Gebet
Was tun, wenn du anders bist und dich nicht wehren kannst?
Was tun, wenn deine beste Freundin eine vollkommen verrückte Idee hat?
Sommer in Deutschland. Kein Vergleich mit dem Sommer Zuhause, aber so warm, dass ich mich am liebsten mitsamt Kopftuch in einen Springbrunnen gestellt hätte.
Meine Freundin Lulu brauchte immer so viel Zeit, um ihr Fahrrad abzuschließen, dass ich vorrausging. Sie würde mich schon einholen.
Ich schlenderte an den Neubauten neben unserer Schule vorbei und dachte über die letzte Schulstunde nach. Ethik. Ich hätte doch in den evangelischen Religionsunterricht gehen sollen. Die glauben zumindest an Gott.
An der Kreuzung blieb ich stehen. Mein Blick fiel auf das Auto neben mir, dessen Fahrer sich mir mit seinem ganzen Oberkörper zugewandt hatte und mich anglotzte. Seufzend wandte ich mich ab.
Man sollte meinen, dass zwei Jahre ausreichen, damit sich die Menschen einer dreißigtausend-Einwohner-Stadt an mich gewöhnen.
„Hey, Hannin.“ Lulu schob ihr Fahrrad neben mich.
„Na endlich.“ Ich verzog das Gesicht. Deutsch kam mir immer noch schwer über die Lippen. Es fühlte sich jedes Mal an, als hätte meine Zunge vergessen, wie man spricht. „Wo bist du so lange gewesen?“
„Ach, weißt du“ Lulu rückte die Tasche auf ihrem Gepäckträger zurecht. „mein Fahrrad stand zufällig neben dem von Theon. Ich konnte ihn doch nicht ignorieren.“
Natürlich nicht. Lulu schwärmte schon für Theon, seit ich nach Deutschland gekommen war. Ich ignorierte die Röte auf Lulus Wangen. „Gehen wir nach Hause?“
Wir schlugen den Weg ein, der an der Berliner Straße entlang vom Stadtzentrum wegführte. Lulu und ich wohnten in der gleichen Reihenhaussiedlung. Wenn wir uns an der Ecke verabschiedeten, musste ich immer daran denken, wie Lulu kurz nach unserer Ankunft vor der Tür gestanden und mir einen Kuchen unter die Nase gehalten hatte.
„Welcome to Germany! The cake is Halal, I’ve checked.“
Keine forschenden Blicke, kein Wort zu meinem Kopftuch. Ich hatte gar nicht anders gekonnt, als sie zu mögen.
Wir waren fast am Bahnübergang, als die Warnleuchte zu blinken begann. Eine ältere Frau auf einem Fahrrad überquerte den Bahnübergang eine Sekunde bevor die Schranken sich schlossen. Sie warf im Fahren einen Blick hinter sich und geriet dabei auf den Fußweg. Ich sprang zur Seite und stolperte in den Zaun eines angrenzenden Grundstücks. Die Frau bremste mit aller Kraft und brachte ihr Fahrrad wenige Zentimeter neben mir zum Stehen. Sie massierte sich das Brustbein, wo der Fahrradlenker sie getroffen hatte und starrte mich mit vor Wut sprühenden Augen an.
„Hey, Schleiereule, hat dir niemand beigebracht, unsere Verkehrsregeln zu beachten? Jetzt sag schon was oder kannst du nicht mal Deutsch?“
Ich drückte mich tiefer in den Zaun. Ihr Gesicht war mir so nah, dass ich die Haare auf ihrer Oberlippe zählen konnte. Auf einen Schlag war mein Kopf leer.
„Hab isch das nischt gewusst.“, flüsterte ich. Mein Akzent war in diesem Moment so deutlich zu hören, wie schon lange nicht mehr.
„Lassen Sie Hannin in Ruhe!“ Lulu hatte ihr Fahrrad beiseite geworfen und zog die Frau von mir weg.
Die Frau stieß Lulu von sich. „Scheiß Ausländer.“ Sie spuckte mir die Worte ins Gesicht und fuhr davon.
„Hannin?“ Lulu zog mich aus dem Zaun, „Ist alles in Ordnung?“
Ich brachte nur ein zittriges Nicken zustande. Ich konnte mich an kein einziges deutsches Wort erinnern.
„Hey.“ Lulu legte mir einen Arm um die Schultern. „Es ist alles gut. Das war nur eine dumme, idiotische…“ Sie brach ab, den Blick träumerisch in die Richtung gerichtet, in die die Frau gefahren war.
„Können, können wir nach Hause gehen, bitte?“ Ich hatte fast eine Minute gebraucht, um den Satz im Kopf zusammenzusetzen. „Es ist gleich das Gebet am Mittag.“
Lulu blinzelte. „Sind wir so spät dran? Wie viel Zeit ist noch?“
Ich warf einen Blick auf die Uhr. „Fünfzehn Minuten.“
„Fünfzehn Minuten.“ Lulus Augen leuchteten. „Und es ist Mittwoch. Hannin, du kannst auf meinem Gepäckträger mitfahren. Dann sind wir schneller.“
„Ahm, ok.“ Unbeholfen setzte ich mich auf den Gepäckträger und klammerte mich Lulus Schultasche fest.
Lulu trat in die Pedale. Das Fahrrad schwankte bedrohlich und es dauerte eine Weile, bis sie es wieder unter Kontrolle hatte. Das Blut rauschte so laut in meinen Ohren, dass ich schreien musste, um mich zu hören. „Das ist die falsche Richtung!“
Lulu radelte so schnell sie konnte in Richtung Stadtzentrum. Hatte sie das nicht bemerkt?
„Wir zeigen es ihnen!“, schrie Lulu zurück. „Es ist Mittwoch!“
Mittwoch. Ja, und? Für großartige Überlegungen blieb mir keine Zeit, denn Lulu nahm die nächste Kurve mit so viel Schwung, dass wir beinahe gestürzt wären. Ich schrie auf. Für den Rest der Fahrt presste ich das Gesicht an Lulus Rucksack. Erst als Lulu das Rad sanft ausrollen ließ, wagte ich aufzublicken.
Ich bereute es sofort. Lulu war auf den Marktplatz gefahren. Es war der Teufel los. Natürlich. Mittwoch. Markttag. Ich sah mich um und entdeckte niemand anderes als die Frau vom Bahnübergang.
Ich stupste Lulu an.
„Um so besser.“ Lulu schob ihr Rad in einen Fahrradständer. „Wie viel Zeit noch?“
„5 Minuten.“ Warum hatte Lulu mich hierhergebracht?
„Hast du dein Ersatztuch dabei?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, griff Lulu in meine Tasche und zog es zusammen mit meinem Handy heraus. Sie holte ihre Jacke aus ihrem Rucksack, bevor sie sich das Tuch gekonnt um den Kopf schlang.
Plötzlich begriff ich, was sie vorhatte.
Mit geübten Bewegungen durchsuchte sie meine Playlist. Ein Grinsen huschte über ihr Gesicht.
Lulu ging in die Mitte des Platzes und breitete ihre Jacke auf dem Boden aus. Dann drehte sie die Musik auf. Der Ruf eines Muezins schallte über den Marktplatz und ließ alle Gespräche verstummen.
Lulu faltete die Hände und ging in die Knie. Ohne darüber nachzudenken, folgte ich ihr und tat das gleiche.
Meine Stirn berührte das Futter meiner Jacke. Ich spürte das Kopfsteinpflaster darunter, hörte Lulus Worte:
„Lieber Allah, bitte schick uns weniger Idioten.“
Lächelnd schloss ich die Augen und versank im Gebet.
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