Erster Tag in Plhov
Habe nun, ach!
Viel geredet,
nichts gesagt,
durchaus veredelt,
was mich schon lange plagt.
Da stehen Sie nun, Sie armer Tor!
Und sind so klug als wie zuvor;
Heißen Leser, heißen Genießer gar.
Und lesen nun seit einem Vierteljahr,
Herauf, herab und quer und krumm,
Meine Texte im Kreis herum.
Nun wird endlich angefangen,
was schon längst hätte erfolgen sollen,
Sie müssen nicht weiter bangen,
lesen Sie, wenn Sie es wollen.
Heute war es endlich soweit. Ich durfte zum ersten Mal meinen künftigen Arbeitsort besichtigen und meine zukünftigen Kollegen kennenlernen. Sie müssen wissen, dass ich nun schon mehr als zwei Wochen in Náchod und Umgebung verweilt hatte und sich trotzdem erst jetzt ein erstes Treffen mit den Lehrkräften dort ergeben hatte. Angefangen hat der Freiwilligendienst mit den ersten Instruktionen durch die Trägerorganisation Déčko in Náchod und dem einwöchigen Tschechisch-Intensivsprachkurs. Intensiv war diese Phase in der Tat. Zu dritt in einem Raum schlafen, jeden Tag fünf Stunden lernen und fünf Stunden schlafen. Nachdem nun auch noch das “Sommercamp” abgehakt war, kehrte langsam wieder Normalität ein. Am Vortag hatte ich mit einer gleich nebenan wohnenden Lehrerin – meiner Mentorin – eine Uhrzeit vereinbart, um gemeinsam mit ihr zur Plhov-Schule zu fahren. Bereits das war eine schöne Wendung im Fall der tschechischen Handhabung von Organisation und Ordnung.
Die Kontaktaufnahme per elektronischer Post und die Vereinbarung zur gemeinsamen morgendlichen Fahrt hatten schon mal tadellos funktioniert. Es war – besonders für meine Verhältnisse – recht früh. Lieber wäre ich später gegangen, aber am ersten Tag gleich schon so einen Eindruck zu hinterlassen wollte ich dann auch nicht. Und so blieb es bei der vorgeschlagenen Abfahrtszeit von 07:00 Uhr. Schulbeginn ist eine Stunde später.
Um 05:30 Uhr klingelte mein Wecker. Eine denkbar unchristliche Zeit, allerdings befand man sich im Land der Atheisten und Agnostiker, so durfte das einen nicht stören. So ein Gefühl der Müdigkeit habe ich selten erlebt. Nicht nur Müdigkeit, sondern schon fast Schläfrigkeit. Vorsichtshalber alle Wecker nach und nach auszuschalten war deshalb nicht die beste Idee. Vier waren es an der Zahl. Sich dann nochmal aufs Ohr zu legen ist risikoreich. Warum ich es trotzdem machte, ist mir schleierhaft. Um 06:24 Uhr erwachte ich schließlich, sichtlich geschockt durch mein Wiedereinschlafen. Mein Weg führt in die Dusche. Das durfte auch bei Zeitknappheit nicht ausfallen. Mit frischer und gehobener Kleidung ging ich kurze Zeit später an den Frühstückstisch und verspeiste das tags zuvor erworbene Feingebäck. Für einen Kaffee blieb keine Zeit, jedenfalls nicht, wenn ich pünktlich sein wollte. Als Deutscher habe ich einen Ruf zu verlieren. Und während die Tschechen bisher mit einer paradoxen Mischung aus hohen Erwartungen und eigener Verlässlichkeit – das Präfix musste ich leider streichen – aufgefallen waren, war ich mir diesmal sicher, dass meine Mentorin auf jeden Fall pünktlich sein würde. Das konnte man schon an unserem Schriftwechsel zuvor erkennen. Folglich richtete ich nur noch kurz meine Siebensachen zusammen und verließ die Wohnung. Den Treffpunkt konnte man innerhalb einer Minute erreichen. Das ist einer der Vorteile, wenn man eine Plattenbauwohnung hat. Alles ist kompakter. Allerdings hatte ich die achtzehn Jahre zuvor nie als ungewöhnlich oder gar störend empfunden. Ich komme aus einer Wohngegend, die sich mehr in der Peripherie verläuft und nicht mit dem Ziel angelegt wurde, möglichst viele Menschen unterzubringen. Qualität vor Quantität.
Um 06:58 Uhr erreichte ich den Treffpunkt. Vier Minuten später kommt auch schon meine Mentorin. Man begrüßt sich und steigt in den blauen Škoda Fabia ein. Während an Deutschlands Schulen das Auto des Lehrers mehr über diesen aussagt als es acht Jahre Unterricht je könnten, ist man in Tschechien etwas genügsamer. Da muss es kein Mercedes-Benz, BMW oder Audi sein, sondern der Franzose, Japaner oder Koreaner tut es auch. Allein schon das Lohnniveau würde nicht wirklich ausreichen, um so ein Auto fahren zu können. Sich auf dem “Gebrauchtwagenmarkt” zu bedienen, wäre moralisch verwerflich, wenn man weiß, warum ich diesen Begriff in Anführungszeichen gesetzt habe.
Aufgrund von Bauarbeiten dauerte der Weg zur Schule etwas länger. Bei dieser Gelegenheit sprachen wir gleich über die bevorstehende Fahrradtour, was ich mitbringen sollte, und wie die Logistik funktioniere. Für mich, als ordnungsliebenden Deutschen – wenngleich mein Zimmer entgegen der Erwartungen kein Indiz dafür ist – eher schon mein Schreibtisch – , war das wunderbar. Während die Organisation bisheriger Veranstaltungen mehr einer Suche nach Informationsfragmenten glich, war in diesem Fall endlich mal eine Struktur vorhanden. Bereits diese kleine Geste zauberte mir, dem ernsten, gefassten Mann, ein Lächeln der Anerkennung ins Gesicht.
Auf der Fahrt sah ich darüber hinaus mal einen neuen Stadtteil von Náchod. Es gab viele Fabriken zu sehen. Die Schornsteine sah ich aus meinem Zimmer. Nun war ich ihnen nah wie nie. Fast schon am Ortsende befand sich die Schule wie ein Juwel in der sonst recht eintönigen Plattenbau-Landschaft. Um die Schule herum gab es viel Wald. Schön anzusehen. Auf dem Parkplatz vor der Schule stellten wir das Auto ab und gingen Richtung Eingang. „Oh, ein Mazda RX-8, hier hat jemand Geschmack.” Von außen machte die Schule einen guten Eindruck. Eine Fassade im Farbton Rosso Corsa mit grauen Elementen. Wenn ein Ferrari 458 Italia ein Gebäude wäre…
Zu unserer Linken ein neues Klettergerüst. Durch den Zentraleingang betraten wir das Gebäude. Rechts gab es einen kleinen Kiosk. Ich wurde der tschechisch- und sogar ein bisschen deutschsprachigen Verkäuferin vorgestellt. Sie war darüber hinaus für die Türöffnung zuständig. Dazu hatte sie einen Schalter, den sie umlegte, wenn jemand an der Tür stand, den sie nicht für einen potenziellen Amokläufer hielt.
Die Treppen hinauf ging es zur Kantine. Einen der vorerst wichtigsten Orte für mich. Nach viermaligem Klopfen öffnete eine Bedienstete die Küchentür und wir (das bedeutet meine Mentorin) organisierten ein Mittagessen für mich. Ich konnte zwischen Spaghetti und Linsen auswählen. Ich entschied mich für die Spaghetti und war bereits mit einer gewissen Vorfreude belegt, zumal alles gut geklappt hatte und die Köchinnen richtig nett zu mir waren. Keine latente Xenophobie wie bei manchen Verkäufern, denen man im Alltag leider manchmal begegnete. Die Köchinnen sprachen zwar nur Tschechisch, daran hatte ich mich aber längst gewöhnt. Ich meine, mit der französischen Fremdsprachenverweigerung während der Sömmerung in diversen Jahren durfte ich ja bereits meine Erfahrungen sammeln. Es ist völlig natürlich, in seiner Muttersprache zu kommunizieren, und wer wäre ich, jemandem vorzuschreiben, welche Sprache er mit mir zu sprechen hat?
Nun gingen wir ins Lehrerzimmer. Schon auf dem Weg dorthin begegneten uns unzählige Lehrkräfte, denen ich natürlich stolz vorgestellt wurde. In meinem gebrochenen Tschechisch versuchte ich zu antworten, was meist zur Folge hatte, dass eine Frage auf Tschechisch kam, welche ich nicht verstand. Immerhin erkannte man mein Bemühen an. Kurze Zeit später betraten wir das Lehrerzimmer. Gleich zu Beginn lernte ich ein paar für mich in Zukunft wichtigen Lehrer und Lehrerinnen kennen. Um ehrlich zu sein, waren es nur Lehrerinnen. Kaum eine älter als 30. Eine Schule für Junge, Jungen und Junggebliebene. Eine Ausnahme gab es dann dennoch. Und wo unsere Gesellschaft doch stets so bemüht ist, mit Rollenklischees aufzuräumen, wie könnte es anders sein: ein Physiklehrer. Mit Hang zum Humor, wie sich herausstellte. Wir teilten uns ein Büro mit ihm, mir wurde jedoch gesagt, dass er dort sowieso nur selten anwesend sei. Laut eigener Aussage lebe er in der Physik und bräuchte deshalb kein Büro. Dass ich in der Schule Physik abgewählt hatte, sagte ich ihm nicht. Neben dem Physiklehrer lernte ich jedoch auch noch ganz viele andere Leute kennen. Man war vorbereitet und umgänglich. Trotz des Altersunterschieds und meinem fehlendem Studium wurde ich in keinem Fall als Minderqualifizierter behandelt, was mir zusagte und die Lehrer für mich noch sympathischer machte.
Das Lehrerzimmer war übrigens vorbildlich eingerichtet. Es gab Sitzmöglichkeiten, Schreibtische, eine Teeküche und zwei Rechner, die ich auch benutzen durfte. Hier würde es sich ein Jahr lang aushalten lassen. Nach diesem ersten Eindruck gingen wir zur Sekretärin des Direktors, die mir drei Schlüssel aushändigte. Das ging völlig unbürokratisch und schnell. Eine Unterschrift und fertig. Dies erleichterte meine Tätigkeit dort enorm. Bis man in Deutschland einmal an die wichtigen Schlüssel herankommt, können Wochen vergehen. Umso glücklicher war ich über diese Einfachheit.
Je nachdem, was für eine Lehrerin ich kennenlernte, wechselt auch die Sprache andauernd. Ich begann mit meinem rudimentären Tschechisch. Die Englischlehrerinnen wechselten dann meist auf Englisch, die Deutschlehrerinnen trauten sich nur vorsichtig an dieses Monstrum der Expression heran, das das Deutsche durchaus ist. Manche waren sich noch recht unsicher, obwohl ich von jedem Stückchen Deutsch, das ich hörte, begeistert war. Mit einer Lehrerin konnte ich dann sogar auf Französisch reden, da diese zwar diese Sprache ein wenig spricht, dafür aber weder Deutsch oder Englisch. Ich geriet langsam in Sprachkonflikte. Mein Gehirn tat sich zunehmend schwerer, die Abteilungen zu trennen. So vermischen sich im Kopf Deutsch, Englisch, Französisch und Tschechisch. Dieser Sprachensalat ist eines der Dinge, die den Schulbesuch noch interessanter machten, zumal neben der Sprache an sich auch noch Elemente wie Sprechgeschwindigkeit, Wortschatz und Betonung dazu kamen. Dass man mich versteht, musste ich die eigene Sprechweise stets dem Gegenüber anpassen. Das dann noch in zwei Sprachen, vorzugsweise kombiniert, das war mal eine Herausforderung der anderen Art fürs Gehirn.
Unser Weg führte uns nun in unser zukünftiges Büro. Schön eingerichtet, zweckorientiert eben, immerhin hatte ich einen eigenen Schreibtisch mit Blick auf den Wald. Besser geht es nicht. Wie erwartet, war der Physiklehrer, der das Büro ebenfalls nutzt, nicht anwesend. Stattdessen bekam ich schon mal den Rechner und die Akten gezeigt. Alles schön sortiert, einfach traumhaft, ich komme aus dem Schwärmen nicht mehr heraus. Lange verweilten wir nicht. An diesem Morgen hatte meine Mentorin eine Vertretungsstunde, sodass wir die Kinder erst noch abholen mussten. Dafür gingen wir zwei Stockwerke nach unten. Die Kinder warteten bereits. Meine Mentorin erklärte kurz, dass sie heute die Vertretungsstunde leite und stellte mich natürlich vor. Ein paar Worte verstand ich ja. Als das Wort „německý” fiel, blickten mich alle Kinder mit großen Augen erstaunt an. Ob es derart ungewöhnlich ist, fragte ich mich. Jedenfalls schien ich ziemlich aufzufallen. Die Leute waren interessiert an meiner Person und wollten möglichst viel wissen. Gemeinsam liefen wir in das Klassenzimmer. Für die erste, meine erste, Schulstunde stand Englisch auf dem Plan. Es war eine dritte Klasse. Das Englisch der Kinder steckte noch in den Kinderschuhen. Wir begannen mit einer Lektion über die Waschmaschine. Als ich das sah, musste ich etwas schmunzeln. Dafür gab es einen Grund. Den ganzen letzten Abend hatte ich mich nämlich mit eben so einer Maschine herumgeschlagen, bis tief in die Nacht. Die Türe wollte einfach nicht aufgehen, egal was ich auch tat, sodass ich einen kompletten zweiten Waschgang machen musste. Am Ende summierte sich dann der Aufenthalt der Kleidung in der Waschmaschine auf über drei Stunden. Nicht mein Geld. Meine Wäsche hat es überlebt, doch es war dennoch ärgerlich, kurz vor Mitternacht noch Wäsche aufhängen zu müssen, wenn es am nächsten Morgen schon um 05:30 Uhr beziehungsweise 06:24 Uhr aus dem Bett gehen sollte. Sich nun schon wieder mit einer Waschmaschine beschäftigen zu müssen, war daher ein amüsant-frühes Wiedersehen. Inhalt der Lerneinheit waren unter anderem die Farben, die sich in der Waschmaschine angeblich vermischen würden. Wenn das der Fall wäre, wäre meine Wäsche schon längst einfarbig. Die Namen der Kleidungsstücke waren schon erstaunlicherweise schon bekannt.
Ich durfte ab und zu auch mal eine Aufgabe übernehmen. Das stellte man sich immer so leicht vor. In der Realität hatte man dann jedoch eine Klasse voller erwartungsvoller Kinder vor sich sitzen, die stets unterhalten werden wollten. Mit stiller Arbeit war da nichts einzunehmen, wir mussten uns zum Singen bequemen. Stets musste ich zudem darauf achten, langsam, deutlich und mit eingeschränktem Wortschatz zu reden. Bisher war ich eher nicht mit diesen Eigenschaften aufgefallen, um es vorsichtig auszudrücken. Sogar der Englischlehrerin, die uns in Vyžňov eine Präsentation über Lehrtechniken gezeigt hatte, sprach ich zu schnell. Hier nun also das Gegenteil. Auch einmal eine interessante Erfahrung. Es ist schwieriger als man denkt, einfaches Englisch zu sprechen. Viel zu schnell ging die erste Stunde zu Ende. Es hat alles funktioniert, das gab einem schon einmal ein kleines Gefühl der Erleichterung.
Für die zweite Stunde wechselte ich den Raum, die Klasse, die Lehrerin, nur das Fach nicht. Es blieb bei Englisch. Dieses Mal war ich in der Klasse 5A, die ich das Jahr über begleiten würde. Es seien intelligente, aber stille Schüler, sagte mir die Lehrerin. Ich stellte mich zu Beginn der Stunde kurz vor, redete über Stuttgart, die Stadt, die meist nur Treffpunkt für den Sprachkurs, Seminare oder Kultur in Form von Theater, gezwungenermaßen, war. Trotzdem war das Interesse relativ hoch, was mich recht erstaunte. Bis auf meine kurze Vorstellung am Anfang der Stunde war ich in der Folge kaum involviert, was mich nicht wirklich störte. Mein Gehirn war noch immer nicht voll einsatzfähig, sodass ich lieber über altbekannte Dinge grüble, dem Unterricht dabei nur wenig folgend. Die erste große Pause war da schon interessanter. Ich ging in das Lehrerzimmer und fand dort, nach was ich lange gesucht hatte: eine Kaffeemaschine. Während die Schule das Juwel in Náchod ist, ist ihre Entsprechung im Lehrerzimmer diese Maschine. Wie ein Schatz thronte sie auf einem eigenen Tischlein. Das war genau das, was ich jetzt brauchte. Eine Tasse ist schnell gegriffen und schon kann das schwarze Gold fließen. Fünf Kronen kostete eine Tasse. Das waren nicht einmal 20 Cent für einen einwandfreien Kaffee. Jetzt hatte sich das auch das morgendliche Kaffee-Dilemma erledigt. Filterkaffee zu machen lohnte sich nicht bei der kleinen Menge, die ich trinke, und meine eigene Kapselmaschine zu verwenden, war relativ teuer und daher nur speziellen Anlässen angemessen. Trotz der guten Kaffee-Infrastruktur war ich der einzige im Raum, der welchen trank. Große Kaffeetrinker scheinen die Tschechen nicht zu sein. Damit würde sich auch deren Vorliebe für Instant-Bohnenkaffee erklären. In Deutschland die reinste Notlösung, ist er hier eine praktische und überall etablierte Alternative zum deutlich schmackhafteren Filterkaffee.
Nachdem die Pause auch für die Lehrer aus war, holte mich eine Deutschlehrerin ab, die konsequent Deutsch sprach, was mich freute. Sie hatte eine siebte Klasse. Für diese Stunde stand Aussprache auf dem Plan. Anhand von Tiernamen gingen wir den Untiefen der deutschen Sprache auf den Grund. Kreaturen wie Mücken oder Möwen sind nicht nur im richtigen Leben eine Plage, sondern auch wenn es darum geht, die Namen auszusprechen. Für die meisten Schüler stellte das „Ü” die größte Herausforderung dar. Der Einfachheit halber sagen die meisten Schüler einfach „U”. Die Königsdisziplin war dann die Aussprache von „Büffel”. Nur einer der Schüler, der im Übrigen auch alle anderen Tiernamen meisterte, schaffte es, eine dem Deutschen nahe Aussprache hinzukriegen. Zur Auflockerung der Atmosphäre machte die Lehrerin jetzt einen kleinen Praxisteil. Wir sprachen tägliche Konversationen durch, die durch ihre Einfachheit bestachen. Der erste Dialog war:
Guten Tag. Ich bin Niklas. Wer bist du?
Ich bin Adelka. Auf Wiedersehen.
Auf Wiedersehen.
Den Kindern hat es anscheinend gefallen. Scheinbar waren sie verwundert über den tatsächlichen Klang des Deutschen. Für mich wäre das lediglich eine notorisch verkürzte Konversation. Für die Schüler war es eine durchaus belustigende Angelegenheit. Der zweite Dialog war da schon anspruchsvoller. Aber auch umgangssprachlicher.
Hallo, wie geht's?
Danke, gut. Tschüss.
Tschüss.
Vor allem das letzte Wort bereitete den Schülern Sorgen. Es ist für ein einsilbiges Wort relativ lang und hat eben gleich drei Sonderlaute mit drin. Das „Tsch” ist eigentlich das gleiche wie das tschechische „Č”. Das „Ü” hatten wir ja bereits, das machte Schwierigkeiten. Wer einen Fremdsprachigen maximal verwirren möchte, braucht ihm nur dieses Wort vorzulegen. Meistens wurde ein „Tschüss” daraus, was wiederum klang wie das tschechische Wort für „Saft”: „Džus”. Das Signalwort schlechthin, um festzustellen, ob jemand Deutsch spricht. Es war fast schon sympathisch, diese spezielle Aussprache. Jetzt war ich ja da und konnte versuchen, meine Kenntnisse der deutschen Sprache an die Kinder weiterzugeben. Diese waren jedenfalls recht erfreut, nun einen Muttersprachler im Unterricht zu haben. Das brachte auch etwas Abwechslung mit in den Unterricht hinein. Wieder verging diese Unterrichtsstunde wie im Flug. Gleich sollte die nächste folgen. Diesmal wieder mit meiner Mentorin. Auch der Inhalt unterscheidete sich nicht besonders. Es ging wieder um Tiernamen, allerdings durfte ich diesmal auch Fragen stellen. Um den Schwierigkeitsgrad der Fragen ging es nicht. Es war schließlich eine siebte Klasse. Da waren die Kinder geistig schon recht weit. Es ging darum, welche Tiere im Wald, welche im Wasser, und welche im Zoo leben. Letzteren “Lebensraum” fand ich etwas belustigend in Anbetracht der beiden ersteren. Ich sollte es auf Deutsch versuchen, auch wenn die Kinder kaum etwas verstanden. Ich zeigte dann eben die Aufgabe, die Bilder und zusätzlich gab es ja auch noch die Arbeitsanweisung abgedruckt in den Büchern der Kinder. Das Repertoire der Kinder war schon relativ groß. Unzählige Tierarten konnten sie aufzählen. Wer geschummelt hat und im Buch die Namen nachgeschlagen hat, habe ich jedoch auch nicht überprüft. Für jede richtige Antwort gab es ein Kärtchen. Zwei der Kinder waren besonders aktiv und meldeten sich permanent. Andere Kinder streckten ab und zu, andere gar nicht. Es war schwer, alle Schüler gleich oft aufzurufen. Ich ging immer von Seite zu Seite. Keiner beschwerte sich. Auch wenn es mir ein bisschen das Herz brach, hatte ich die Anweisung erhalten, die Kinder bei ihrer Aussprache zu korrigieren. Ich war schon froh, dass die Kinder überhaupt so ein reges Interesse an der deutschen Sprache hatten und nun sollte ich wegen solchen Kleinigkeiten rummosern? Dann auch noch diese ganzen Umlaute, die in der tschechischen Sprache gar nicht vorkommen. Was die Lehrerin nicht unbedingt bemerkte, war, dass ich nach mehrmaligem Versuch durch die Kinder deren Antwort akzeptierte, selbst wenn die Aussprache aus deutscher Sicht noch fehlerhaft war. Sonst hätte ich dort noch Stunden gestanden und die Kinder hätte jegliches Interesse an der deutschen Sprache verloren.
Wieder einmal war eine Stunde vorüber. Ich rechnete nun mit dem Mittagessen, doch hatte ich nochmal eine Schulstunde, bevor es endlich in die Kantine gehen sollte. Eine junge, blonde Englischlehrerin holte mich ab und begleitete mich in ihr Klassenzimmer. Die Kinder waren schon da und nahmen meine Anwesenheit sichtlich verwundert zur Kenntnis. Die Lehrerin erklärte kurz auf Tschechisch, wer ich sei und was ich hier machen würde. „Nĕmecký” (deutsch), „Dobrovolný” (Freiwilliger), das schnappte man stets auf. Die Kinder fertigten eine Visitenkarte mit meinen Daten an. In der letzten Stunde hatten sie das mit sich selbst gemacht, nun war es aber an der Zeit, die Fragestellungen zu wiederholen, da die Kinder dies noch nicht geübt hätten. Einfache Fragen der Art: „What’s your name?”. Das fing ja schon einmal gut an. Meinen Nachnamen zu buchstabieren, war selbst auf deutschen Behörden noch nötig. Überall darf ich per Buchstabieralphabet meinen typisch deutsch klingenden Nachnamen, der jedoch relativ selten ist, aufsagen. Nach dreimaligem Buchstabieren meldeten alle Kinder, dass sie nun fertig seien. Eines der Kinder wurde zur Tafel gebeten und schrieb den Namen tatsächlich vollständig korrekt an die Tafel. Ich war beeindruckt. Mit dem Straßennamen haperte es noch. Die Umlaute ersetzte ich jeweils durch ein „ae” und ein „ue”. Alles andere wäre zu umständlich gewesen. Kleine Fehler gab es, aber darüber konnte man hinwegsehen. Ich war relativ verwundert über das Buchstabiertalent der Kinder. In meiner Klassenstufe hatte ich mal eine Mitschülerin. Es ging darum, den Namen George W. Bush aufzuschreiben. Der Klassenkamerad diktierte: George, double u, Bush. Sie fragte dann, wie man denn „double u” schreiben würde. Bitte nehmen Sie diesen Vorfall nicht als Beispiel für die Beurteilung der Qualität des deutschen Bildungssystems zur Hand. Wobei, andererseits wäre es eines eigenen Textes würdig. Soll dieser Vorfall doch nicht als singulärer Eindruck verbleiben.
Nach diesen fünf Schulstunden gab es endlich Mittagessen. Die Lehrer begleiteten die Klasse stets in die Räumlichkeiten der Kantine. Bevor man diese jedoch betreten darf, musste man erst die Hände waschen, was ich gut fand. Ich wusch mir die Hände und ging hinein. Die Kinder mussten draußen warten, bis die Schlange vor dem Essensschalter kurz genug war, dass es sich lohnt, hineinzugehen. Innen wartete nochmal eine Klasse, ohne sich anzustellen. Als Lehrerhilfskraft durfte ich bis ganz nach vorne durch. Den Kindern gegenüber minimal unfair, aber eben eines der vielen Lehrerprivilegien. Ich nahm mir Tablett, Besteck und ein Glas. Doch schon war ich überfordert. Es gab vier mögliche Getränke, aus denen man auswählen konnte. Wasser, etwas tiefrotes, Milch und eine grünliche Flüssigkeit, wahrscheinlich Limonade. Da in dem Wasserbehälter frische Zitronenscheiben schwammen, nahm ich mir davon und ging weiter zur Essensausgabe. Hier grüßte mich eine der Köchinnen und zeigte auf einen Suppenteller, der etwas abseits der anderen stand und etwa mit der doppelten Menge Suppe gefüllt war. Er war für mich gedacht. Das fing ja schon mal gut an. Dann ging ich ein Fenster weiter. Hier gab es das Hauptgericht. Ich reichte der Köchin den Zettel, auf dem die Sondersituation erklärt war. Diese begutachtete diesen misstrauisch. Als ich mir einen der Teller mit Spaghetti nehmen wollte, gestikulierte sie wild und machte mir deutlich, ich solle den Teller wieder zurückstellen. Ich rechnete fest damit, dass etwas mit dem Zettel nicht in Ordnung war. Stattdessen nahm die Köchin einen neuen Teller und schöpfte eine Riesenportion Nudeln mit Pesto und Hähnchenfleisch. Das hat sie also gemeint. Ich bekam eine extragroße Portion. Ich bedankte mich bei der Köchin, welche mich freundlich anlächelte. Zum Nachtisch konnte man sich noch Weintrauben mitnehmen. Alles im Preis inbegriffen, versteht sich. Ein kulinarisches Paradies. Alles, was ich in der Mittagspause in meiner Wohnung am anderen Ende von Náchod zaubern könnte, wäre bestimmt nicht annähernd so lecker und wahrscheinlich kaum günstiger. Das Essen schmeckte gut und sättigte. Ich hatte nun frei. Meine Mentorin wollte noch etwas Arbeit erledigen, ich konnte so lange ins Lehrerzimmer gehen. Die Kaffeemaschine strahlte mich schon wieder so verdächtig an, da gab ich nach und trank eine weitere Tasse. Nach dem umfangreichen Essen einfach ideal. Es kamen viele Lehrer vorbei und stellten sich vor. So auch Jaroslav, der bei der einwöchigen Fahrradtour dabei sein wird. Er erklärte mir ein paar Einzelheiten und ließ die Vorfreude in mir um einiges anwachsen. Zwar würde das kein Zuckerschlecken, sondern eine Sportveranstaltung werden, das kommt mir aber gelegen, da die letzten Wochen bis auf die Läufe in Eigeninitiative recht sportarm waren. Dann noch das gute tschechische Essen. Eine gefährliche Kombination. Ich war jedenfalls schon Feuer und Flamme für die bevorstehende Tour im Adlergebirge.
Um halb drei kam dann meine Mentorin wieder von ihrer Arbeit zurück und wir konnten gehen. Gemeinsam fuhren wir wieder zur Wohnung zurück. Zuvor zeigte sie mir noch die Fußgängerbrücke, welche auf schöne Wander- und Laufpfade führe. Dann bogen wir links ab und schon waren wir da. Am Sonntag würde man sich vor der Abfahrt zur Fahrradtour wieder sehen. Ich bedankte mich für diesen schönen ersten Tag an der Plhov-Schule, der nicht zuletzt durch ihre Planung erst so großartig wurde. Man verabschiedete sich. Mit unzähligen neuen Eindrücken lief ich zu meiner Wohnung. Das war er also, der erste von vielen Tagen an dieser großartigen Schule. Diese Erfahrungen alle zu verarbeiten dürfte einiges an Zeit und Papier brauchen.