“EVS-Freiwillige sind Lobbyisten für die Mobilität und Chancengleichheit der europäischen Jugend!” - Jyrki Katainen, VP der EU-Kommission
Nichtsahnend brachen ich und 23 andere Freiwillige in Spanien zu unserem On-Arrival Training in Bilbao auf, nur um wenige Tage später zu einem Gespräch mit einem Vizepräsidenten der Europäischen Kommission eingeladen zu werden.
Vor dem Gebäude des Palacio Euskalduna in Bilbao drängt sich die regionale, nationale und internationale Presse. Hinter den Glastüren des Kongresszentrums sieht man die geladenen Gäste sich für ihre Registrierung anstellen, jeder zeigt den Ausweis, wird in die Datenbank aufgenommen, kriegt eine Broschüre in die Hand gedrückt und wird dann mit dem breitesten Lächeln einen Stock tiefer geschickt. Auch dort wieder dauerlächelnde Damen, alle in Schwarz mit orangenem Halstuch und EU-Emblem am Blazerkragen, die Röcke fallen ob ihrer “Länge” als einzige aus dem steifen Rahmen. Am Rand des Foyers haben die Simultandolmetscher ihren Tisch aufgebaut, auf Wunsch erhält jeder einen Knopf im Ohr mit spanischer, englischer oder baskischer Übersetzung, direkt daneben die Radiosender mit ihren tausend Mikrofonen und Mischpulten, und zwischen allem wuselt das Catering mit seinen silbernen Tablets mitsamt Häppchen und Kaffe. Und inmitten all der Lobbyisten im Anzug und der Jungpolitiker, die eine Facebookausschreibung für das beste Investitionskonzept für die Jugend von Bilbao gewonnen haben stehen wir, 24 Europäische Freiwillige mit unseren drei Seminarleitern, etwas eingeschüchtert, auf jeden Fall underdressed, immer noch geschockt dass wir tatsächlich durch die Sicherheitskontrollen gelassen wurden.
Wir sind keineswegs unrechtmäßig dort, wir wurden eingeladen, von unserer Schirmherrin, von der Europäischen Kommission. Und wir werden mit ihrem Vizepräsidenten sprechen, Jyrki Katainen, der für Beschäftigung, Wachstum, Investitionen und Wettbewerbsfähigkeit in der Union zuständig ist. Katainen ist gerade auf Tour durch einen Großteil der EU-Mitgliedsstaaten, er wirbt für das neue Investitionsprogramm der EU welches die Juncker-Kommission noch Ende letzten Jahres beschlossen hat.
Wir sitzen inzwischen auf unseren Plätzen im ansteigenden Rang des Sitzungssaals, die Übersetzung demonstrativ nicht im Ohr sondern auf den Schoß gelegt und in der Hand ein Abstimmgerät, mit dem während des Dialogs direkt ein Meinungsbild aller im Saal Anwesenden auf die riesige Leinwand hinter dem Podium gebeamt werden soll. Mit uns sitzen in den ersten Reihen Lobbyisten und lokale Politiker, neben uns engagierte Bürger Bilbaos, Studenten der umliegenden Universitäten und zwischendrin immer wieder die überdimensionierten Kameras der Fernsehsender, außerdem wird der Dialog live ins Internet übertragen. Die digitale Einbindung scheint den Organisatoren wichtig, während der gesamten 2 Stunden die folgen sollen wird der Twitterfeed des zugehörigen Hashtags #EUdialogues eingeblendet sein.
Als Katainen dann gemeinsam mit dem baskischen Präsidenten Iñigo Urkullu und dem spanischen Staatssekretär für EU-Angelegenheiten Iñigo Mendez De Vigo auf dem Podium sitzt, wird ihm keine Redezeit eingeräumt. Stattdessen wird alles im Dialog erarbeitet, eine Mischung aus Fragen von den spanischen Facebook- und Twitterseiten der Kommission, der Moderatorin und natürlich dem Publikum. Katainen redet über die Verantwortung der Mitgliedsstaaten, für angemessene Rahmenbedingungen zu sorgen, er pocht auf einen flexiblen Arbeitsmarkt und dass kein einziger Cent aus dem 315 Milliarden Euro schweren Investitionsfond in Staatsfinanzen versickern sollen. Generell zielt der Fond auf Projekte privater Investoren und privat-öffentlichen Joint Ventures ab, die ökonomisch haftbar, hoch-qualitativ aber eben auch risikoreich sind. Es geht um Infrastrukturprojekte, erneuerbare Energien, nachhaltige Technologien, eine Energiemarktunion, einheitliche europäische Standards für den digitalen Markt und Urheberrechte, in denen Katainen schon eng mit dem deutschen Kommissar Günther Oettinger zusammenarbeite. Katainen schwärmt von seiner Vision eines einzelnen, grenzenlosen innereuropäischen Marktes und verkündet pathetisch, beim EFSI ginge es nicht darum, die alten Strukturen instand zuhalten, sondern anhand neuer Strukturen die Zukunft der europäischen Wirtschaft zu sichern. Er befürwortet TTIP auf Nachfrage; “if my vision is to have a seamless european internal market, do you really think I could oppose to a transatlantic enlargement of said market?” und sieht den Vertrag als “two-way street”, er gibt den USA Macht, aber eben auch der EU Macht um Standards zu setzen.
So spielen Jyrki Katainen und sein Publikum zwei Stunden lang Ping-Pong, er kann viel Positives von seinem Fond erzählen, besonders die Aussicht auf durch die Investitionen neu geschaffene Arbeitsplätze (laut Schätzung der International Labour Organisation ganze 2 Millionen an der Zahl) kommt im arbeitslosigkeitsgebeutelten Spanien gut an (bei einer der Abstimmungen votieren 46 % der Anwesenden für Arbeitslosigkeit als dringendstes Problem in der EU, gefolgt von 20 % für soziale Ungleichheit). Aber Katainen muss auch einräumen, dass Geld nicht die einzige Lösung für die Investitionsträgheit der privaten Wirtschaft ist, dass selbst er noch nicht genau erklären kann wie aus den 21 Milliarden Euro Startkapital (15 Mrd. aus dem EU-Haushalt und 5 Mrd. von der Europäischen Investitionsbank EIB) auf magische Weise 315 Mrd. Euro Fondvolumen werden sollen und wie garantiert werden soll, dass das Geld nicht nur in Länder fließt in denen sowieso bereits investiert wird, der Fonds sieht nämlich gezielt keine Quoten vor. Katainens Anstrengungen für den Dialog mit den Menschen, für die er sein Amt ausübt scheinen ehrlich und überzeugt, die ganze Zeit über sitzt er locker in seinem Sessel und würde sicherlich auch seine Kollegen Iñigo zu Wort kommen lassen - wenn sie denn etwas sagen würden oder wollten denn die beiden bleiben überraschend stumm.
Bände sprechen jedoch auch die letzten beiden Abstimmungen des Vormittags: 78 % der Eingeladenen finden diese Form des Dialogs sinnvoll und werden etwas davon mitnehmen - aber auch 70 % glauben, dass ihre Stimme nicht von der EU gehört wird.
Apropos: Kurz vor Schluss erhält noch ein EVS-Freiwilliger von einer der überfreundlichen Damen mit orangenem Halstuch ein Mikrofon in die Hand gedrückt und spricht den niedrigen Bekanntheitsgrad des Youth In Action-Programms an. Katainen selbst war Erasmus-Student in England, sofort springt er auf das Thema an, lobt euphorisch das Erasmus+ Programm in den höchsten Tönen, pocht auf seine Bedeutung für die innereuropäische Mobilität und Chancengleichheit und dankt uns, dass wir uns für Europa engagieren - bis ihn die Moderatorin ob der Zeit unterbricht.
Mehr Informationen über Katainens "Roadshow" hier in einem ZEIT-Artikel über seinen Auftritt in Italien: http://www.zeit.de/2015/05/investitionsplan-europa-eu-kommissar-jyrki-katainen