Mériadeck – Quartier zwischen Beton und Weltkulturerbe
Nicht weit vom historischen Zentrum Bordeaux ragt die graue 80er Jahre Hochhaussiedlungen des Einkaufs- und Verwaltungsviertel Mériadeck gen Himmel - ein auffälliger Kontrast zu der sonst so homogenen Altbauarchitektur der Innenstadt. Warum sich ein Besuch im Viertel lohnt und was wir heute noch vom Urbanismus des 20. Jahrhunderts lernen können.
Im Westen von Bordeaux liegt das Viertel Mériadeck. Die einzige Hochhaussiedlung innerhalb der Stadt fällt durch ihre sperrige 80er Jahre Architektur mit viel Beton, Stahl und gläsernen Fassaden auf. Große Verwaltungs- und Wohnkomplexe überschatten hier das pittoreske Flair von Bordeaux historischen Zentrum, das nur einige Minuten entfernt ist.
Mériadeck gehört mit seiner Architektur, die zum modernen Urbanismus des 20. Jahrhunderts zählt, seit 2007 zum UNESCO Weltkulturerbe. Hier gibt es keine goldverzierten Torbögen, teure Boutiquen oder bordelaisen Chic. Das Viertel ist vielmehr Inbegriff von Alltag: Menschen arbeiten, gehen Einkaufen, wohnen. Es gibt ein großes Einkaufzentrum mit Supermarkt und Modegeschäften, drumherum liegen Büro- und Verwaltungsgebäude und Wohnhäuser. Die Hochhauskomplexe sind durch breit angelegte Terrassen miteinander verbunden. Diese Terrassengänge schlängeln sich um die Wohnkomplexe herum und bilden eine Art zweite Ebene, die allein den Fußgänger*innen gehört. Unten zieht Autolärm und Hektik vorbei, oben gibt es viel Platz zum Spazieren und sitzen mit Blumenbeeten oder kleine Wasseranlagen.
Mériadeck ist ein Platz für ganz verschiedene Menschen. Wenn man so auf den Terrassen spaziert, trifft man Geschäftsleute auf dem Weg zur Arbeit, dazwischen junge Mädchen, die eine Tanzchoreographie einstudieren, Jugendliche, die auf den Steinfließen sitzen und rauchen und Obdachlose, die in einem versteckten Winkel ihre Zelte aufgeschlagen haben. Vielleicht ist das Viertel gerade deshalb so wichtig für die Stadt: Weil es zeigt, dass Weltkulturerbe auch anders, vielfältiger und zugleich alltäglicher sein kann.
Ein visionäres Projekt
Doch trotz Weltkulturerbe-Status ist das Viertel, das zum Symbol eines gewollten Bruchs mit der sonst so malerischen Architektur der Stadt geworden ist, vielen Bordelaise ein Dorn im Auge. Das hängt auch mit seiner Entstehung zusammen. Mériadeck ist das Ergebnis des gewaltigen Zukunftsprojekts des ehemaligen Bürgermeisters Jaques Chaban-Delmas (1947 bis1995). Mit der groß angelegten Modernisierung, die im Jahr 1955 beginnt, will er als Visionäre in die Geschichte eingehen. Für den Bau werden einfache – zu dieser Zeit aber als schmutzig und marode angesehene - Viertel großflächig abgerissen, um einem großen Einkaufszentrum, einer Esplanade und zahlreichen Wohn- und Bürogebäude Platz zu machen, wobei das neue Wohngebiet vor allem für die Oberschicht gedacht ist.
Erste Entwürfe kommen vom Urbanisten Jean Royer, im Jahr 1969 stößt der Architekt Jean Willerval hinzu. Erst jetzt bekommt das zukünftige Viertel seine charakteristische Form: Kreuzförmig angeordnete hohe Bauten mit symmetrischen Strukturen treffen auf weitläufige Terrasen, die ausreichend Freiraum zum Spazieren und Erholen bieten. Der Hauptteil der Gebäude wird zwischen 1970 und 1985 gebaut, die letzten Gebäude werden mit der Neugestaltung im Jahr 2008 und 2012 fertiggestellt. Seitdem ist das Viertel grüner geworden und besser mit dem Rest der Stadt verbunden. Es gibt nun einen Sport-Track, Fahrradständer und der betonierte Platz in der Mitte hat sich in einen grünen Park verwandelt. Heute erstreckt sich das Viertel auf 28 Hektar und zählt 2500 Einwohner sowie 18 000 Angestellte die in 42 Gebäuden leben und arbeiten.
Topaktuell: Die moderne Urbanität des 20. Jahrhunderts
Gerade diese Andersartigkeit, diese ungeschönte Seite der Urbanität, in der sich zwischen den Betonbauten so viele Spuren des Alltäglichen finden lassen, macht Mériadeck so besonders - und so aktuell. Als Inbegriff des modernen Urbanismus ist das Viertel nämlich gar nicht so weit von heutigen Idealen urbaner Raumkonzeption entfernt: Qualitativen und praktischen Lebensraum in der Stadt zu schaffen und Arbeit, Wohnen und Freizeit zu zu verbinden. In Mériadeck können sich die Fußgänger*innen durch die Terrassen frei von Autos und Abgasen zwischen den Gebäuden bewegen, das zentral gelegene Einkaufszentrum versorgt die Bewohner*innen mit allem Nötigen und dazu gibt es ein großes Angebot an Freizeitbeschäftigungen, wie Kino, Bowling, Urban Gardening, Tennis und der gut ausgestatteten Bibliothek.
Auch wenn Mérdiadeck bei Weitem nicht dem klassischen Ideal bordelaiser Architektur entspricht, ist es doch ein genauso wichtiger Teil der Stadt: Weil hier etwas Neues versucht wurde und sich die Visionen sich noch heute im Beton ablesen lassen. Was auf den ersten Blick trist wirken mag, wird einzigartig, wenn man erst die Genialität eines Terrassenlabyrinths erkennt, das den Fußgängern ihren ganz eigenen Weg durch den alltäglichen Urwald der Betonklötze bahnt. Denn es ist einfach ein wunderbares Gefühl in der Stadt zu sein und sich ihr doch fern zu fühlen, alles einmal aus der Distanz von oben zu beobachten, Konsumwahnsinn und Perfektionismus den Rücken zu kehren und sich über der Stadt treiben zu lassen.
Wer wissen möchte, wie Mériadeck vor der Umgestaltung aussah, sollte sich unbedingt die Bildreportage der Lokalzeitung Sud-Oest anschauen.
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