Frankreich: Leben im Schlamm, ohne Elektrizität, zwischen Schießereien
Realität für Tausende Flüchtlinge im Horrorcamp Grand Synthe
Gerade in einem der vielen Vintage Cafés in Madrid sitzend, kommen mir wieder die Bilder aus Dunkerque in den Kopf- wie so oft, in so vielen Situationen. Grand Synthe ist eine kleine wohlhabende Gemeinde, die zu Dunkerque im Nordwesten Frankreichs gehört, gerade einmal 20 km von Calais entfernt.
Frankreich. Die Gemeinde gehört zu dem Staat, der bekannt ist für seine Revolution im 18. Jahrhundert, für sein Wohlfahrtstaatlichkeits-System und vor allem für seine drei Grundprinzipien: „Liberté, Fraternité, Égalité“. Grand Synthe reflektiert das nordfranzösische Leben womöglich relativ gut. Im Sommer kommen Touristen um am Strand Urlaub zu machen. Im Winter ist es eher ruhig. Fast ausgestorben scheint es, wenn da nicht 3.000 Flüchtlinge in einem selbst konstruierten Zeltlager wären, welches tagsüber von der Polizei und nachts von der Gendamerie bewacht wird. 3.000 Flüchtlinge, die kein Dach über dem Kopf haben, seit Monaten nicht. Eine dünne Zeltplane, mehr nicht. Elektrizität, abschließbare, halbwegs saubere Toiletten, eine Heizung in den kalten Wintermonaten in denen die Region von starken Stürmen und Regengüssen heimgesucht wird, das gibt es nicht. Die wenigen Medienaufschreie die es gibt zeigen wenig Wirkung. Wenige hörten vom „Junglecamp“ in Calais oder vom sogenannten „Horrorcamp“ Grand Synthe. Es ist erschreckend wie wenig über die Zustände bekannt ist; erschreckend, dass ein Staat wie Frankreich in Teilen seines Landes seit Monaten Menschrechte völlig ignoriert; erschreckend, dass der internationale Aufschrei ausbleibt; erschreckend, dass internationale Organisationen nicht längst in koordinierter und wirksamer Form humanitäre Nothilfe leisten. Seit Jahren zelten Flüchtlinge, die kurz vor ihrem selbst ernannten Ziel Großbritannien stehen, in Calais und eben auch in Dunkerque. Viele von ihnen durchqueren den Eurotunnel unbemerkt auf Trucks oder werden in anderer Weise über die Grenze geschmuggelt. Doch die strikten Grenzkontrollen machen eine illegale Einreise nach Großbritannien fast unmöglich. Großbritannien nimmt einige minderjährige unbegleitete Flüchtlinge auf und zahlt Geld in Fonds, um die Flüchtlingsströme in Europa einzudämmen. Damit rühmt sich die britische Führung. Familien fallen durch das Netz. Selbst wenn der Familienvater einen englischen, gültigen Pass besitzt und arbeitet, gibt es keine Chance für die Familie legal nach England einzureisen.
So bleibt nur eine Option: die illegale, gefährliche Einreise. Schlepper verlangen Preise von bis zu 6.000 Euro pro Person. So versuchen vor allem junge Männer die Überfahrt „unorganisiert“ zu überstehen, in dem sie sich unter die Fahrgestelle von Trucks hängen. Wenn sie nicht erwischt werden, müssen sie sich manchmal trotzdem fallen lassen, weil sie keine Kraft mehr haben. Dann kehren sie mit unterschiedlichsten Verletzungen wieder nach Calais oder Dunkerque zurück. Das Camp in Grand Synthe gleicht einem Schlammfeld, in dem man überall ungewollt Ratten und Müll findet. Dazwischen stehen die vielen bewohnten Zelte; Zelte zu denen man nur mit Gummistiefeln gelangt. Es ist kalt, es regnet ständig, der Wind zerreißt die Quechua Zelte, die entweder selbst im nahen Einkaufszentrum gekauft oder von unabhängigen Freiwilligen(gruppen) bereitgestellt wurden. Vor allem irakische Kurden wohnen in diesem inoffiziellen Camp. Es ist schon lange kein Transitcamp mehr, wie die in Südosteuropa es sind. Viele der Geflüchteten wohnen seit Monaten dort, unter ihnen Säuglinge, Kleinkinder, Kinder im Schulalter. Sie sind vor dem IS geflohen, der ihre Heimatregion völlig zerstörte, ihre Häuser, ihr Hab und Gut, ihre Infrastruktur, ihre Jobs. Viele kommen aus mittelständischen Verhältnissen, sie zeigen Fotos von ihrem geliebten Leben als es noch keinen Islamischen Staat in ihrer Region gab. Um diese Fotos überhaupt zeigen zu können, stehen sie stundenlang in der Kälte um auf eine freie Steckdose am „Eingang des Camps“ zu warten. Der Strom fällt ständig aus, so dass nicht einmal das oft einzig verbliebene funktioniert, das Handy, welches Kontakt mit Familienmitgliedern erlauben würde, die im Irak verweilen, in anderen Flüchtlingscamps leben, auf der Flucht sind oder den Weg nach England bereits schafften. Wenn der Strom funktioniert, der von „Médecins sans frontières“ (MSF) bereitgestellt wird, der einzigen internationalen Nichtregierungs-Organisation die überhaut im Camp tätig ist, sind alle Steckdosen belegt, auch bei Regen und Kälte. Weiter hinten im Camp findet man einen Bus mit freiwilligen Helfern aus England, die kostenlos warmes Essen austeilen. Von morgens früh bis abends spät gibt es zudem von Flüchtlingen in Kooperation mit der Schweizer Gruppe „Rastplatz“ und anderen europäischen Freiwilligen selbst gekochtes Essen. Die Lebensmittel stammen ausschließlich aus Spenden, vor allem aus der französischen Bevölkerung. Zwei kleine Kamine wärmen die vielen frierenden Flüchtlinge und Freiwilligen, zumindest ein wenig. Zudem wärmen heiße Milch und schwarzer Tee. Ansonsten gibt es nicht besonders viele Aufgaben für die Geflüchteten, die den Tag schneller zu Ende gehen lassen würden. Die Stabilisierung des eigenen Zeltes sowie anderer Konstruktionen, die Schutz oder ein wenig mehr Komfort bringen könnten, sind untersagt. So kontrolliert die Polizei jeden Rucksack eines zum Camp zurückkehrenden Flüchtlings sowie die Autos der Freiwilligen, die Essen ins Camp bringen, sofern sie über einen Passierschein verfügen. Als die strikten Kontrollen noch nicht existierten schafften es einige Paletten, mit Drahtzaun überzogen, ins Lager, um zumindest das Überqueren der Schlammwüste zum Hauptversorgungszelt zu ermöglichen – ohne auszurutschen. Paletten, als Untergrund für die Plastikzelte sind aus einem ganz einfachen Grund verboten: Wenn die Flüchtlinge nicht mehr direkt auf dem gefrorenen Boden schlafen müssten, könnte das bedeuten, dass der Lebensstandard leicht steigt und Flüchtlinge länger bleiben; so zumindest die Logik die sich in den Medien verbreitet. Die Flüchtlinge sind unerwünscht - Punkt. Dass sie aus schlimmsten Kriegssituationen geflüchtet sind, sich in Frankreich Krankheiten auf Grund der fürchterlichen Verhältnisse eingefangen haben, dass in England viele Familienmitglieder arbeiten und ihre Angehörigen dort unterstützen könnten, scheint egal zu sein. Es ist der MSF, der die Errichtung einer neuen Containersiedlung zum Hauptteil finanziert. Die Gemeinde unterstützt das 2.5 Millionen Projekt mit 400.000 Euro um der Existenz des Camps ein Ende zu setzen und den geplanten Bau einer Ökosiedlung endlich starten zu können.
Im neuen Camp wird es größeren Schutz vor Kälte und Regen geben. Viele Flüchtlinge haben allerdings große Angst vor dem Umzug, da sie befürchten, dass sie in der neuen Unterkunft registriert werden und somit dann aus England, einmal angekommen, wieder nach Frankreich abgeschoben werden könnten. Nach Monaten in der eisigen Kälte, im Schlamm versinkend, ist das wohl die größte Horrorvorstellung, dorthin wieder zurückkehren zu müssen. Ignoranz gegenüber den Flüchtlingen spiegelt sich aber auch auf eine ganz andere Weise wieder: als sich im Januar an aufeinanderfolgenden Tagen verschiedene Schmugglergruppen beschossen und dabei auch Unbeteiligte trafen, ist die konstant stationierte Polizei nicht zur Hilfe geeilt. Die Schüsse haben sich sehr tief in mein Gedächtnis eingegraben. Ich war bei allen Schießereien im Hauptversorgungszelt, die Schüsse vielen direkt davor auf der freien Fläche. Kinder umzingelten mich. Ich fragte mich, was all die Menschen gerade fühlen bei den Geräuschen und in dem Moment in dem die Angeschossenen auf Tüchern wegtragen wurden. Ich weiß es nicht, ich kann es mir nicht vorstellen. Mit Verbandsmaterial in den Händen aus dem Zelt rennend, vergaß ich die Angst, die ich noch einige Sekunden vorher spürte. Plötzlich funktioniert man. Aber alles das, weil Schmuggler um ihr Monopol befürchten. Sie sind kriminell und zugleich sind sie die einzigen, die überhaupt einen Ausweg aus der ansonsten so ausweglosen Situation der Flüchtlinge bieten. Dass noch einmal wie in 2005 die Grenzen für Kurden nach England geöffnet werden, ist unter der derzeitigen Regierung unwahrscheinlich. So bleibt nur die illegale Lösung. Als Freiwillige fliege ich einfach zurück. Zurück in mein Leben mit Dach, Heizung, Licht, Studium – in mein Leben, in dem nie jemand schreit „auf den Boden“. Zurück in mein paradiesisches Leben. Es ist einfach. Mich begleiten ständig Albträume, Erinnerungen, Facebook-Nachrichten von Flüchtlingen und Freiwilligen, die noch im Camp sind. Aber ich bin hier, in Madrid. Sicher.
Oft frage ich mich, was passiert, wenn einmal dort wo ich lebe Krieg ausbricht, wenn alles zerstört ist, was ich habe... werde ich dann auch zwischen Ratten im Schlamm leben, weil ein Staat, ja ein ganzer Kontinent, der von sich selbst behauptet „Prototyp des Durchsetzen internationalen Rechts“ zu sein, meine Existenz ignoriert und mich mit seiner Ignoranz versucht weg zu ekeln? Vorstellbar? Unvorstellbar. Für mehr Informationen empfehle ich euch: http://www.theguardian.com/world/video/2016/feb/01/british-citizens-living-in-europes-worst-refugee-camp-video
Für aktuelle Infos des Teams welches seit Dezember NonStop 24h auf dem Camp arbeitet https://www.facebook.com/rastplatz/?fref=ts