Großfamilie
Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit steht grey am Samstagmorgen um kurz nach sieben auf, um einer Großfamilie bei der Weinlese zu helfen. Es wird ein unvergleichlicher Tag.
Wenn mich jemand Zuhause gefragt hätte, ob ich an einem Samstagmorgen um acht Uhr bei der Weinlese mithelfen möchte, hätte ich ihn vermutlich für verrückt erklärt und lächelnd abgelehnt. Hier ist dagegen sehr vieles anders.
Hier in Ungarn stehe ich extra um 7.15 Uhr auf, um an einem wunderschön sonnigen Samstagmorgen einer Großfamilie, bestehend aus acht Einzelfamilien, von denen sechs hier in Tótvázsony leben, Chef 1 Szilárd und Chef 2 Fecó gehören auch zu dieser Großfamilie, bei dem Abernten ihrer Weinreben zu helfen. Und ich bin noch verdammt müde. Verglichen mit der ersten Woche war die zweite nicht nur wesentlich besser, gesellschaftlicher, geschäftiger, sondern auch anstrengender.
Ich habe immer noch Muskelkater vom Reiten und weil die Hühner hinterm Haus und das Licht mich jeden Morgen zwischen sieben und acht Uhr wecken, nützt es mir wenig, dass ich letzte Woche meistens erst um zehn Uhr habe anfangen müssen. Dennoch schaffe ich es tatsächlich aus dem Bett heraus und pünktlich vor die Haustür. Wir müssen ein wenig ins Hinterland fahren. Dort gibt es Unmengen an Gärten und kleine Grundstücke, auf denen Weinreben wachsen.
Über einen verwaschenen Naturweg mit Unmengen an Schlaglöchern und einem Berg, bei dem ich schon glaube, jetzt gibt das Auto gleich seinen letzten verbliebenen Hauch an Leben auf, gelangen wir schließlich zum Grundstück der Szendreis und der anderen Familienteile.
Die Reben sind schwer behangen und wir haben jede Menge zu tun. Ich arbeite zusammen mit Martschie (sie heißt eigentllich Maria). Sie ist Szilárds Frau und wird im Dezember ihr erstes Kind bekommen. Entsprechend rund ist ihr Bauch. Sie ist eine ganz Liebe und war selbst schon ein paar Mal in Deutschland. Auch schon mal ein ganzes Jahr am Stück. Ich habe daher das Gefühl eine Verbündete in ihr zu haben. Und das tut gut.
Irgendwann zwischendurch gibt es Frühstück. Für mich ist es bereits das zweite, aber wesentlich leckerere. Es gibt selbstgemachte ungarische Wurst. Die bisherigen Fleischprodukte, die ich aus Ungarn probiert habe, haben stets extrem nach Schwein geschmeckt. Aber diese Paprika-Schwein-Bauernwurst war einfach genial. Dazu gibt es wie bei allen Mahlzeiten Kuchen. Unser Mahl wird begleitet von riesigen Vogelschwärmen, die mindestens 500 Tiere umfassen. Szilárd erzählt, dass diese Vogelschwärme sehr gefährlich für die Weinreben und auch das Obst sind, weil sie alles abfressen. Ich lerne auch, dass man aus einem Kilo Trauben etwa 0,6 Liter Most gewinnen kann.
Wir brauchen ziemlich lange, bis wir alle Trauben abgeerntet haben. Um 13.15 Uhr geht es zurück nach Tótvázsony, zu Szilárds Haus. Mittagessen. Im Garten auf einer Plane liegen Unmengen von Trauben, die Ausbeute des Tages. In einem kleinen steinernen, tiefer gelegten Keller, werden die Trauben bereits von Familienangehörigen, einer davon ist Antonio, mithilfe von einer Maschine zerstampft und gepresst, um Most zu erhalten (der Saft schmeckt wunderbar). Ich probiere das erste Mal Lamm und ein altes schwäbisches Kartoffelrezept: Kartoffeln abkochen, zusammen mit Mehl zerstampfen. In einer gesonderten Pfanne kleine Zwiebeln anbraten. Salz und Pfeffer in die Kartoffel-Mehl-Masse. Mit Löffeln Eier aus der Masse formen und in der Pfanne herausbacken. Schmeckt echt super! Auch das Lamm war total lecker – aber eigentlich hatte ich es eher auf Weißbrot mit Paprika-Schwein-Bauernwurst abgesehen;).
Der Mittag in der Familie tat mir wirklich sehr gut. Ich habe mich überraschend wohl gefühlt, was vielleicht auch daran lag, dass Tünde und Thomi (Thomas(ch)) gut Deutsch sprechen. Das eine oder andere beginne ich auch auf Ungarisch zu verstehen. Thomi ist etwas verrückt. Manchmal finde ich es komisch, dass ein 24-jähriger auf Digimon steht, aber gut. Er ist auf jeden Fall ein Lieber und er bringt mir ungarische Wörter bei. Ich freue mich auch auf heute Abend. Im Jugendraum gibt es ein kleines Zusammenkommen. Das bedeutet eine neue Gelegenheit für Kontakte. =) Soviel im Moment zu mir, live aus Ungarn! Die Rezeptsuche wartet noch auf mich. ;)