It's all about people
Heimat ist kein Ort, sondern wird von Menschen geschaffen, die uns uns zu Hause fühlen lassen.
„E-ho! Marooooon!“ Langgezogene Vokale, sch-Laute, Rufe über die Straße, Hektik, Gewusel. Regen, Koffer schwer, Arme fallen gleich ab. Große Kreuzung, Autos hupen, Motorräder überholen, los, einfach rüberrennen, passiert schon nix. Regen, Lärm, Chaos, sorry, is that the right bus?, reinklettern, hinsetzen, durchatmen. Ankunft in Neapel, März 2013. Winterwetter und Streik der öffentlichen Verkehrsmittel heißen mich willkommen. Die Reise geht langsam voran. Bis in das 400-Seelen-Dorf, das für acht Monate mein Zuhause sein soll. Nach ein paar Tagen, Anruf zu Hause. Mein Deutsch ist weg und dem EVS-Sprachenmix gewichen. Ja, die Landschaft ist so amazing, die anderen Volontäre really nice, die Organisatoren wirklich herzlichsten people die es gibt. Das Meer ist bellissimo. Alles ist aufregend und neu, alle sind energiegeladen, glücklich, motiviert.
Zunächst ist es ein Urlaubsort, dann wird er zur Heimat. Die Umgebung, Sprache, Gestik werden vertraut. Fremde Menschen werden zu Freunden. Man wird selbstsicherer, mit dem Verständnis der Sprache kommt auch ein Gefühl fürs Zuhause sein. Kulturschock würde ich es nicht nennen. Manche Dinge sind einfach anders. Sich einzugewöhnen fällt nicht schwer. Man saugt Eindrücke in sich auf, die ersten Wochen sind die intensivsten. Richtig anzukommen ist ein Spiel aus Anpassung an lokale Sitten, ein persönlicher Karneval des Nachahmens. Zuhause in der neuen Heimat fühlt man sich, wenn einem Freunde von daheim sagen, man sei ja italienisch geworden. Wenn man ohne einen Espresso morgens zu nichts fähig ist, gestikuliert, auf Neapolitanisch flucht oder „Daiiiiii“ ruft, um andere aufzumuntern. Und peu-à-peu, verändert man sich wirklich im Inneren selbst, ohne es mitzubekommen. Indem sich die Sicht auf die Welt verändert, man vieles nicht mehr so kompliziert sieht, Probleme auch einfacher zu lösen sind, wenn man sie optimistisch betrachtet. Aber richtig zu Hause ist man erst ab dem Moment, in dem die anfängliche Euphorie einer alltäglichen Routine weicht, mit der Zeit nicht mehr alles toll und amazing ist und man beginnt, Dinge auch kritisch betrachten zu können. Denn dann ist man eben nicht mehr nur im Urlaub, sondern richtig angekommen. Und das neue Land ist auch ein Zuhause geworden, mit all seinen liebenswerten Vor- und Nachteilen.
Ich sitze in der Circumvesuviana, dem Neapolitaner Vorortzug und fühle mich fremd. Alle sprechen Dialekt, es ist voll und stickig, der Zug aus den 70-jahren kommt langsam voran. Türen und Fenster klappern laut. Der Sound von Neapel. Durch die engen Gassen laufend, ein Panorama aus Balkonen, Satellitenschüsseln, Wäscheleinen. 14-jährige rasen auf Motorrädern hindurch, Müll liegt herum. Zigarettenrauch, Kaffeegeruch, Weichspülerduft ziehen durch die schattigen Straßen. Der Geruch Neapels. Alle sind draußen, getrieben von innerer Unruhe und ansteckender Energie. Herzlich, offen, freundlich. Offene Haustüren, drinnen eine Kontrastwelt aus Heiligenbildern an der Wand und Gemütlichkeit. Ein Schutz gegen die Aufgebraustheit der Straße. Komm herein, möchtest du einen Kaffee? Lass uns kochen oder eine passeggiata machen. Schau, wie die Küste aus Kalkstein im Abendlicht golden schimmert! Lass uns ein Lagerfeuer machen, Mozzarella grillen, vino di casa probieren! Lass uns die Sterne anschauen, tauchen gehen, am Strand übernachten, Tarantella tanzen! Lass uns Freunde einladen und Europa an einem Tisch versammeln! Lass und den Moment genießen, lass uns unsere Freundschaft feiern und uns für die Schönheit der Natur einsetzen! Andiamo! Forza, ragazzi, let's do it!
Und zack, ist November. Ich sitze in der Berliner U-Bahn und fühle mich fremd. Niemand spricht, alle mit Musik in den Ohren. „Tür schließt“, sagt die Durchsage. „Endhaltestelle. Bitte alle aussteigen“. Der Sound Berlins. Die Zeit hier scheint stehen geblieben, nichts hat sich verändert. Die selben Gerüche, die selben Gesichter. Die Rückkehr ist der wahre Kulturschock. Alle denken ans Ankommen in der Fremde und dort Anschluss finden. Die wahre Herausforderung kommt für mich danach. Da ist klar die Freude, Menschen, die einem lieb sind wieder zu sehen. Aber vor allem ist da erst einmal Orientierungslosigkeit, Suche nach Aufgaben, Nachdenken über das Erlebte. Und realisieren, wie sehr man sich selbst in dieser Zeit verändert hat. Ja ja, das sagen alle wenn sie zurück kommen, aber richtig nachvollziehen kann man es eben doch erst, wenn man es selbst erlebt hat.
In der Fremde hast du Abstand gehabt, um zu lernen, was dir wirklich wichtig ist. Die Ruhe gefunden, manches anders zu sehen. Dir erscheinen Sachen unverständlich, die du vorher normal fandest. Du kannst vieles in deiner „ersten Heimat“ nicht mehr nachvollziehen. Du bist von Reiselust getrieben. Deine Freunde erkennen dich teilweise nicht wieder. Du bist eine Weile orientierungslos und weißt nicht, was du willst. Und mit der Zeit lebst du dich wieder ein. Du lernst wieder kleine Dinge zu schätzen, von denen du erst jetzt merkst, dass du sie doch vermisst hast. Das dauert allerdings viel länger als das Ankommen in der Fremde. Und kann nur dank der Freunde und Familie von vorher gelingen.
Stets sind wir auf der Suche nach einem Ort, an dem wir uns am wohlsten fühlen und nennen diesen Heimat. Meist ist dieser Ort der, an dem wir geboren wurden oder unsere Familie lebt. Heimat ist jedoch nicht unbedingt ein Ort. Heimat wird von den Menschen gemacht, die um einen herum sind und kann daher ständig neu erschaffen werden, in jedem Moment, egal wo. Denn das was zählt, sind die Menschen um einen herum, die einen sich zu Hause fühlen lassen. Um das selbst zu erleben, musste ich mich für eine Weile nirgends zu Hause fühlen, um dann zu akzeptieren, dass ich mich nicht für eine Heimat entscheiden muss, sondern stattdessen mindestens zwei Heimaten habe, in denen Freunde und Familie auf mich warten und mit denen ich tausende Erinnerungen verbinde. Unendlich viele, spontane Heimaten hat die EVS-Generation, obwohl die Grammatik eigentlich nur eine kennt. Und das ist ein wunderbares Geschenk.
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