ESTLAND | Grenzüberschreitungen schon vor dem EU-Beitritt
Bereits das zweite Mal waren sieben junge Leute aus Münster unterwegs, um eine „Brücke“ von Deutschland nach Estland zu bauen. Nach 2001 planten sie für August und September 2003 eine weitere Reise nach Estland. Auch vor dieser zweiten Fahrt versetzte sie einiges in Sorge: Wie gut würden sie durch Polen, Litauen und Lettland kommen? Wie würden die Esten sie aufnehmen? Welche Arbeit haben sie zu tun? Würde die Arbeit zu schaffen sein?
Im Herbst 2000 hatten wir Kontakt zu Pater Wrembek, einem Jesuiten, der sich um karitative Projekte und deren Aufbau in Estland kümmert, und zu Professor Velo Salo, die uns mit ihren Berichten über Estland nachhaltig beeindruckten und uns für unseren Arbeitseinsatz motivierten. Nach 2001 planten wir für August und September 2003 eine weitere Reise nach Estland. Auch vor dieser zweiten Fahrt versetzte uns einiges in Sorge: Wie gut würden wir durch Polen, Litauen und Lettland kommen? Wie würden die Esten uns aufnehmen? Welche Arbeit haben wir zu tun? Würde die Arbeit zu schaffen sein?
Nachdem einige von uns schon zwei Jahre zuvor dabei waren, konnten wir gut vorbereitet losfahren, dennoch waren wir auch gespannt auf die fremde Kultur und Geschichte, wir waren uns bewusst, dass es etwas ganz Besonderes ist, für eine kurze Zeit das Leben mit den Esten zu teilen. Diese Reise ging weit über das hinaus, was man als einfacher Tourist erleben kann.
Die Hinfahrt war unproblematisch und nach gut 30 Stunden Fahrt mit dem Bulli quer durch Osteuropa (mit Grenzkontrollen, Lkws, Nachtfahrt,…) erreichten wir das Bildungshaus in Tuuru/Estland, wo wir von der Leiterin des Hauses, Kersti Ojasoo (über die auch die Absprachen im Vorfeld gelaufen waren), und ihrem Team herzlich empfangen wurden. War das Gebäude vor zwei Jahren noch ein Rohbau, erwartete uns nun ein beinahe luxuriöses, sehr stilvoll eingerichtetes und künstlerisch ausgestaltetes Haus. Die erste Nacht verbrachten wir dort, bevor wir am nächsten Morgen, wie vor zwei Jahren, unsere Zelte im Nachbarort Kiideva aufschlugen, wo wir auch wieder von Elsa und Tiiu, den beiden älteren Frauen aus dem Dorf, liebevoll mit Frühstück und Abendessen versorgt wurden. Die beiden haben sich sehr gefreut, dass wir (wieder) da waren.
Mittag gegessen haben wir jeden Tag im Bildungshaus, da dort auch ein Hauptschwerpunkt unserer Arbeit lag. In der ersten Woche war es nämlich auf Wunsch von Kersti und Pater Wrembeck, der noch immer stark eingebunden ist in den Aufbau des Bildungshauses, unsere Aufgabe, einen ca. 1,20 m breiten Weg zwischen Altmoisa (so inzwischen der offizielle Name des Bildungshauses; www.altmoisa.ee) und dem dazugehörigen Versorgungshof weiterzuführen. Morgens und nachmittags haben wir dort daher mit Spitzhacke, Schaufel, Schubkarre und Harke ein Fundament ausgehoben, das dann später mit teilweise von uns auf einem großen Erdbeerfeld aufgesammelten Steinen aufgefüllt wurde. Eine wahrlich schweißtreibende Arbeit, für die in Deutschland sicher jeder einen kleinen Bagger kommen lassen würde. Wir haben in einer Woche knapp 25 m geschafft. Der Weg ist Teil einer Gartenanlage, die im Laufe der nächsten zehn Jahre (größtenteils ehrenamtlich) angelegt werden soll.
Wir wurden im Bildungshaus sehr gut verpflegt und herzlich umsorgt. Kersti hatte immer ein offenes Ohr für uns und half uns, als ehemalige Deutschlehrerin, bei sprachlichen Problemen und der Organisation von Ausflügen am Wochenende, z.B. auf die Insel Saaremaa und in die Universitätsstadt Tartu.
Insgesamt waren wir, nach anfänglichem bewundernden Staunen über die tolle Ausstattung des Hauses, auch etwas überrascht, dass solcher Luxus (z.B. eine Suite mit Whirlpool) zu finanzieren war. In einem Gespräch mit Pater Wrembeck, der anlässlich der offiziellen Einweihung von Altmoisa, zu der auch wir eingeladen worden waren, einige Tage in Tuuru war, erfuhren wir dann, dass das Haus als Bildungszentrum mit Hotelbetrieb tatsächlich die gehobenere Schicht der estnischen Bevölkerung (etwa für den jährlichen Ärztekongress) ansprechen soll. Außerdem finden bereits erfolgreich Exerzitien statt.
Die zweite Woche haben wir in erster Linie in und um Kiideva verbracht. Dort hatten wir bereits zwei Jahre zuvor begonnen, einen Verbindungsweg zwischen zwei kleinen Fischerdörfern wieder begehbar zu machen: Zwischen den Fischerdörfern Kiideva und Puise gibt es keine direkte Verbindung. Vorhanden ist nur ein zugewachsener Waldweg direkt am Schilfstrand. Sobald dieser Weg wieder begehbar ist, können die Dorfbewohner einfacher einen engeren Kontakt untereinander knüpfen. Wir haben vor allem die älteren Esten als ein zurückgezogenes Volk kennengelernt. In den letzten Jahren ist bei einigen Dorfbewohnern Kiidevas der Wunsch entstanden, diese Zurückhaltung zu lockern und mehr gemeinschaftlich zu unternehmen. Zum Beispiel wurden ein eigenes Museum aufgebaut und einige alte Häuser instand gesetzt. Unsere Arbeit bestand darin, dass wir in den zwei Wochen die Hälfte der fünf Kilometer langen Strecke zwischen den Dörfern freiräumten und das Stück Wald, das zwischen Weg und Meer liegt, vom Unterholz befreiten.
Damals hatten wir den Eindruck, dass unsere erfolgreiche Arbeit den Esten Mut gemacht hat, an ihren Zielen festzuhalten. Nun mussten wir aber erstaunt feststellen, dass wir tatsächlich fast an der gleichen Stelle weiterarbeiteten, wo unsere Vorgängergruppe zwei Jahre zuvor aufgehört hatte. Es ist wirklich so, dass die Esten aus den kleinen Dörfern des Naturschutzgebietes Matsalu – durchweg ältere und alte Menschen – keine Kapazitäten für diese Arbeit haben. Bei unserer Arbeit half uns Matti, einer der Dorfbewohner. Außerdem haben wir an einem Nachmittag aus einem großen Steinhaufen mauerbare Steine aussortiert, mit denen die Bewohner Kiidevas einen Ofen bauen wollen. Nicht nur für die beiden Dörfer ist der Weg wichtig, auch das Naturschutzgebiet Matsalu, zu dem Puise und Kiideva gehören, hat ein Interesse daran, dass der Wald lichter wird. Die Matsalu Bucht zeichnete sich lange Zeit durch seine artenreiche Flora aus. In den letzten Jahrzehnten lag aber sehr viel Land brach, die Wälder wuchsen zu, und viele Pflanzen wurden verdrängt. Ein Stück Wald haben wir jetzt von Unterholz befreit, dadurch können sich wieder mehr Pflanzenarten ansiedeln. Nicht zuletzt ist der Weg als Wandermöglichkeit gedacht, der, wenn er noch weiter ausgebaut ist, ein attraktives Ziel für Touristen werden kann.
Insgesamt war leider in diesem Jahr der Kontakt mit den Bewohnerinnen und Bewohnern des Dorfes nicht so eng im Vergleich zur vorherigen Reise. Dies lag wohl auch daran, dass wir in der ersten Woche die meiste Zeit in Tuuru verbracht haben. Eine weitere Ursache war die schwierige sprachliche Verständigung. In Kiideva gab es niemanden zum Dolmetschen, so dass es schwierig war, persönlicher ins Gespräch zu kommen. Positiv ist in diesem Zusammenhang allerdings zu erwähnen, dass wir an einem Nachmittag mit einer Mitarbeiterin des Naturschutzgebietes eine kompetente Gesprächspartnerin hatten, die uns viel über die ökologischen Probleme und Vorhaben an der Bucht und generell über Land und Leute erzählte. Sie begleitete uns auch auf einer Bootsfahrt in der Bucht und einem anschließenden Spaziergang durch Puise und von dort aus auf dem Waldweg zurück nach Kiideva. In Puise, wo wir von verschiedenen Dorfbewohnern herzlich aufgenommen wurden, wurde auch der Wunsch geäußert, dass wir beim nächsten Mal in Puise unsere Zelte aufschlagen und arbeiten sollen.
Wir haben während der Arbeitswochen im Dorf Kiideva gezeltet, direkt vor dem Gemeindehaus und Museum. Im Dorf wohnen 44 Leute, im Sommer etwas mehr. Besonders um uns gekümmert haben sich Tiiu und Elsa, zwei ältere Frauen. Wir haben uns fast so gefühlt, als würden wir in ihre Familien aufgenommen; durch sie lernten wir die estnische Küche kennen, hatten Einblick in das Dorfleben und fühlten uns rundum versorgt. Uns stand sogar jeden Abend die Dorfsauna zur Verfügung.
Die Menschen in den Dörfern haben sich sehr über unseren Besuch gefreut. Wir haben den Eindruck gewonnen, dass es für sie eine sehr schöne Erfahrung ist, zu spüren, dass sich junge Leute aus dem Westen für ihr Land und ihr Leben interessieren. Unser Idealismus, der auch ein Grund für diese Reise war, kam bzw. kommt ihnen fast befremdlich vor, ist dabei aber natürlich auch sehr motivierend.
Neben der Arbeit wollten wir auch Estland selbst kennenlernen. Dazu trafen wir uns mit den estnischen Studenten Lele und Mailis. Sie führten uns durch die Universitätsstadt Tartu (Dorpat) und durch Tallinn (Reval). Das Studentenleben in Estland unterscheidet sich nach unserem Eindruck kaum von dem unseren, mit einer Ausnahme: Dort ist die Armut teilweise noch zu spüren, zum Beispiel sind die staatlichen Studentenwohnheime sehr heruntergekommen, die Studenten können sich nicht so viel leisten.
Mailis und Lele haben vor einiger Zeit bei uns im Paulus-Kolleg gewohnt und in Münster studiert. Wir sind sehr froh, dass wir durch die entstandene Freundschaften eine andere Kultur so gründlich kennenlernen konnten. Und wir erhoffen uns, dass zukünftig neue estnische Studenten zu uns kommen und deutsche Studenten zu Estlands Universitäten Kontakt aufnehmen. Außerdem begegneten wir einer Arbeitskollegin von Lele, die uns alle, genauso wie die Menschen in Tuuru und Kiideva, mit sehr viel Gastfreundschaft und Herzlichkeit begegnet ist. So sind Lele und ihre Kollegin für drei Nächte in die Küche ihrer Einzimmerwohnung gezogen und haben uns jeweils ihre Zimmer zur Verfügung gestellt, während wir in Tallinn waren.
Über unsere Reise werden wir noch lange sehr viel zu erzählen haben: die Gastfreundlichkeit und das gute Essen, aber auch die Armut in den Dörfern; die unberührte Natur auf dem Land im Gegensatz zu den grauen Plattenbauten in den Städten; Die Hoffnung, mit der die Menschen in die Zukunft blicken, daneben der Alkoholismus als Flucht vor der Arbeitslosigkeit.
Nach dem Besuch Tallins fuhren wir weiter auf unserer Reise um die Ostsee und erkundeten Helsinki, die Hauptstadt Finnlands, entdeckten Stockholm und trafen in Kopenhagen auf einen befreundeten Priester, der uns die Hauptstadt Dänemarks näher brachte.