Falscher Film mit guter Fortsetzung
Lockenjule freut sich: ihre Familie besucht sie in Moldawien. Doch warum kommen ihr die Gespräche mit den Eltern, Steitereien mit dem Bruder oder gemeinsames Essen in ihrem Lieblingsrestaurant wie ein falscher Film vor?
Schon als ich über die Weihnachtsfeiertage für zwei Wochen nach Hause zurückkehrte, kam ich mir vor wie im falschen Film. Meine Familie war um mich, ich schlief wieder in meinem Bett; und trotzdem gehörte ich irgendwie nicht richtig in diese Welt, die ich ja eh bald wieder verließ. Sobald ich sie also wieder verabschiedet hatte, begann das Warten auf jenen Freitag vor zwei Wochen, an dem meine Eltern und mein Bruder nun mich besuchen wollten. Die Tage vor ihrer Ankunft bescherten meiner Gefühlswelt eine Mischung aus Vorfreude, Aufregung (schließlich will man ja seinen Erzeugern und Erziehern auch zeigen, dass sie nicht völlig umsonst 19 Jahre lang ihr Bestes gegeben haben) und auch ein wenig Unlust, da man sich gerade wieder an das Leben ohne Familie gewöhnt hatte.
Erst als ich dann am Flughafen in einer Menge überkandidelt herausgeputzter und mit riesigen Blumensträußen bestückter Moldawier stand und nach dem Rotschopf meiner Mutter Ausschau hielt, überwogte mich eine Welle der Wiedersehensfreude. Und da stand sie dann in der herausströmenden Menge, hochgereckt um mich zu entdecken, dicht gefolgt von einem wahrscheinlich leicht erinnerungsübermannten Vater (er hatte ja jahrelang in einem russischsprachigen Land gelebt, aber das war auch schon dreimal so viel Jahre her) und meinem vom Gedränge ziemlich unbeeindruckten Bruder, der als allererstes die Unfortschrittlichkeit des Flughafens feststellte. Ich fischte die drei aus der Menge, knutschte alle nach moldawischer Tradition ab und kurz darauf saßen wir auch schon im Taxi. Und wie ich da so auf der Rückbank saß zwischen meinem knutschkugeligen Bruder und meiner heißgeliebten Mami, mit den wie seit jeher trockenen Kommentaren meines Vaters auf dem Beifahrersitz; und wie wir da wenig später vom Hotel meiner Eltern zu meiner Wohnung liefen, wo mein Bruder mit mir übernachten sollte; und wie wir da so bei mir im Zimmer saßen und uns über das große Abendbrot hermachten, dass ich aufwendig vorbereitet hatte; und wie meine Eltern abends nach Wodka, Warenje (Teemarmelade), und langem lustigen Beisammensein in ihr Hotel zurückkehrten, nach wie vor aber mein Bruder in einer Ecke meines Zimmers lag… da kam mir alles vor wie im falschen Film. Ein wirklich toller und gelungener Film, wie schon an Weihnachten. Nun aber noch komischer, da nun auf den Straßen, die ich hunderte Mal allein oder mit neuen Freunden entlanggelaufen war, meine Familie mit mir lief. Da nun meine Familie mit mir in meinen Lieblingsrestaurants saß oder mit mir auf dem Markt durchs Gedränge schob. Da am letzten Tag in Chisinau meine Eltern mit in mein Kinderprojekt kamen, um meine Sprösslinge tanzen zu sehen, zusammen mit ihnen Wettspiele zu machen und dann von der dicken Projekttante zum großen Schmaus im winzigen Büro eingeladen zu werden. Sicherlich hockte auf meinen Schultern auch die ganze Zeit mein Hang zur Perfektion, der mir immer wieder "Alles muss klappen, wie du es geplant hast!" ins Ohr flüsterte.
Aber wie schon an Weihnachten vermischte sich der Streifen des falschen Films allmählich mit dem eines realen. Und spätestens, als wir vier nach fünf Tagen im Bus Richtung Odessa saßen, war alles eine Sache der Gewohnheit geworden. Mein Bruder und ich stritten und vertrugen uns wie üblich, meine Eltern wurden wieder zu den Bestimmern meines Tages- und Essrhythmus… man fällt so schnell in alte Schemata zurück. Obwohl, nicht ganz. Zum einen fiel sowohl mir als auch meinem Bruder (dem aber schon seit mehreren Monaten) einige Verhaltensphänomene des fortgeschrittenen Alters bei meinen Eltern auf. Einzelheiten benenne ich aus Loyalitätsgründen hier nicht.
Zudem schaffte es meine Mutter und früher immer höchst einflussreiche Modeberaterin nicht mehr, mich zum Kauf von neuen Hosen und anderen Schönheitsattributen zu überreden, so oft sie es auch auf verschiedenste Arten versuchte. Auch sonst musste sie sich auf bestimmte Anweisungen hin öfters mal ein "Mama, wie alt bin ich?" oder "Mama, mit 20 kann ich schon ganz allein entscheiden, was ich bestellen möchte!" gefallen lassen. Mein Vater beobachtete das alles mit einem höchst zufriedenen Grinsen, mein Bruder des Öfteren mit der Beschwerde, gleiche Entscheidungsrechte zu beanspruchen.
Der Urlaub in Odessa lief genauso sonnig, entspannt und erfolgreich ab wie der erste Teil in Chisinau. Schwimmbad, Frühstücksbuffet und Zentrumsnähe des Hotels zeigten ihre positive Wirkung. Am letzten Abend hatte ich das Gefühl, seit drei Monaten nicht mehr so vielseitig und ausgewogen gegessen und so oft heiß geduscht zu haben. Meine Eltern befanden das Hotel in Chisinau zwar für besser, waren alles in allem aber auch zufrieden und erholt. Und mein liebster Knutschbruder war (abgesehen davon, dass er sich wieder viele Sightseeingstunden hatte gefallen lassen müssen) auch zufrieden. Und natürlich war das Schönste, dass wir alle mal wieder gemeinsam etwas erlebt hatten.
Schlussendlich beschlossen mein Bruder und ich noch, später einmal zusammen Urlaub zu machen. Wenn er dreißig wird und wir beide Kinder haben, mieten wir uns für zwei Wochen eine Finca mit Pool irgendwo in Spanien, stecken die Kinder in die Plansche und lassen uns selbst den ganzen Tag in der Sonne braten. Ob Mama und Papa auch mitdürfen, wird zu gegebener Zeit spontan entschieden. :D
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