollten, wie sie an Kontakte für verschiedene Freizeitaktivitäten gelangen könnten. Ich hingegen wünschte mir, ich hätte wenigstens die Zeit und die Energie, abends vernünftig Vokabeln und Grammatik zu lernen, oder ein bisschen mehr Geduld die Wohnung sauber zu halten, sodass man nicht über herumfliegende Gabeln stolpern muss. Und doch – eigentlich will ich es ja garnicht anders. Wenn ich wollte könnte ich wohl weniger weggehen, mich weniger um meine Arbeit kümmern, aber ich tue es doch, denn es macht mich glücklich. Und das ist wohl der simpelste und doch wichtigste Grund, wieso ich Litauen so liebe, es gibt mir die Möglichkeit, hier glücklich zu sein, und wenn ich so in mich hineinfühle denke ich, dass ich sie auch nutze.
„Merkst du, Hanna? Wir sind nicht mehr wie früher. Wir verändern uns“ Dienstagmorgen um sechs, es fällt mir schwer die Augen zu öffnen, in zwei Stunden werde ich den Konditionell im Litauischen lernen, meine Kopfhaut juckt und ich fühle rauhe Stellen an meinen Händen, als gehörten sie dort nicht hin. Der SMS-Ton hat mich geweckt und plötzlich bin ich hellwach. Es stimmt, wir verändern uns. Was willst du damit sagen, ist das gut, ist das schlecht, ist es nicht genau das, was den europäischen Freiwilligendienst ausmachen soll?
Ich wachse, kein Wunder dass ich in Litauen schlafen kann wie ein Stein, hier brauche ich den Schlaf ja auch. Ist das nicht etwas ganz normales? Ich wachse an der Verantwortung, mich den Problemen der Frauen mit denen ich arbeite zu stellen, ich wachse an den ganz alltäglichen Tragikomödien des Lebens einem Freund abzusagen, weil man einfach keine Zeit hat, einem Freund zuzusagen, obwohl man keine Zeit hat.
Ein Mädchen aus der Nähe der weißrussischen Grenze lebt nun seit etwa drei Wochen im Kloster in Kaunas. Anfang Dezember wurde sie von einem litauischen Menschenhändler nach Holland verschleppt und musste dort einen Monat lang unter Drogen gesetzt als Prostituierte arbeiten. Am zweiten Weihnachtstag gelang ihr die Flucht aus dem Haus und komplett ohne Kleidung rannte sie so lange durch die Stadt, in der niemand ihre Sprache kannte, bis jemand sie aufhielt und zur Polizei brachte. Völlig verstört lebt sie nun im Kloster, denn sie leidet an einem schweren Trauma und hat Angst vor Männern und großen Wagen, und vor dem Alleinsein. Und ich frage mich – wie habe ich meinen zweiten Weihnachtstag verbracht? Wie hast du deinen zweiten Weihnachtstag verbracht? Seit drei Wochen arbeite ich nun also auch am Wochenende, verbringe Zeit mit ihr, manchmal mehr, manchmal weniger, und natürlich erschöpft mich das, aber ich tue es auch, weil ich es möchte, weil ich merke, wie sehr ich daran wachse.
Die letzte Haltestelle in Richtung Osten, die man mit der Busfahrkarte für Kaunas und seine nähere Region (da die Endung –as im Litauischen männlich ist, ist Kaunas natürlich ein Mann) erreichen kann, nennt sich Žiagždriai. Žiagždriai ist ein winziger Ort, den ich wahrscheinlich nie zu Augen bekommen hätte, stünde dort nicht eine dieser Klötze von Kliniken, die im Charme der ehemaligen Sowjetunion in verwaschenem Grau erstrahlt. Hier wohnt eine Klientin, die vor zwei Jahren nach Deutschland verkauft wurde und seitdem unter schweren Depressionen versucht, von Drogen und Alkohol loszukommen. Ich fühle mich nicht gut, dieses Gebäude zu betreten. Nirgendwo steht geschrieben, wie ich zur Rezeption gelange, die Türschilder schreiben „I moterų skyris“ und „III vyrų skyris“ und helfen mir nicht weiter. Es ist kalt hier in den Gängen, Schächten, wie auch immer man sie nennen will, die Krankenschwestern die mir entgegenkommen sehen mich kalt an, sodass ich mich erst kaum traue, nach dem Weg zu fragen. Es geht durch einen Tunnel in ein anderes Gebäude, in dem ein Deckenlicht nervöse Schatten an den Wänden aufflackern lässt. Ich weiß, dass meine Fantasie oft dazu neigt, mir Streiche zu spielen und Dinge übertrieben wahrzunehmen, aber das hier ist eindeutig kein Ort, an dem man sein möchte.
Während ich mich mit meiner Klientin unterhalte fühle ich mich pausenlos beobachtet, auch sie fühlt sich nicht gut sehe ich, sie verkrampft ihre zitternden Hände in den Schoss, aber das hat wohl weniger damit zu tun, dass sie auch das Gefühl von bohrenden Augen im Rücken hat. „Pss! I am scared! All woman is crazy here!“, raunt sie mir mit riesigen Augen entgegen.
Als ich wieder zurück in der Caritas war und meine Mitarbeiterin mich fragte wie mein Tag gewesen sei, erzählte ich ihr. Anders als erwartet sagt auch sie, ihr sei es dort gleichermaßen gegangen, sie wisse, wovon ich spreche. Aber wenn ich das nächste Mal hinginge, dann würde ich sagen können, dass ich wahren Mut bewiesen hätte, ich würde wachsen! Den nächsten Tag sitze ich telefonierend im Flur der Caritas, als ein hagerer Mann mit Schneuzer zu mir kommt, sich steif verbeugt und in gebrochenem Englisch sagt: „Danke, dass du meine Tochter gestern besucht hast.“
Vor kurzem habe ich mit dem Buch „Mažasis Princas“ angefangen, die litauische Version des kleinen Prinzen. Ich verstehe leider längst nicht alles, aber da ich das Buch bereits kenne kann ich dem Litauischen folgen. Auch wenn man soetwas immer sehr leise sagen muss, weil es sonst schnell lächerlich klingt, hier bin ich mehr kleiner Prinz als ich je zuvor war, höre viel mehr auf das, was ich wirklich möchte, mache viel öfter, was ich wirklich möchte, aber mit Liebe, so wie er sich um seine Blume kümmert, würde ich meine Arbeit nicht für irgendwelche Feiereien im Stich lassen. Irgendwann im November, als ich in einem kleinen Tief steckte und nicht wusste, wie ich herauskommen sollte, hat eine Freundin hier mir eine Leiter gereicht, sodass ich hinausklettern konnte. Sie sagte: „Es ist ganz einfach! Iss, wenn du essen möchtest, schlaf, wenn du schlafen möchtest, reise, wenn du reisen möchtest, all das. Nicht, weil andere es von dir erwarten, sondern weil du es möchtest. Dann bist du glücklich, und nur wenn du glücklich bist, kannst du dich auch darauf konzentrieren, anderen zu helfen.“
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