EVS - Ein unvergessliches Erlebnis
Jeder EVS ist eine einmalige Reise ins Unbekannte, auf der sich jeder von uns bereits verändert hat oder noch verändern wird. Doch inwiefern? :)
Es gibt ein wunderschönes Zitat der indischen Schriftstellerin Anita Desai, das besagt: „Wherever you go, becomes a part of you somehow.“ Auf Deutsch bedeutet das in etwa: „Wo auch immer du hingehst, es wird irgendwie zu einem Teil von dir.“ Nach mittlerweile etwas mehr als acht Monaten in Ungarn und damit etwa zwei Dritteln meines EVS würde ich diesen Satz direkt unterschreiben, denn ich kann spüren, dass ich mich verändert habe. Allerdings ist es oft schwer, genau herauszufinden, inwiefern man sich denn genau verändert hat. Wer war ich vorher? Und vor allem wer bin ich heute? Zwei sehr inspirierende und tiefgreifende Fragen, denen ich im weiteren Verlauf gerne auf den Grund gehen möchte.
Zunächst bin ich auf jeden Fall gewachsen, ich bin selbstständiger geworden und habe gelernt, für mich selbst zu sorgen, das heißt, meinen Haushalt zu führen, eigene Entscheidungen zu treffen und mir meinen Lohn einzuteilen und davon zu leben. Dadurch habe ich natürlich irgendwo gelernt, mich zurückzunehmen und mir genau zu überlegen, was ich wirklich brauche. Ich habe einerseits Geld und einen gewissen Lebensstandard zu schätzen gelernt, aber es ist nicht gelogen, wenn ich sage, dass ich auch gewisse Dinge für mich neu definiert habe, z.B. Glück.
Was ist das eigentlich, Glück? Vielleicht bedeutet das manchmal einfach nur mit einem Franzosen, einem Nepalesen und einer Kenianerin in der gemeinsamen Wohnung auf der Couch zu sitzen, ein paar Chapatis mit Bohnen zu essen und währenddessen mit einer Tasse gezuckertem Zitronentee über die größeren und kleineren Dinge des Lebens zu diskutieren. Wer weiß. Mir jedenfalls bereitete diese simple Situation für einen Moment die größten Glücksgefühle - nämlich dann, als mir bewusst wurde, was für ein Glück ich doch habe mit Menschen unterschiedlichster Länder unter einem Dach zu leben und in ihre Kulturen einzutauchen.
Ich bin dankbarer geworden und aufmerksamer, was solche kleinen Momente angeht. Es bedeutet alles für mich, wenn die Kinder in meiner Schule mir ein Herz basteln oder wenn sie sich darum streiten, wer meine Hand halten darf, wenn wir den Klassenraum wechseln. Ich habe Freundschaften mit jungen Leuten aus den unterschiedlichsten Ländern geschlossen, ich habe Erfahrungen fürs Leben gemacht, die mir schlichtweg niemand mehr nehmen kann. Ich weiß jetzt, was Europa, was die EU wirklich ist, was es heißt, ein Teil davon zu sein. Wir vergessen oft, in was für einem Luxus wir leben, wenn wir einfach so durch Europa reisen können und ich muss gestehen, dass auch mir das erst richtig bewusst wurde, als ich erfahren habe, dass sich meine Mitbewohnerin, eine junge Frau aus Kenia, durch ihren sechsmonatigen EVS zum ersten Mal in ihrem gesamten Leben außerhalb ihres Landes befindet. Das liegt daran, dass es die Reisefreiheit, die für uns heute absolut selbstverständlich ist, in Afrika in dieser Form schlichtweg nicht gibt. Dort muss man immer erst ein Visum beantragen, auch, wenn man nur eben drei Tage woanders hinwill. Hinzu kommt, dass der Visumsprozess oft sehr streng ist und man alle möglichen Reisedaten und – gründe angeben muss, um in ein anderes Land reisen zu dürfen. Die problemlosen Grenzüberschreitungen sind für uns Europäer sogar so selbstverständlich geworden, dass ich nicht weiter darüber nachdachte, als zwei unserer Jobshadower aus Indien und Bolivien im März nach Kroatien fahren wollten. Wie sich herausstellte ist Kroatien allerdings kein Land des Schengen-Raums, sodass letztlich eine der beiden - die andere hatte ein erweitertes Visum - an der Grenze abgewiesen wurde und dann mitten in der Nacht in einem angrenzenden Dorf ein kleines Zimmer suchen und morgens um fünf mit dem Bus zurück zu uns nach Nagyvázsony fahren musste.
Wir vergessen schnell, dass es ein Luxus ist, in einer Demokratie zu leben, in der jeder offen seine Meinung sagen darf, ohne dafür irgendwelche Konsequenzen befürchten zu müssen. Wir leben in einem Land, in dem man seine politische Meinung nicht hinter vorgehaltener Hand sagen muss, da man den Aufstieg nur schafft, wenn die politische Weste aus Sicht der Regierung blütenrein ist. Auch, wenn es vielen in Deutschland nicht gut geht und es sicher nicht das Paradies ist, für das es von vielen, auch hier in Ungarn gehalten wird, so gibt es doch Absicherungen wie Hartz 4, die gesetzliche Krankenversicherung und Hilfen wie die Tafeln, etc. Wer in Ungarn fällt, der fällt tief. Soweit ich weiß, erhält ein Arbeitsloser hier etwa 70 oder 80€ im Monat. Wenn dann ein Bier im Dorf 30 Cent kostet, wundert man sich kaum, wenn man die Zahl der Alkoholtoten sieht, Ungarn liegt hier im europaweiten Vergleich an der traurigen Spitze. Ja, ich bin nachdenklicher geworden, Politik ist mir noch wichtiger geworden und Einfluss zu nehmen, meine Meinung zu sagen. Meckern kann jeder. Als mein Mitbewohner aus Nepal mir erzählt hat, wie schön er es findet, dass es hier kein Kastensystem gibt, war ich geschockt, immerhin leben wir im 21. Jahrhundert. Doch er, der aus einer niederen Kaste kommt, muss sich in seinem Land von anderen sagen lassen, dass er nicht das Recht habe, ihnen Wasser einzuschenken, da er weniger wert sei. Für mich ist das ehrlich gesagt total absurd. Und dennoch vergessen wir oft, wie offen unsere Gesellschaft ist und hoffentlich auch bleibt.
Ich möchte weiterhin reisen und mich sozial engagieren. Ich habe gelernt, wie es sich anfühlt fremd zu sein, obwohl ich hier nett empfangen wurde und nie wirklich allein war. Ich lebe in einem Netzwerk, in dem ich Freunde gefunden habe und in dem meine Arbeit wertgeschätzt wird. Und letztlich wusste ich, dass ich zu einem gewissen Zeitpunkt auch wieder nach Hause kann, wo ich sehnsüchtig erwartet werde. Ich kann jederzeit in mein altes Leben zurückkehren.
Natürlich gibt es Momente, in denen man sich stumm fühlt, in einer Sprache, in der man kaum Sätze bilden kann, in der man sich nicht verteidigen kann, in der man Dinge hinnehmen muss. Doch ich bin sehr dankbar für diesen Perspektivwechsel, denn ich glaube, dass man viel reden kann, aber wer eine solche Machtlosigkeit erlebt hat, der weiß, wie es anderen damit geht.
Vor allem aber bin ich dankbarer geworden, für meine Freunde und Familie zu Hause, die immer wieder fragen, wie es mir so geht und was ich mache. Die mich, so gut das aus der Entfernung geht, unterstützen und deren Bilder an meiner Wand hängen und mich beruhigt haben, wenn es mir mal nicht so gut ging.
Letztlich habe ich viel über mich selbst gelernt, was mir wichtig ist, wo meine Stärken und Schwächen liegen. Der EVS ist eine große Reise. Wenn man offen ist, in andere Kulturen und wenn man möchte, auch zu sich selbst.