"How are youuu?"
"Du lebst also hier im Ghetto." - Die Feststellung eines ehemaligen Anwohners, der jetzt mit einem vollausgestatteten Jeep vorfährt, trifft mich dann doch volle Breitseite. Kurzzeitig fällt meine Kinnlade und öffnet das Tor zur Unterwelt. Ok, stopp! Allerdings fällt es mir wenige Sekunden später tatsächlich schwer eine andere Antwort zu finden, als "Nee, ist ja schon meine Heimat."
2:50 Uhr morgens, Samstag: Ein Festumzug zieht vorbei an meinem Fenster. Traditionelle weiß-schwarze Trauerkleider werden von den Frauen getragen. Die Männer spielen Rhythmen auf Trommeln und der traditionellen Glocke, außerdem zündet jemand im 10-Sekunden-Takt ein Feuerwerk, was einem Kanonenschlag zur Silvesterzeit gleichkommt. Ein Festumzug wie er sich hier zu einer Beerdigung gehört. Ich taumel zurück zu meinem Bett und denke nur einen kurzen Moment: "Warum denn unbedingt 3 Uhr nachts?" Dann finde ich mich wieder ein, in die geschäftige Ruhe (niemals Stille) meines Viertels und diene noch ein paar Stunden als Staubfänger auf meinem Bettlaken.
James Town, ja dieser Ort schläft niemals ganz. Wenn man mittendrin wohnt, so ist immer Action um einen herum. Der Alltag und das Leben findet hier auf der Straße statt, drinnen wird nur geschlafen und Privatsphäre ausgekostet. An jeder Ecke bekommt man Früchte und frisches Essen, Unterhaltung inklusive. Die vielen Menschen sind bunt/traditionell gekleidet und reden lieber über die kulturellen Eigenarten unserer verschiedenen Länder als übers Wetter, ist ja auch viel interessanter! Gleichzeitig hört man immer irgendwo Musik. Ob das jetzt von der Fried-Rice-Bude kommt, die ihrem Essen kilometerweit Ehre machen will oder doch nur vom Nachbar, der sich für nächsten Sonntag eine Musikanlage ausgeliehen hat und einfach mal seine Bob-Marley-Playlist durchlaufen lassen möchte. Hörst du keine Musik, dann schläfst du oder schlimmeres :D .
Und sobald die Sonne aufgeht und die meisten Bewohner ihre Wellblechdach-Häuser verlassen, so umgibt wieder das geschäftige Treiben des Alltags das Viertel. Und ja, dass betrifft alle, auch wenn mir das Gespräch mit einigen lokalen Jugendlichen aufzeigt, wie schwer es ist richtige Arbeit zu finden. Erst dieser Austausch führt zur Feststellung: Die Menschen haben es hier echt nicht leicht. Jeder Arbeitstag ist erneut essentiell für die Versorgung der Familie! Und auch auf die Art der Unterbringungen werde ich erst aufmerksam, nachdem ich andere Stadtteile gesehen habe.
Heißt es nicht der erste Eindruck zählt? Nun ja, außerhalb des Flughafens war dieses James Town der erste Eindruck, den ich von Accra, Ghana bekam und auch wenn ich es jetzt mal müde, mal aufgedreht, mal allein, mal mit Kumpanen durchschreite, so ist es immer noch der stärkste Eindruck...kann man das direkt schon Heimat nennen? Meinem Gefühl ist auf jeden Fall nicht zu trauen, denn entweder bin ich erst gestern hier von einem anderen Planeten gelandet oder ich wohne hier schon seit meiner Kindheit. Beides könnte stimmen. Zumindest bestaune ich alles mit Kinderaugen. Und werde von denselben auch bestaunt. Ich brauch keine 5 Meter gehen und höre ein freudiges "How are you?" und erblicke, wenn ich mich umsehe, dazu ein strahlendes Kinderlächeln. Das ganze Szenario wiederholt sich so gefühlte 50 Mal am Tag. Und nein, nach dem 10. Mal fragt man sich nicht nach einem Fehler in der Matrix sondern beginnt die Kinder zu unterscheiden, die einem da täglich begegnen. Eigentlich dreist, dass man sie bis dahin so ausblendet, aber schließlich ist dies doch eine Situation, mit der man erst einmal ungewohnt konfrontiert wird. Dennoch zaubert es einem immer wieder ein Lächeln auf die Lippen, wenn man nach einem langen Arbeitstag durch die Gassen schleicht, auf der Suche nach Reis und Baa Flo (googlet doch selbst) und man ein gehauchtes "Hey Thomas" aus dem grinsenden Gesicht einer 5-jährigen abbekommt.
Aber jetzt mal ganz knallhart ohne niedlichen Kinderbonus: Bei den Erwachsenen ist es das Gleiche. Laufe ich durch meine Nachbarschaft so höre ich von den verschiedensten Ecken "Nii Lante!!!" (mein Ga-Name), werde beim Toilettenpapier kaufen in Ga unterrichtet, wird mir ein Getränk angeboten, oder ich werde einfach nur gefragt ob ich Lust auf eine Runde Tischtennis habe. Hier muss man kolonialistische Schubladen bedienen und auf meinen Phänotyp als europäischen, privilegierten Weißen hinweisen, der natürlich auch mit einer Wirkung einhergeht (Die stetig aktuellen kolonialistischen Strukturen werden noch oft Thema sein.) und dem daraus folgend Interesse entgegen gebracht wird. Wohl aber entspricht der Wahrheit auch, dass ich zwar erst einmal fremd wirke, aber schon deutlich zur Nachbarschaft gehöre, aufgenommen bin in diese Community, die vor innerer Kraft nur so strotzt. Denn trotz der vielen Probleme, die der Stadtteil tatsächlich aufweist, so teilen die Leute diese, teilen die Philosophie und ihr Hab und Gut. Naja, wir wollen hier nicht gleich das Bild einer kommunistischen Utopie aufkommen lassen und auch nicht die Armut romantisieren. Nein, im Gegenteil. Fakt ist aber, die Gemeinschaft trägt hier alles. Jeder kennt jeden. Ja auch sicher den Cousin der Tante des Kokosnuss-Verkäufers von nebenan. Sicher. Selbst der zu Beginn zitierte, ehemalige Anwohner fasste es (fast) treffend zusammen mit den Worten: " Siehst du die Menschen da drüben? Lass uns einen Kampf anfangen und sie werden herüber kommen und für dich mitkämpfen, denn sie kennen dich." (Nicht, dass ich das vorhätte :P ).
Diese Gemeinschaft hält zusammen und sorgt sich umeinander. Neulich lag ich krank niedergeworfen auf meiner Matratze und mein Co-Boss kam extra zu mir nach Hause um nach mir zu sehen und auch andere neugewonnene Kumpanen sprachen mir unter anderem ihre Gebete zu. Als schließlich die aufgesuchte Ärztin zum Abschluss ihres Diagnose-Gesprächs die Frage stellte, was mir denn soweit am meisten gefalle hier in Ghana und ich kurz überlegen musste, ob die Frage provokant-routiniert oder interessiert-ehrlich gemeint war, so konnte ich dennoch nur antworten: Die Menschen. Denn auch wenn hier jeder schwere Geschichten im Gepäck hat und wöchentlich eine Beerdigung gefeiert wird, so ist dennoch der Umgang ein warmer, offener, menschlicher und jedes "God bless you!" bringt Kraft für die Herausforderungen des Tages in dieser Umgebung.
So und jetzt wage ich mal die in den Fahrstunden viel geübte Gefahrenbremsung. Stop!!! Denn über lokale Zustände und Peripherien lassen sich ganze Romane schreiben, ohne dass ihr euch hinterher die Realität annähernd vorstellen könnt. Außerdem fällt es immer erschreckender Weise zu leicht NUR Unterschiede aufzuzeigen und den Gemeinsamkeiten ihre Kraft am Gesamtbild abzusprechen. Deshalb lass ich das Fenster der Imagination mal offen, damit ich noch in zukünftigen Blogeinträgen von der frischen Brise schöpfen kann! Und außerdem will ich ja von der nächsten Parade aus nächtlichem Somnus erhoben werden. Also haben wir eine Win-Win-Situation!
Bis bald
ThomasKojo
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