Glasgow I – Mut zum Risiko
Ein Risiko. Glasgow ist ein Risiko. Anders als Stirling, Edinburgh, London, York bin ich mir nicht sicher, was mich erwartet; ob es sich lohnt, das gesamte vorletzte Wochenende zu investieren. So viele negative Meinungen, einige wenige positive. Doch wohin sonst soll ich gehen? Zeit für Glück.
Ein Risiko. Glasgow ist ein Risiko. Anders als Stirling, Edinburgh, London, York bin ich mir nicht sicher, was mich erwartet; ob es sich lohnt, das gesamte vorletzte Wochenende zu investieren. So viele negative Meinungen, einige wenige positive. Doch wohin sonst soll ich gehen? Zeit für Glück.
Donnerstag: Der Engel aus Stahl
Donnerstag hieß es noch einmal, mit dem Working Holiday auf Beacon Hill gehen, wo mein Team seine Arbeit fast beendete und der Deutsche sich erfreulich fern hielt. Die Gruppe hat sich doch noch als ganz brauchbar herausgestellt. Wir hatten einen recht lustigen Tag bei allerschönstem Wetter über der Nordsee und ich bin mit ihnen nach Newcastle zurück gefahren, wo sie ja auf dem Weg zu ihrer Unterkunft sowieso lang müssen. Auf dem Weg haben wir beim „Angel of the North“ Halt gemacht, wo ich trotz eines Jahres in der Nähe von Newcastle noch nie gewesen bin.
Mir hat er auch von Nahem gefallen. Gut, er ist nicht besonders schön, aber schließlich ist auch Newcastle nicht hübsch im herkömmlichen Sinne und ich finde er repräsentiert die Stadt sehr gut. Mit all seiner Wucht aus 20 Meter hohem Schiffsstahl bringt er die Geschichte der Region und den Charakter Newcastle’s sehr gut rüber. Auch dass er irgendwo am Rand der Stadt steht, zwischen schmutzigen Autobahnen, passt. Auf diese Weise kommt niemand auf dem Weg nach Norden an unserem Wahrzeichen vorbei ohne genau zu wissen, wo er ab jetzt ist. Wir hatten einen Studenten der feinen Künste dabei, der hat dem ebenfalls zugestimmt - also!
Freitag: Der Tagedieb
Nach einem vernieselten Freitag auf Gibside ging es abends los nach Glasgow, fast drei Stunden lang im Zug. Zu Beginn regnet es zwar, auf dem Weg nach Schottland klarte es aber wie durch ein Wunder wieder auf. Sollte ich etwa noch einmal soviel Glück haben wie in Stirling? So konnte ich eine seit langem mal wieder neue Aussicht durch das Fenster betrachten und ich mochte die schottische Heide im Abendlicht. Ebenfalls seit langem bin ich wieder etwas aufgeregt, fahre nicht mehr routiniert in Bahnhöfe ein, die ich schon lange kenne; Strecken, die ich schon oft gesehen habe; beobachte aufmerksam jeden Zentimeter des Weges. Wieder eine neue Landschaft, eine fremde Stadt. Fremd. Das ist es, was ich wieder fühle, dass ich nicht mehr in dieses Land gehöre. Als wenn ich auf gestohlener Zeit lebe; Zeit und Platz auf die bereits andere ein Recht haben. Der Blick hinaus auf die hässlichen Straßen erinnert mich an Manchester, die erste Stadt in die ich fuhr.
Der Zeitraffer
Ich finde mein Hostel ohne Probleme und verbringe dank meiner neuen Ohrenschutzausrüstung eine ungestörte Nacht. Als ich aufwache, kann ich bereits die Tropfen gegen die Scheibe prasseln hören. Ein Blick aus dem Fenster: vom tief liegenden Himmel hängen Strippen als wenn zehntausend Marionetten durch Glasgow geführt werden. Hätte ich doch nur Spanier hier, denen nichts die gute Laune verdirbt. Stattdessen nur eine Klasse Franzosen. Die sind zwar auch nicht schlecht, aber nicht dasselbe. Aber was soll man machen, zumindest gibt es Frühstück - immerhin eine Sache, um die man sich diesmal nicht kümmern muss. Und dann geht es wieder los zu einer weiteren endlosen Tour zu Fuß. Zum Glück fasse ich es diesmal etwas zusammen (ich sage nicht kurz) da ich wenig Zeit habe.
Die Clyde: Einen Anfang machen
Also, zuerst zurück ins Stadtzentrum und zur Touristeninformation um einige Ideen und Karten zu besorgen, denn mal wieder habe ich meinen Besucherführer vergessen. Keine fünf Minuten stehe ich in dieser Präsentationsstelle schottischen Nationalbewusstseins, da marschiert auch schon die erste Abteilung stolzer Bürger in Kostümen am Schaufenster vorbei, mit einer großen blau-weißen Fahne vorweg. Glasgow ist etwas schwierig für Kurzausflüge, denn es ist voll von Museen und Galerien, hat aber vergleichsweise wenig zugängliche historische Bauten, Monumente und Kirchen. Das ist zwar an sich kein Problem, aber wenn ich nur eineinhalb Tage vor Ort bin, sind Museen sinnlos, da ich grundsätzlich Stunden darin bleibe und alles lese, sonst braucht man ja gar nicht erst anfangen, zu lernen. Außerdem wogten am Himmel Sonne und Wolken hin und her und bei halbwegs gutem Wetter will ich nicht drinnen hocken, da können so viele originale Dalis rumhängen wie sie wollen. Darum lieber runter zum Fluss - immer ein guter Anfang. Glasgow hat etwa sieben Brücken, aber keine kann es nur ansatzweise mit Newcastle aufnehmen, genausowenig wie die Clyde selbst mit unserer Tyne. Das war alles klein und beschaulich und etwas schmutzig.
Dasselbe, nur anders: Besuchsversuch
Am Fluss entlang wollte ich dann zum Stadtpark, dem Glasgow Green, und bin auf dem Weg an der zentralen Moschee vorbeigekommen. Dort habe ich ganz spontan mal reingeschaut, weil ich noch nie in einer gewesen bin. Weil die Situation für Muslime hier drüben gerade ein wenig schwierig ist, hab ich ganz höflich nachgefragt ob ein Besuch möglich ist. Bei allen Kulturunterschieden ging es auch hier den gewöhnlichen Weg: Niemand wußte wirklich Bescheid und jemand anders ist zuständig und, nein, der ist gerade nicht da und - ähm, nein, lieber nicht. Na gut, lieber nicht. Dafür hatten sie schöne bequeme Sessel und ich hab mich mit dem kleinen Ali unterhalten, oder es zumindest versucht. Wir hatten einige Verständigungsprobleme, denn Ali sprach: Schottisch. Der hat mich gleich nach sämtlichen Details über Deutschland ausgefragt und sich wahrscheinlich nichts gemerkt. Warum auch.
The Glasgow Green: Rock im Park
Weiter zum Glasgow Green, wo der sogenannte „People’s Palace“ steht, der Volkspalast. Ich bin ja vor kurzem zu einem Fan von Großstadtparks geworden, nur leider war dieser hier fast völlig belegt. Denn gerade heute fand das „Weltfestival des Dudelsackspielens“ statt und zum Palast konnte man nur durch einen kleinen Korridor, den Park selbst gar nicht sehen außer man erstand ein Ticket. Was ich kurzerhand getan habe, wozu bekomme ich schließlich Schülerrabatt. Es hat sich auch mehr als bezahlt gemacht, ich mag die schottische Hochlandmusik ja. Da waren jetzt also nur knapp unter einer Milliarde Spieler. Könnt ihr Euch knapp unter eine Milliarde Dudelsäcke und Trommeln vorstellen, die alle gleichzeitig spielen, von allen Seiten, durcheinander?
Ich mag diese Insel wirklich sehr, wo ein Fest den Nationalstolz der Menschen glaubhaft und echt rüberbringt, Dutzende Spielgruppen ein ohrenbetäubendes Konzert geben, während schwatzende Polizei auf Pferden gemächlich vorbei trabt. Das Ganze hat irgendwie eine Atmosphäre wie die (Last Night of the) Proms, wo links italienisch und rechts französisch geschnattert wird. Hier erkennt man den militärischen Ursprung des Dudelsacks wieder, wenn die Gruppen durch die Arenen exerzieren. Und trotzdem ist diese Musik vollkommen unprovokant zur zivilen Volkskultur geworden. Lustig sind dabei die Schiedsrichter, die mit wichtigen Gesten Notizen nieder kritzeln, ob der Kilt genau unterm Knie endet und die zweite Pfeife auch im richtigen Winkel zur Mütze steht.
The Peoples’ Palace: Freizeit oder Sozialismus
In der Mitte des ganzen steht der People’s Palace, zu neun Zehnteln ein riesigen Gewächshaus und zu einem zehntel Stadtmuseum. Wie der Name schon vermuten lässt, kriegt man hier den sozialistischen Overkill (man vergebe mir den nicht akzeptabel zu übersetzenden Anglizismus). Neben der Geschichte Glasgow’s ist das Hauptstück ein Ring aus zehn großen Gemälden zur Erkämpfung der Arbeiterrechte. Für solch eine große Stadt hatte das Museum einen ziemlich provisorischen, veralteten Provinzcharakter. Der Hauptteil sind aber die Gärten, und die waren sehr schön. Nicht ganz so weitläufig wie sie von außen wirken, aber ein netter Ort, um sich unter Palmen auszuruhen, einen Kaffee zu konsumieren und Karten zu schreiben.
Ganz oder gar nicht
Nach einer abschließenden Erkundung des restlichen Parkgeländes sowie des Festivals ging es dann endlich nach Norden in die eigentliche Innenstadt, über einen kleinen Markt voll unnützen Zeugs auf verschlungenen und immer wieder spontan geänderten Routen zum Hauptplatz, dem George Square. Das war gegen Mittag und inzwischen hatte sich die Sonne durchgesetzt. Man stelle sich das vor: Der George Square in prallem Sonnenschein! Bin ich immer noch in Schottland?
Der Platz ist wirklich eindrucksvoll und eingerahmt von alten Bauten. Die Stadt selbst erinnert mich irgendwie an Manchester, so groß und voll und nicht vordergründig attraktiv. Wo Manchester aber meines Erachtens gar keine Tugenden hat, ist Glasgow mehr wie Newcastle und verbirgt sie unter der Oberfläche. Wenn sie etwas schönes gebaut haben, dann richtig und neben der Galerie für moderne Kunst steht auf dem Platz zuerst einmal das Rathaus, ein riesiges Gebäude voll Prunk und Verzierung.
Bodenschatz: Doppeldeckerkirchen
Das Rathaus im Blick setzte ich mich auf eine Bank und nahm ein kleines Lunch ein, bevor es weiter ging zur Kathedrale. Die ist nicht besonders groß, wenn man andere gesehen hat, vor allem Durham. Gerade als ich ankam wurde auch noch die Hälfte dichtgemacht für eine Hochzeit, ach ja - ich liebe Pärchen. Zumindest konnte man das Gebäude überhaupt noch betreten und das hat sich dann auch gelohnt. Die Fenster sind wirklich beeindruckend und die ersten im modernen Stil, die mir gefallen. Als Besonderheit wurden die tiefer liegenden Räume einer ersten Version nicht zugeschüttet sondern beibehalten, sodass man praktisch eine zweite Kirche unterhalb des Chors hat. Da die Reformation hier dankenswerterweise schonend vonstatten gegangen ist, war alles noch sehr gut erhalten, mit einer exzellenten Beschilderung der archäologischen Stücke. Durch die Räume stürmte und drängelte sich natürlich auch gleich noch eine deutsche Reisegruppe. Als ich wieder aufstieg, waren die Festivitäten glücklicherweise zu Ende und man konnte sich auch den Rest des Gebäudes ansehen.
Wieder am Tageslicht ging es hinter der Kirche auf einen Friedhofshügel, die berühmte Necropolis. Die Stadt der Toten ist der Ruheort vieler berühmter, in jedem Fall reicher Glasgower und einer der besten Aussichtspunkte. Sieht ehrlich gut aus und man sieht bis zu den Highlands und dem Meer. Vom entfernten Fluss und dem Park hörte man selbst hier oben die Pfeifen der Dudelsäcke.
Entdeckung der Möglichkeiten
Dann ging es wieder Richtung Stadtzentrum. Auf dem Weg wollte ich aber noch ein Gebäude des angeblich berühmtesten Glasgower Architekten sehen, was mich zu absurdesten Umwegen verleitete. Dabei bin ich durch ein furchtbares Wohnviertel gekommen, Hochhausblocks, normale Wohnblocks, Beton, direkt unter einer Schnellstrasse. Aber nun ja, ich wollte das Land sehen und nicht nur seine Rosinen.
Was mich immer wieder erstaunt hier: trotz all der Tristesse in diesen Gegenden, trotz einer für Deutsche unvorstellbaren Mischung von Ethnien sind die Gemeinden, zumindest augenscheinlich, intakt. Die Leute grüßen einen, Jugendliche sind auf einem Sportgelände nebenan, man sieht keine vermummten Gruppen in dunklen Ecken hocken und kaum Müll auf dem Asphalt. Neben dem Fußballplatz stand eine Kirche und Menschen aus diesem Viertel gingen hinein und hinaus, Samstag Nachmittag. In guter Kleidung, knieten innen nieder, jemand übte an der Orgel. Dieses Land widerspricht meinen scheinbar sichersten Erfahrungen und bewahrt eine bewundernswerte Harmonie.
Original & Fälschung
Neben dieser Kirche stand das gesuchte Gebäude und vermittelte mir wieder einmal mein Unverständnis für Architektur, also einige weitere Meilen zurück ins Zentrum gelaufen. Dort nahm ich eine U-Bahn zum anderen Ende der Stadt. Glasgow’s Metro: Die (scheinbar) primitivste aber auch billigste 70-Jahre-Gedächtnis-U-Bahn der Welt. Mit nur einer einzigen Linie, auf der orange Plastikbahnen fahren. Newcastle ist nichtmal halb so groß und hat mehr. Irgendwie ziemlich cool. Groovy.
Das andere Ende der Stadt war namentlich der Fluss wo laut Karte ein “großes Schiff” liegen sollte. Keine Ahnung wo genau ich bin oder wo ich lang muss, deshalb bin ich nicht besonders effektiv gelaufen und mehr als einmal in verlassenen Industrieslums gelandet. Aber auch das will ich ja sehen. Diese Ecke stand gleich neben alten Werften und verwilderten Wiesen, abgezäunten Geländen und sogar Wegen. Eine etwas merkwürdige Gegend, um ein Wissenschaftszentrum für Besucher und einen Aussichtsturm zu bauen.
Ich schätze, nicht jeder kann seinen ruinierten Fluss so nett renovieren wie die Geordies. Dabei versuchen sie es, wie man am „Schottischen Konferenzzentrum“ sehen kann. Oder besser gesagt, klauen sie uns scheinbar alles und machen es trotzdem schlechter (oder wir klauen die Ideen und machen es besser) Woher kennen wir das? Richtig, das Sage. Daraus lernen wir: große, hässliche Metallraupen sehen nur in Newcastle gut aus. Die Ecke war die exakte Kopie unserer Quayside, gleich neben dem Zentrum lief eine neue Fußgängerbrücke über den Fluss zu einem komischen Block der wie eine misslungene Kopie des Sage aussah. Das Schiff, zu dem ich eigentlich wollte, war natürlich abgesperrt, weil um die Zeit schon geschlossen. Was soll’s, wir hatten gerade selbst erst die ganze Tyne voll.
Vertrauen ist gut
Kurz nach sieben stand ich auf einem großen verlassenen Parkplatz mit einer Straße und einer Eisenbahnlinie zwischen mir und dem Park, zu dem ich abschließend wollte. Während ich noch da stand und meine bereits zerfallenden Karten nach dem besten Überweg konsultierte, hielt bereits ein Autofahrer und fragte ob ich Hilfe bräuchte. Der hat mich dann gleich hingefahren (manchmal bin ich etwas misstrauisch, wenn mir jemand eine Mitfahrt anbietet. Aber die Leute hier sind einfach so freundlich.). Also gut, es war ein Taxi wie ich herausfand, aber der Mensch war Türke und nachdem ich ein bisschen von Hanni erzählte hatte, musste ich ihm das Fahrgeld quasi aufdrängen.
Schwimmen mit Piranhas
Die Kunstgalerie in diesem Park war selbstverständlich wegen Umbauten geschlossen, aber das Gelände war auch so ganz nett. Es liegt direkt zwischen der Uni auf der einen und meiner Herberge auf der anderen Seite, im Nordwesten der Stadt. Der Fluss in seiner Mitte ist übrigens der Kelvin und von selbigem steht dort eine Statue, denn er lehrte wohl an der Hochschule dahinter, an der es gerade acht Uhr schlug, als ich an ihr vorbeilief. Auch hier kann man keine drei Sekunden mit einer Karte in der Hand stehen bleiben ohne Hilfe angeboten zu bekommen. Der Kelvingrovepark ist ganz hübsch, wenn auch unspektakulär. Nur verwandelt er sich scheinbar abends in etwas, das wir hier Charver Central nennen (Charver = Alkoholiker und Schlimmeres). Ich bin ehrlich froh auf der Farm - in Easington mit Paul und Ron zu leben, da mir das ein äußerst schlagkräftiges und vor allem stets einsatzbereites Schimfpwortvokabular beschert hat.
Neun Uhr, 12 Stunden gelaufen. Als ich in die Jugendherberge zurück kam waren meine Beine tot. Und als ich im stillen Essensraum ganz allein Abendbrot aß, ich schwöre, ich hörte immer noch Dudelsäcke in meinen Ohren. Immer noch war ich mir nicht sicher, ob ich Glasgow mochte, nachdem ich solch unzusammenhängende, lange Wege gehen musste, um etwas zu sehen. Zumindest schlief ich gut, im Gegensatz zu meinen Oropaxlosen Kollegen, die erstmal den beiden Deutschen beibringen müssen, dass man sich nicht beschweren sollte, wenn man selbst die ganze Nacht geschnarcht hat.