Loslassen und Ankommen
Vom Zurücklassen und neu Anfangen, von neuen Aufgaben und Altbekanntem, von einer ereignisreichen Woche und ganz viel Fika.
Ich sitze gerade auf dem Sofa meiner neuen Wohnung, neben mir Jonas, ebenfalls mit dem Laptop auf dem Schoß, auf Spotify läuft das neue Album von Tonbandgerät und auf dem Couchtisch stehen zwei Teller, auf denen mit Käse belegte Brotscheiben liegen. Dunkles Körnerbrot. Ohne Zuckerzusatz. In Schweden. Da fühlt man sich doch gleich wie Zuhause! Insbesondere, wenn das Brot im Coop um die Ecke mit der Bezeichnung „Deutsches Brot“ verkauft wird. Neben diesem geschmacklichen Heimatgefühl haben aber auch mein erstes Fußballtraining in Schweden und die erste Probe mit dem städtischen Gospelchor das Gefühl vermittelt, hier nach nur einer Woche doch schon einiges zu kennen.
Der Montag begann, wie die letzten 12 Jahre auch schon, mit Schule, jedoch mit dem Unterschied, dass ich nun nicht mehr die Rolle der Schülerin inne hatte, sondern auf der anderen Seite des Spielfeldes beziehungsweise in meinem Fall des Tisches stand. Gedeckt mit bunten Flyern zum ESK und der EU hatten Anna, Jonas und ich es uns zur Aufgabe gemacht, die Schüler des Karlberggymnasiums in Åmål über die vielen Möglichkeiten, die Europa bietet, zu informieren. Das Problem dabei war nur, dass die Smartphones der Jugendlichen wohl viel interessanter waren, als ein Gespräch mit uns. Der Umstand, dass Handys auf den Gängen überhaupt erlaubt waren, hatte Jonas und mich sowieso schon überrascht, aber als Anna uns erzählte, dass die Lehrer in Schweden von den Schülern geduzt und mit dem Vornamen angesprochen werden und der gemeinsame Umgang an Schulen allgemein sehr locker und vertraut ist, hat das uns schon beeindruckt. Immerhin waren wir es gewohnt, zumeist einen respektvollen Abstand zu unseren Lehrer zu halten und mit strengeren Regeln konfrontiert zu sein, gerade was die Nutzung von Handys betraf. Bereits hier hieß es damit für mich, bekannte Trittmuster zurückzulassen und die schwedische Gelassenheit zu übernehmen. Diese wurde noch deutlicher, als bei der politischen Podiumsdiskussion, die anlässlich der Wahlen am Sonntag in Schweden für die Oberstufe stattfand, die geladenen Politiker zum Teil mit Turnschuhen und Kaffee in der Hand auf die Bühne traten. Schüler, die mit Kopfhörern im Ohr und Caps auf dem Kopf zu spät in die Aula kamen, waren dabei nicht einmal eine Seltenheit.
Nachdem wir den Rest des Tages mit organisatorischen Dingen verbracht hatten (Besuch im Rathaus und bei der Bank, Belehrung und Gespräch über unsere Erwartungen), sollte der Dienstag eigentlich im Büro der erste richtige Arbeitstag werden. Anders als geplant musste Anna uns aber mit dem schwedischen Gesundheitssystem vertraut machen, denn Jonas Augen waren seit Tagen schmerzhaft gerötet. Auch hier hieß es für mich deutsche Begebenheiten gegen Schwedische zu tauschen. Geht man in Schweden nämlich zum Arzt, dann bedeutet das nicht automatisch, dass man auch wirklich von einem untersucht wird. Dies ist erst der Fall, wenn ein Krankenpfleger nach einer kurzen Untersuchung im Behandlungsraum die Situation so einschätzt, dass ein Arzt wirklich notwendig ist. So wird bei harmlosen Fällen, wie einem Wespenstich am Arm oder einer kleinen Erkältung Zeit gespart. Dass das diese Woche nicht der letzte Besuch in der kleinen Klinik nahe unserer Wohnung werden sollte, wussten wir an diesem Morgen zum Glück noch nicht und so stürzten Jonas und ich uns danach bis 15 Uhr auf unser erstes Projekt bei der EU-Kampagne „Time to move“.
Folglich wurde nun also der Mittwoch mein erster voller Arbeitstag, den wir zur Gestaltung von Flyern und der Erarbeitung von Fragen für unser geplantes Quiz und eines Vorstellungstextes für die Facebookseite des „Europe Direct Fyrbodal“ nutzten. Diese neuen Aufgaben wurden zwischendurch von zwei Fikor (laut Google die schwedische Mehrzahl von Fika) unterbrochen. Dabei handelt es sich um ein typisch schwedisches Zusammensitzen, wobei belegte Brötchen und Kuchen gegessen und zumeist Kaffee getrunken wird. Eine solche Fika, was für eine Überraschung, sollte auch nach dem Fußballtraining stattfinden, das Anna für mich organisiert hatte und bei dem ich bis auf das Schwedisch auf mir Altbekanntes traf: die gleichen Laufübungen, Kurzpassspiel, Jonglieren. Dabei zeigte sich nur leider einmal mehr meine Begabung, mich schnell zu verletzen und so saß ich am Abend nicht mit den anderen Spielerinnen beim Essen, sondern auf einer Liege beim Arzt. Bei einer unglücklichen Aktion war mein linkes Knie nach Innen weggeknickt und schmerzte nun stark. Die Angst, es könnte sich nach meinem Kreuzbandriss im letzten Jahr am selben Knie wieder um eine schwerwiegende Verletzung handeln, konnte mir der Arzt auf Englisch zum Glück nehmen. Meniskus und Kreuz- und Außenbänder waren intakt, ich hatte mir wohl „nur“ einige Muskeln und Sehnen im Knie gezerrt beziehungsweise überdehnt. Nichtsdestotrotz bedeutet das für mich nun einige Wochen Pause mit dem Sport und damit der Möglichkeit schnell neue Freunde in meinem Alter zu finden.
Eine gute Gelegenheit neue Leute, wenn auch weniger in meinem Alter, kennenzulernen, hatten Jonas und ich dann aber gleich am nächsten Abend bei der Chorprobe des Gospelchors der Stadt, natürlich mit anschließender Fika. Ich hatte den Tag mit hochgelegtem Bein und Kühlpacks zuhause verbracht und war froh, endlich, und wenn auch nur auf Krücken, raus zu kommen. Zwar hatten wir beide bereits Vorerfahrung, was das Singen im Chor angeht, jedoch waren Gospel-Lieder dann doch eher Neuland für uns zwei. Ein Stück Heimat bat sich aber auch hier wieder für mich, denn Atemübungen und solche zum Einsingen sind auch über Ländergrenzen hinweg die gleichen.
Nach einer solchen ereignisreichen Woche waren Jonas und ich nun am Freitag Nachmittag froh uns ein gemütliches und entspanntes Wochenende zu gönnen. Ausschlafen, auf der Couch entspannen, Kaffee in unseren EU-Tassen, die in der Wohnung nicht die einzigen Gegenstände sind, die europäischen Flair versprühen, ein bisschen durch die Stadt schlendern und bei „Josefins Kök“ in der Sonne sitzen und schon voll in Schweden angekommen eine kleine Fika genießen.
Anna hat es am Ende meiner ersten Arbeitswoche schon gut zusammengefasst: Es fühlt sich so an, als seien nicht erst sieben Tage, sondern drei ganze Wochen um! Ich habe einiges in Deutschland zurückgelassen und musste hier mir vertraute Regeln überdenken. Ich habe in dieser einen Woche so viel erlebt, dass ich eigentlich gar nicht richtig die Möglichkeit hatte, mein altes Zuhause zu vermissen. Gleichzeitig wurde mir so viel Vertrauen und Offenheit entgegengebracht und die Chance gegeben meine Hobbys weiterzuführen, dass ich mich hier bisher nicht einmal verloren gefühlt habe. Zwar hätten die beiden Krankenhausbesuche nicht unbedingt sein müssen, aber ich sehe das ganze positiv. So kann es, was das angeht, nur noch bergauf gehen und wer kann schon von sich behaupten, nach nur einer Woche so integriert zu sein, dass dich sogar der Arzt auf der Straße grüßt und nach deinem Befinden fragt?
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