Euphoria
Johannson ist überwältigt von den Eindrücken, die er bei den vielen Festivals, Camps oder am Meer macht. Farben, Geräusche, Gerüche, Augen und Stimmen faszinieren ihn. As usual also in English.
Vor meinem Haus stehen Panzer. Haubitzen und Raketenwerfer und Männer mit Maschinenpistolen und Sturmgewehren sind aufmarschiert. Dort stehen sie jetzt, in Paradeuniform und halbwegs geordneten Reihen. Stehen vor dem Kriegsdenkmal im Sowjetstil und lauschen der Rede eines Offiziers und seiner Kapelle, deren Tschindarassabum bis in mein Schlafzimmer gedrungen war. Dazwischen rennen ihre Frauen und Kinder mit Blumen herum. Morgens halb zehn in Polen. Während der Durchschnittsdeutsche mit seiner Knopperstüte kämpft, schütten mir die Polen den Inhalt unserer vier lokalen Kasernen vor die Haustür. Keine Ahnung warum. Ein neuer Morgen in Polen.
Fünf-Sterne-Camping
Der Freuden interkultureller Erfahrung nicht genug. Gerade bin ich vom letzten Workshop an der Ostsee zurück und hinterlasse wieder einige Eindrücke. Wir waren in Krokowa, einem Dorf westlich von Gdynia und im Vergleich zur Kajaktour war es der pure Luxus. Kein Zeltbau, nur zwei Sprachen, warmes Mittagessen und da der Garten zum Haus der Familie der Organisatorin gehörte, durften wir dort Küche und Bäder benutzen. Toiletten, Duschen, fließend Wasser... wer braucht Hilton? Thematisch ging es um „Alternative Energien“, ein Thema, das bei mir grundsätzlich erstmal Skepsis auslöst. Doch wie ich lernte, wird der polnische Jugendliche weit weniger damit bombardiert. Auch waren die täglich geplanten Vorträge nicht zu intensiv, manchmal weil der Referent Englisch sprechen wollte ohne es wirklich zu können, manchmal weil es den ganzen Tag regnete. Das hat Magda sichtlich enttäuscht, doch wie ich auch anmerkte, war es ja nicht nur ein Seminar über alternative Energien, sondern ein deutsch-polnisches Seminar über alternative Energien. Und die Integration, die hat geklappt. Leider vor allem, weil fast alle Deutsch sprachen.
Der Schnee von gestern
Wir haben uns Krokowa angesehen, mit seinem Schloss und Park, dem Papstdenkmal, das aussieht wie ein Klettergerüst, dem kleinen Heimatmuseum und seiner interessanten Ausstellung über die Zeit des polnischen Korridors. Wir waren auch in Sopot, wo all die furchtbaren Sachen mit der Ostsee gemacht worden sind wie in Deutschland, wo sowohl die abgesperrten Grand Hotels stehen als auch die kostenpflichtigen Seebrücken und wo wir dieselben vollgestopften Reisebusse wieder trafen, die schon in Krokowa viel länger vor dem Souvenirladen als vor dem Museum gestanden hatten.
Ich habe auch Gdansk wieder gesehen, wo aufgrund des Jarmark Sw. Dominika (Jahrmarkt des Hl. Dominikus: Lasst uns möglichst viele Straßen mit möglichst vielen Fressbuden und Souvenirständen verstopfen) die Hölle los war. Aber unter einem Torbogen am Ende der Droga Dluga spielten zwei Musiker Vivaldi und ich ließ mich nicht lumpen. Denn was für ein Gefühl war es, zur Melodie des Winters diese Massen von Menschen zu sehen, wie sie die Straße herunter trieben gleich einem langsamen Zufluss in die Motlawa, tatsächlich wie ein Schneegestöber an diesem grauen, frühherbstlichen Tag. Ich erinnere mich, wie ich dieselbe Straße im Eis und Schnee des Dezembers entlang geschritten bin. Wir waren auch wieder auf der Werft, wo das Solidarnosc-Museum leider zu hatte. Dafür war es eine schöne Überraschung, in einem verlassenen Gebäude voller Künstler und Hippies an einer Wand auf einmal ein Banner mit der Aufschrift „Tall Ships’ Race, Newcastle 2005“ zu finden.
Paradise now
Im Camp hatten wir lange Abende am Lagerfeuer und allmorgendlich erbitterte Kämpfe mit Wespen, die uns das Frühstück streitig machten, egal wie viele wir (ich) töteten. Wir bauten Sonnenduschen und Wasserrutschen. Wir spazierten durch die ungesicherten Ruinen eines nie fertig gestellten Atomkraftwerks, dessen untere 17 Meter geflutet sind und dessen oberirdischer Teil langsam zu einem Habitat für Vögel wird, bis uns ein freundlicher Wachmann vom Gelände holte. Auch trafen wir uns mit den umgesiedelten Bewohnern des Dorfes, welches dem Werk weichen musste. Mein aggressiver Sarkasmus war gewöhnungsbedürftig und bei einigen ist er wohl auch falsch angekommen.
Aber ich diskutierte mit Vivi in der Hängematte über Rousseau und ich traf das Estherchen, 19 Jahre idealistische Unschuld, die mich nicht nervte und bald nach Amerika geht, obwohl sie aus Templin kommt. Und dann war da Beata, trinkfreudige Magisterkandidatin von Motyka, mit der ich mir messerscharfe Wortduelle lieferte, sodass ich mich schon sehr darauf freue, wenn sie in drei Wochen wieder in Torun ist.
Über allem aber war die Ostsee. Nie werden ihr weißer Sand und abbrechenden Kiefernufer, das ruhige Rauschen der Wellen und das lautlose Bild weit weg spazierender Menschen aufhören, mich an irgendeinem ganz tiefen Punkt zu berühren. Ich fuhr mit dem Fahrrad hin so oft ich konnte. Ich bin in stürmische Wellen gerannt und habe sie gesehen glatt wie einen Spiegel, auf dem lang und rot die Abendsonne lag und ich bin in Wasser gesprungen, so kalt, das ich blau anlief. Und das schönste war, danach mit Beata und Vivi kalt im Sand zu sitzen, ein Bier zu trinken und zu wissen, dass ich jetzt glücklich bin.
Höllentour, Himmelfahrt
Das stand lange auf Messers Schneide. Denn kurz nach meiner Ankunft erfuhr ich, dass meine erste Studienbewerbung abgelehnt worden war. Nun sagte zwar mein Kopf, dass noch fünf übrig waren, aber versuch mal, das Herz und Bauch beizubringen, zumal das sofortige Drängen meiner Eltern auf jeden Fall „irgendwas“ anzufangen auch nicht sehr hilfreich war. So trieb ich viele Tage, so scheint es jetzt, in den schlimmsten Depressionen. Radiohead lief in meinem Kopf auf und ab wie seit fünf Jahren nicht mehr und entgegen aller Vernunft plante ich schon, wie das kommende Jahr zu füllen sei („Wieviel länger kannst Du wohl in Polen bleiben“, „Geh ich halt danach nach Frankreich...“). In diesen mühsamen Kampf für Verdrängen und Vergessen platzte dann während des Essens die Nachricht von der ersten positiven Antwort. Seitdem pumpt das Endorphin. Ich legte einen spontanen Moonwalk auf dem Korridor der, im übrigen sehr guten, Schulspeisung hin. Von einem Moment auf den anderen jagte meine Laune vom Keller durchs Dach und statt meines unabwendbaren Untergangs malte ich mir meine glänzende Zukunft aus, in der es immer so weiter gehen wird wie jetzt. Das hält bis heute an. Denn auf einmal hat sich die einzig echte Sorge aufgelöst, die ich im Moment habe und zurück bleibt: pures Glück.
Destrukcja V: Treten und Hämmern
Am Abreisetag blieb ich noch etwas länger, um mit dem Abbauen zu helfen. Denn soweit war ich, notgedrungen, auf den Workshops eher Teilnehmer als Mitarbeiter und Hilfe, die ich als Praktikant eigentlich sein sollte. Doch gerade bei der Auswertung konnte ich einige Gedanken beisteuern und das fühlt sich gut an, so wird man tatsächlich langsam einer vom Team. Am schönsten war es natürlich, als Beata und ich einige Tische auseinander nehmen sollten. Noch bevor ich „Hurra“ sagen konnte, hatte sie sich schon mit leuchtenden Augen und einem „Destrukcja!“ auf den Lippen, dessen Ernsthaftigkeit nicht anzuzweifeln war, einen Hammer geschnappt und fing an, auf die ersten Bohlen einzudreschen. Man muss das gesehen haben. Ein durchaus nicht unattraktives Mädchen, von den drei Stunden Schlaf der letzten Nacht so müde wie ich, steht da, in einem Sommerkleid, breitbeinig über einem Brett und haut auf die Nägel ein, das man sich wünscht, ihm nicht in einer dunklen Straße zu begegnen. Wir hatten beide unseren Spaß.
Feels like home
Leider macht soviel gemeinsame, angenehme Arbeit den Abschied schwer. So war ich dann auch leicht melancholisch, als ich nach einer ganzen Woche plötzlich wieder allein im Bus war und durch den Regen fuhr. Eine leichte Vorahnung war da, wie es wohl sein würde, wenn ich wieder ganz zurück muss. Zu Fuß zum Bus, mit dem Bus zum Zug, mit dem Zug nach Hause. Wie oft habe ich das jetzt gemacht und nie werde ich einsame Rückreisen lieben lernen.
Dafür werden einige Dinge langsam schon zur Routine. Sich in den überfüllten Zug zu drängeln, die Abteile nach einem Platz abzusuchen, die Tür auf, „Mozna?“. Das ist einerseits angenehm zu sehen, andererseits achtet man so nicht mehr auf Details. Umso schöner ist es, zurück nach Torun zu kommen. Wenn man bei der Anfahrt inzwischen die ersten Dinge erkennt, die Pilsudski Brücke über die Wisla auftaucht, man über die vertrauten Bahnsteige zum Ausgang läuft, dann hat das etwas von dem Gefühl, in Newcastle Central Station einzufahren. Dann die Busfahrt über die nächtliche Brücke, die schwarze Silhouette der Stadt und die orangefarbenen Lichter auf dem Fluss.
Zu Hause ändern sich einige Dinge. So haben wir jetzt eine neue Waschmaschine: unsere alte Slatinka muss einer modernen Pralka weichen. Ewa und ich wohnen jetzt beide endgültig zusammen und werden sehen, ob wir uns vertragen. Sie hat einige sehr strikte Regeln und hat mir binnen Stunden beigebracht, mit Adleraugen auf Staubkörner und unnötig brennende Lichter zu achten. Andere Dinge bleiben gleich, zum Beispiel „Ewa“, unser Gasherd. Und ich vermisse es jetzt schon, das allmorgendliche Abschließen der Wohnung Nr. 7. „Arkuszewscy“, das Runtergehen zur Tür, das Wiederhochrennen in den zweiten Stock, um zu gucken ob man auch wirklich abgeschlossen hat... Es ist immer abgeschlossen.
Ekstatika
Ich habe etwas Erfreuliches gelernt: Torun ist Newcastle und Bydgoszcz ist Sunderland. Ich war noch nie in Bydgoszcz, aber natürlich wähle in der lokalen Rivalität sofort meine Seite. Torun macht es einem auch wieder leicht. Zurzeit läuft schon das nächste Festival, diesmal Theater. Auf dem Weg in die Stadt trifft man zwar erst einmal nur glücklich lächelnde, singende Freaks von irgendeiner Meditationsschule und denkt zuerst dasselbe über die Trommler auf dem Marktplatz. Aber am Abend, nach einem ganzen Tag rollender Vorstellungen wird dir klar, dass das hier nicht die üblichen Hippies sind, sondern Profis. Und wenn Du im Fackelschein die beiden jungen Schauspielerinnen wie Besessene tanzen siehst; wenn Du dazu die hohen, gellenden Frauenstimmen aus Asien oder vom Balkan oder dem tiefen Osteuropa hörst, unterstützt von Trommeln und Kontrabass; wenn ihre langen Haare fliegen und ihre Augen wild rollen und ihre Brust sichtbar bebt, dann denkst Du nur „mein Gott, mein Gott, was darfst Du hier erleben“ und Du gehst nicht nach Hause. Aber wie kann ich es beschreiben? Wie kann ich Euch die Kosaken- oder Derwischkostüme sehen, ihr frenetisches „HOYAHOYA“ hören, den Rauch der Feuer in der Nacht riechen lassen? Ich bin ein sensibles Kind vom Land, ich bin an so etwas nicht gewöhnt. Es ist, als ob man einem Höhlenmensch 3D-Kino zeigt.
Und das gibt es hier ständig. Auf dem Kopfsteinpflaster des Marktplatzes, vor den Gothik-, Renaissance- und Barockfassaden und in den kleinen Gassen wird immerzu erstklassige Kultur geboten. In Newcastle hatten wir das auch, denke ich, aber immer musste ich zurück wenn etwas anfing. Hier kann ich es haben. Jede Nacht. Und es ist Samstagnacht – die Straßen werden sich nicht leeren. Nichts wird aufhören.