Honeymoon
Bestandsaufnahme nach 9 Tagen im neuen Zuhause - Wo sind die negativen Gefühle?
Das muss dann wohl diese Honeymoon-Phase sein, auf die ich beim Ausreiseseminar in Stuttgart vorbereitet worden bin. Die anfängliche Aufregung und Euphorie, die bereits einige Zeit vor Abreise eintritt und nach einigen Wochen in der neuen Umgebung in eine Krise umschlägt. Fremde Kultur, fremde Menschen, fremde Sprache, das alles wird nach einer gewissen Zeit anstrengend und überfordernd und führt zu Unzufriedenheit, Zweifel, Heimweh. So die Theorie. Hat man diese Krise bewältigt und beginnt, sich an die neuen Umstände anzupassen, setzt dann irgendwann die Entspannung ein, die es zulässt, sich wohlfühlen. So wohl, dass sich dieser fremde Ort wie Zuhause anfühlt, vielleicht sogar so wohl, dass man sich nicht vorstellen kann, dieses Abenteuer jemals wieder hinter sich zu lassen. Das alles ist die Theorie.
Meine persönliche Realität fühlt sich anders an. Auf einen Zettel sollen wir unsere Erwartungen schreiben, unsere Stärken, Ziele und Ängste. Ich habe keine Angst, so sehr ich auch in mich gehe. Jeder von uns hat Ängste hinsichtlich der kommenden Monate, sagen sie, vielleicht bist du dir nur nicht darüber bewusst. Aber ich habe keine Angst. Seit neun Tagen lebe ich jetzt in einer Wohnung in einem schäbigen Plattenbau, zusammen mit einem Österreicher und zwei Franzosen. Wir haben keine Mikrowelle, keinen Staubsauger, keinen Wasserkocher, manchmal kein warmes Wasser, dafür aber Schimmel in der Dusche. Und trotzdem fühlen sich diese Räume und die Menschen, die ich seit neun Tagen kenne, jetzt schon wie mein Zuhause an. Unser Büro ist in einem anderen schäbigen Plattenbau, wir teilen es mit Deutschen, Franzosen, Italienern, Rumänen, Spaniern, Jordaniern. Wir sprechen nicht die gleiche Sprache. Wir sollen in einer Sprache, die wir alle sprechen, aber keiner von uns beherrscht, über unsere Erwartungen reden, über unsere Stärken, Ziele und Ängste. Die größte Angst meiner französischen Mitbewohnerin ist es, in sechs Monaten zurückzublicken und das Gefühl zu haben, nicht das Bestmögliche aus dieser Zeit gemacht zu haben. Aber nicht einmal davor habe ich Angst. Ich fühle mich rundum wohl in meinem neuen Zuhause, tauche jeden Tag ein Stückchen weiter in dieses fremde Land ein, bin neugierig und dankbar. Ich habe meine Komfortzone zu hundert Prozent verlassen und bin vielleicht glücklicher, als ich es jemals zuvor gewesen bin. Und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ich im kommenden halben Jahr mit Unzufriedenheit, Zweifel oder Heimweh zu kämpfen haben werde. Vielleicht hält meine persönliche Honeymoon-Phase ja für ganze sechs Monate an.
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