Kulturclash
Das Eisbergmodell.
Inwieweit ist unsere Kultur Teil unserer Identität?
„Deutsche“ gehörte bislang nicht zu den Begriffen, über die ich mich definiert habe. Seitdem ich in Frankreich wohne, fühle ich mich so deutsch wie nie zuvor in meinem Leben. Wir reden oft davon, eine andere Kultur kennenzulernen, aber durch die direkte Konfrontation mit einer anderen Kultur lernen wir auch eine Menge über uns selbst. Erst in der direkten Konfrontation mit einer fremden Kultur realisieren, wir, wie tief und selbstverständlich wir doch in der unsrigen verwurzelt sind.
Auf den EVS - Seminaren wird manchmal mit einem Modell für das Kennenlernen von einer fremden Kultur gearbeitet: Dem Eisberg. Die Spitze des Eisbergs ragt über das Wasser hinaus und repräsentiert all das, was eine Kultur offensichtlich von anderen unterscheidet, all das, was nach außen hin sichtbar ist. Im Fall von Frankreich sind das zum Beispiel Rotwein, Käse und Baguette. Abgesehen von Spezialitäten gehören zur Spitze des Eisbergs aber auch noch die Sprache, die Kunst und die Architektur – kurzgesagt alles, was einem Touristen als „anders“ auffällt, wenn er ein Land bereist.
Das, was die Mentalität eines Landes aber eigentlich ausmacht, ist der große Teil des Eisberges, der unter der Wasseroberfläche verborgen ist. Um diesen Teil zu entdecken, muss man sich schon etwas genauer mit einem Land beschäftigen. Zu diesem Teil gehört beispielsweise die Geschichte eines Landes, die Religion, bestimmte Traditionen und Gepflogenheiten oder zum Beispiel auch das Bildungssystem.
Wenn ich nun von heute auf morgen anfange nur noch französisch zu sprechen, jeden Tag Rotwein, Käse und Baguette konsumiere und den Eiffelturm besteige, bleibe ich doch deutsch und behalte das Selbstverständnis einer Deutschen. Es ist vergleichsweise einfach, sich an „die Spitze des Eisbergs“, an die äußeren Merkmale eines Landes anzupassen.
Das was tiefer geht, sind Dinge, an die man sich nicht so leicht anpassen kann – und auch gar nicht unbedingt will. Eine meiner Seminarleiterinnen auf dem On-Arrival-Training hat dafür ein wunderbares Beispiel angeführt.
Ihre Eltern waren im Besitz einer Bäckerei, und eine der ersten Sachen, die sie in dieser französischen Bäckerei lernte, war: Der Kunde ist König. Wenn ein Kunde die Bäckerei betritt, wird er herzlich begrüßt und man fragt ihn nach seinen Wünschen. Das gehört sich so, das gebietet die Höflichkeit.
Als sie nun ihren Europäischen Freiwilligendienst in Polen machte, erlebte sie dort einen wahren Kulturschock. Beim Betreten eines Ladens wurde sie nicht gegrüßt, wie sie es von zuhause gewohnt war. Sind die Polen also alle total unhöflich? Oder hatte sie etwas falsch gemacht?
Der Grund für diesen extremen Unterschied ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich, sondern findet sich in der Geschichte des Landes. Während in Frankreich schon längst Kapitalismus und freie Marktwirtschaft das Sagen hatten, verschiedene Geschäfte also in Konkurrenz zu einander standen und den Kunden, bei dem praktisch die „Macht“ lag, davon überzeugen mussten bei ihnen einzukaufen, herrschte in Polen lange Zeit der Kommunismus.
Die Kunde hatte nicht die Auswahl zwischen verschiedenen Anbietern, sondern war auf den Ladeninhaber angewiesen, die „Macht“ lag de facto bei letzterem. Ladeninhaber waren schlichtweg nicht darauf angewiesen, ihre Kunden mit besonderem Fingerspitzengefühl zu behandeln, und dies spiegelte sich auch in der Art und Weise wieder, in welcher diese begrüßt wurden – nämlich gar nicht. Obwohl sich seitdem viel in Polen geändert hat, wurden die Gepflogenheiten auf diesem Gebiet dennoch beibehalten.
Nun hat uns unsere Seminarleiterin uns erklärt, hatte sie, sobald sie das gelernt hatte, endlich begriffen, dass die Polen weder alle unhöflich sind, noch, dass sie etwas falschgemacht hätte. Nur weil sie aber nun die Hintergründe für bestimmte Gepflogenheiten versteht, heißt das nicht, dass sie diese für gut befindet. Sie ist nach wie vor der Meinung – unabhängig von der Geschichte in Bezug auf Kapitalismus oder Kommunismus – einen Kunden oder einen Verkäufer bei Betritt eines Geschäftes zu betreten, ist ein Zeichen von Höflichkeit und Respekt.
So lernen wir, wenn wir über eine andere Kultur lernen, genauso über uns, über das, was uns wichtig ist, über die Aspekte unserer Kultur, die wir schätzen und die uns ausmachen.
Beispielweise herrscht bei uns eine große Vorsicht, wenn es um das Thema „Krieg“ geht. Aufgrund seiner Geschichte wird in Deutschland das Thema Krieg immer noch mit Fingerspitzengefühl behandelt. Jeder Überlegung um Beteiligung der Bundeswehr gehen große Diskussionen voraus: „Darf sich Deutschland überhaupt an diesem Krieg beteiligen? Sollte es dies vielleicht sogar, ist es moralisch richtig? Kann eine Beteiligung an einem Krieg moralisch richtig sein? Kann es auch moralisch falsch sein, sich nicht an einem Krieg zu beteiligen?“
Ich finde das gut. Ich bin der Meinung, Krieg ist ein Thema, das immer mit Umsicht behandelt werden muss und ich finde es wichtig, dass über solche Fragen diskutiert wird. Auch wenn wir beispielweise vergleichen, wie der Tod von amerikanischen Soldaten im Vergleich zu dem Tod von deutschen Soldaten in den Medien des jeweiligen Landes dargestellt wird, erkennen wir, dass, obwohl die Zeit des Nationalsozialismus und des zweiten Weltkrieges schon viele Jahrzehnte zurückliegt, sie doch bis heute nachwirkt und wir von einer Glorifizierung des Krieges weit entfernt sind.
Wenn wir in einem anderen Land leben, lernen wir nicht nur seine Kultur kennen. Wir beginnen auch, die unsere zu hinterfragen und besser zu verstehen.