Endspurt
Der Rückflug ist gebucht, der letzte Arbeitstag liegt hinter mir und die Erkenntnis, dass 11 Monate so schnell umgehen können, will einfach nicht in meinen Kopf.
Zum Glück hat sich die Coronasituation inzwischen in Estland beruhigt und es gab schon mehrere Tage hintereinander ohne Neuinfektionen und seit Anfang Januar keine Todesfälle mehr, denn so konnte ich eine estnische Tradition miterleben: Jaanipäev (Johannistag). Der Jaanipäev, bei uns eher bekannt als Mittsommer, beginnt hier am Abend des 23. Juni und endet am 24. Juni. Es wird traditionell mit Freunden oder Familie auf dem Land gefeiert, zum Beispiel in rustikalen Holzhütten oder auch klassisch mit Zelt und Schlafsack in der Natur. Gemeinsam mit rund dreißig anderen Freiwilligen und ehemaligen Freiwilligen entschied ich mich für die zweite Option, die dank der hunderten kostenlosen Campingplätze in Estland auch sehr preisgünstig war. Zelte wurden uns netterweise von einem Jugendzentrum, in dem eine der Teilnehmerinnen arbeitet, gestellt und sogar per Auto zu dem Platz gefahren. Wir verbrachten eine lustige Nacht mit Feuer machen, grillen, Ukulele spielen und dem ein oder anderen Bier. Tatsächlich wurde es am Jaanipäev (aber auch die Tage vorher und nachher) nicht wirklich dunkel. Ich muss, ohne die Möglichkeit mein Zimmer abzudunkeln, bis jetzt noch mit einem T-Shirt über dem Gesicht schlafen, weil die Morgendämmerung um spätestens 3:30 Uhr in der Früh beginnt. Mir war vor dem Antritt meiner Reise nach Estland gar nicht bewusst, dass es auch hier die Weißen Nächte, für die sonst nur Skandinavien bekannt ist, gibt und bin froh, diese interessante Erfahrung einmal gemacht zu haben.
Außerdem haben meine Mitbewohnerin und ich Ende Juni noch einen Tagesausflug in den Kurort Haapsalu gemacht, welcher direkt am Meer liegt. Bei rund 30 Grad haben wir es uns an der Strandpromenade mit einem Milchshake gut gehen lassen. Ansonsten standen in den letzten Wochen viele Abschiedsfeiern an, da die Mehrheit der Freiwilligen sich inzwischen auf den Rückweg macht. So verabschiedete ich die italienische Freiwillige, welche die erste andere Freiwillige war, die ich an meinem Ankunftstag am Flughafen in Tallinn getroffen habe. Einen österreichischen Freiwilligen, der seinen Rückweg über Lettland, Litauen, Polen und Deutschland mit dem Fahrrad antritt. Und eine sehr gute Freundin, die ich hier getroffen habe und mit welcher ich, sofern sie an der Universität Göttingen angenommen wird, vielleicht bald in der gleichen Stadt leben werde.
Natürlich stand am 10. Juli auch noch die Verabschiedung von meinem Arbeitsplatz an, welche sich ein wenig unwirklich anfühlte. Zwar hatten weder ich noch meine Mitbewohnerin die beste Beziehung zu unserer Tutorin oder anderen Mitarbeiter, doch wurden wir trotzdem freundlich mit Blumen, Schokolade und einem kleinen Schlüsselanhänger verabschiedet. Wir selber hatten ebenfalls Blumen mitgebracht und für unsere Klienten ein Fotopuzzle mit Bildern aus unserer gemeinsamen Zeit erstellt. Die Verabschiedung von den Klienten, von denen wir zu einigen richtige Freundschaften aufgebaut haben, fiel ein wenig trauriger aus. Zwar verstanden nicht alle wirklich, was es bedeutet, dass wir zurück nach Deutschland fliegen, doch die, die es verstanden, waren dafür umso trauriger. So musste ich einem der jüngeren und fitteren Klienten versprechen, über Facebook mit ihm in Kontakt zu bleiben und es wurde ein Abschiedsfoto mit allen gemacht, welches ich mir mit Sicherheit in Deutschland ausdrucken werde. Ich werde es vermissen, von den Klienten für die mein vollständiger Name zu schwierig ist, mit Rike angesprochen zu werden oder schon von hundert Meter Entfernung ein freudiges: „Die deutschen kommen!“ zu hören. Eine Mitarbeiterin hat den Klienten zwar versucht zu erklären, dass diese Aussage im historischen Kontext in dem postsowjetischen Staat falsch verstanden werden könnte, gebracht hat es aber nichts. Es war eine schöne Zeit in Tapa Kodu, die trotz anfänglicher Kommunikationsschwierigkeiten und Unsicherheit zu einer Erfahrung wurde, die ich nicht mehr missen will. Ich war zuvor noch nie langfristig in Kontakt mit Menschen mit Behinderung und die Klienten waren zuvor noch nie langfristig in Kontakt mit zwei deutschen Mädchen – eine Win-win-Situation.
Einen Tag später, am Samstag, starteten meine Mitbewohnerin und ich zusammen mit einem weiteren deutschen Freiwilligen auch schon auf unseren kleinen Roadtrip Richtung Südestland. Wir hatten uns in Tallinn günstig ein Auto gemietet, da viele schöne Plätze in der Natur gar nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen sind. Unser erstes Ziel war Pärnu, die Sommerhauptstadt Estlands, welche ihrem Namen jedoch nicht gerecht wurde. Als wir ankamen regnete und stürmte es so stark, dass mehrere Bäume entwurzelt wurden und wir kurz unseren Plan in der Nähe zu campen anzweifelten. Die RMK-App, welche neben kostenlosen Campingplätzen in Estland auch kostenlose Hütten anzeigt, schaffte aber schnell Abhilfe. So steuerten wir nach einem Kaffee und einem windigen Spaziergang am Strand den Soomaa Nationalpark an, in welchem mehrere Holzhütten als Schlafmöglichkeiten bereitstehen. Wir fanden eine sehr schöne Unterkunft, die direkt an einem Fluss lag und neben Feuerstelle und Plumsklo auch interessante Nachbarn zu bieten hatte. Mehrere deutsche Urlauber waren hier unabhängig voneinander mit ihren Wohnmobilien gelandet, sodass ich mich kurz fragen musste, ob ich denn schon zurück in Deutschland bin. Die kostenlosen und wirklich wunderschönen Campingplätze, der günstige Sprit und die Coronakrise beschaffen Estland wohl unzählige deutsche Camper. Die Nacht in der Hütte war etwas gewöhnungsbedürftig, doch einigermaßen ausgeschlafen fuhren wir am Sonntag weiter in den Nationalpark und machten über Moorstege eine Wanderung durchs Moor. Danach machten wir einen Abstecher bei Viljandi, da der andere Freiwillige die kleine Stadt am See noch nicht besucht hatte, bevor wir den nächsten Campingplatz in der Nähe von Voru ansteuerten. Hier war neben uns nur ein estnisches Paar und so konnten wir unser Zelt entspannt zwischen einigen Bäumen in See Nähe aufschlagen. Wir verbrachten den Abend damit, irgendwie ein Feuer zu entfachen, was sich mit nassem Holz schwieriger gestaltete als erwartet, sodass wir uns letztlich an das Feuer der Esten setzten. Am nächsten Morgen gingen wir im See schwimmen und genossen unser Frühstück in völliger Ruhe mit Blick aufs Wasser, bevor wir weiter zum Hinni Kanjon fuhren. Dort verbrachten wir den Nachmittag und steuerten dann, mit einem kleinen Halt in Tartu zum Kuchen essen bei Café Werner, einen Campingplatz mitten im Wald an, den wir die Nacht über ganz für uns alleine hatten. Der Roadtrip war ein sehr schönes Erlebnis und hat mir nach 11 Monaten nochmal die Chance gegeben, die Natur in Estland neu zu entdecken. In einem Land wie Estland, in dem mehr als 50% der Fläche von Wald bedeckt sind (Felder und Wiesen noch nicht einmal einberechnet), lohnt sich ein Auto wirklich, um auch in die abgelegensten Ecke zu gelangen.
Jetzt bleibt mir noch etwas mehr als eine Woche hier, bevor ich am Samstag den 25. Juli zurückfliegen werde. In dieser letzten Zeit besuche ich noch für ein verlängertes Wochenende zusammen mit meiner Mitbewohnerin Saaremaa, die größte estnische Insel, werde noch einen letzten Tag in Tallinn und Tartu verbringen und mich in einem meiner Lieblingsrestaurants von meinen Freunden verabschieden. Der Rückflug ist nun wirklich absehbar, wird dadurch für mich aber nicht greifbarer. Wie können 11 Monate nur so schnell vorbei sein?
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