Elche und Knäckebrot?
Pia ist schon seit einiger Zeit in Schweden. Nun blickt sie zurück auf die ersten Hürden in der Fremde und die vielen Kleinigkeiten, an denen sie merkt, dass sie immer mehr dazugehört.
Fünf Monate, zwei Wochen und vier Tage. So lange – oder eher so kurz? – ist es her, dass ich meine sieben Sachen (okay, es waren ein paar mehr…) packte und mich von Lemwerder aus auf ins Land der blonden Menschen, der roten Häuser, der IKEA-Welt und der wunderbaren Helden meiner Kindheit, Pippi, Michel (auf schwedisch Emil), Lotta und Co, machte: Schweden – mein Austauschland und damit für’s nächste Jahr mein neues zu Hause.
Die Reise geht nach…
Nachdem ich Anfang August, an einem Montagnachmittag, meine Gastfamilie bekam, stand dann auch endlich fest, wohin genau die Reise geht: Stockholm sollte es werden, oder besser gesagt Lidingö, eine Insel mit immerhin etwa 40.000 Einwohnern, östlich von Stockholm. Schon die Reise von Bremen via Frankfurt nach Stockholm war ein Abenteuer für sich, man fliegt ja nicht alle Tage einsam durch die Weltgeschichte. Aber noch viel aufregender sollten die nächsten Tage werden. Am Flughafen wurde ich von dem AFS-Betreuer sowie seit Stunden wartenden Neuseeländern (die eine unglaubliche Faszination für die Flughafen-Rolltreppen entwickelt hatten, ob es in Neuseeland keine Rolltreppen gibt?), Thailändern, Kanadiern und Co begrüßt. Es ging direkt mit dem Bus ins Arrival Camp, wo dann in den nächsten Stunden auch der Rest der Neu-Schweden eintrudelte.
Das Camp war, wie erwartet, spitze: Gute Leute, gute Stimmung, gutes Wetter. Drei Tage Spaß und Entspannung pur, bevor es am Sonntagnachmittag mit mulmigem Gefühl in unsere Gastfamilien – von Kiruna bis Ystad, ganz über Schweden verteilt – ging.
Am Sonntag gegen 15 Uhr war es dann auch für mich soweit: Nachdem wir am Bahnhof alle Austauschschüler, die sich mit Zug auf in Richtung Gastfamilie machen sollten, verabschiedet hatten, wartete ich mit den AFS-Volunteers auf meine Gastfamilie, die gerade auf dem Rückweg von einer Geburtstagsfeier in Göteborg war und mich nun am Bahnhof aufpicken wollte.
Einige Minuten später war es dann soweit: Bevor ich mich versah stand meine Gastmutter vor mir und fiel mir um den Hals. Gott war ich erleichtert! Meine Gastfamilie machte einen netten Eindruck und die erste Aufregung war verflogen. Und schon saß ich im Auto zwischen meinen beiden Gastbrüdern und Håkan, mein Gastvater, lieferte uns spontan eine kleine Stadtrundfahrt durch die Innenstadt – ich hatte schließlich noch keinen Schimmer, wo ich eigentlich war. Dann ging’s ab ins neue zu Hause nach Lidingö – eine wunderschöne Insel mit viel Wald, die durch eine Brücke mit Stockholm verbunden ist. Ich bekam mein eigenes Zimmer und packte erst einmal aus.
zwei Tage später: Der erste Schultag!
Meine Schule liegt mitten in der Innenstadt und ist eine der ältesten (und anscheinend auch angesehensten) Schulen Stockholms. Nach einigen Diskussionsansätzen mit der Direktorin war klar: Ich konnte einen Platz in der 3. Klasse des Samhällsvetenskapsprogrammes (gesellschaftswissenschaftliches Programm) bekommen. Perfekt! In Schweden wählt man im dreijährigen Gymnasium nämlich aus einem von 17 praktischen oder theoretischen Programmen, von Gesellschaftswissenschaften über Theater bis zu Tierpflege.
Schule in Schweden ist ziemlich anders als in Deutschland: Ich fange jeden Tag zu unterschiedlichen Zeiten an, Schulstunden können 50, 55, 60, 75, 90 oder 100 Minuten lang sein und zwischen 10.30 und 13 Uhr gibt es irgendwann eine Lunchpause, dann geht’s in die Schulmensa (gratis, versteht sich!). Man duzt seine Lehrer und hat generell ziemlich viel Mitspracherecht und Wahlfreiheit (besonders als Austauschschüler). Mein momentanes Lieblingsfach: Keramik.
Besonders freue ich mich jetzt schon auf unsere Abschlusszeit im Mai oder Juni, die wir schon fleißig am Organisieren sind: Studentfest, Studentflak (einen Umzug mit großen gemieteten Tracks auf denen wir feiernd durch die Stadt ziehen werden, wie es in Schweden üblich ist), und der ganze letzte Schultag an dem alle mit ihrem Zeugnis aus der Schule stürmen und von ihren Familien in Empfang genommen werden. Ein bisschen Angst ist meinerseits wohl auch dabei, schließlich wird dieser Tag für mich noch etwas ganz anderes bedeuten als für meine schwedischen Freunde.
Stockholm, das Leben und ich
Die ersten Wochen in Stockholm waren super interessant, diese Stadt hat einfach sehr viel zu bieten und ist wunderschön; so viel Wasser, Parks, alte farbige Häuser. Stockholm hat übrigens um die 800 000 Einwohner und wird auch „das Venedig des Nordens” genannt. Zwar ist Stockholm nicht unbedingt das, was man als Deutscher unter typisch schwedisch versteht oder als Austauschschüler von einem Jahr im Naturparadies Schweden erwartet, aber auch das Stadtleben hat (vor allem wenn man aus einem 7000-Einwohnerdorf kommt) seine Reize. Und Möglichkeiten, mehr von Schwedens Natur und Landschaft zu sehen, finden sich genug, so das ich nach ein paar Tagen „draußen” froh bin, wieder in meine Stadt zurückzukommen und mir das Leben ohne Tunnelbana, StockholmCity (Gratis-Zeitung mit Sudoku!) und meinem Heimweg aus der Stadt (etwa 45 Minuten) nicht mehr so recht vorstellen kann.
Oft treffen wir Austauschschüler uns nach der Schule in einem der vielen Cafes in Gamla Stan, der Altstadt. Das ist übrigens etwas typisch Schwedisches: Fika. Fika lässt sich nicht direkt ins Deutsche übersetzen, es bedeutet in etwa, dass man zusammen mit Freunden/Kollegen Kaffee oder ähnliches trinkt (und vielleicht einen köstlichen Kanelbulle isst).
Anfang Oktober war es dann soweit: Für mich stand ein Familienwechsel bevor, da ich in meiner ersten Gastfamilie aus Zeitgründen nicht viel länger bleiben konnte und so packte ich meine Koffer und zog am 6. Oktober zu meiner neuen Gastfamilie nach Vällingby ans andere Ende der Stadt. Ein Glücksgriff für mich! Mit meiner Gastmama, ihrem Freund und meinen Gastgeschwistern hatte ich schnell ein schönes Verhältnis. Wir unternehmen recht viel zusammen und der gemeinsame Urlaub ist auch schon in Planung. Zwar hat sich das Vorurteil, dass alle Schweden in roten Holzhäusern wohnen auch dieses Mal nicht bewahrheitet, aber solange der Rest stimmt ;-)
Anfang Januar nutzte ich dann die freien Tage ein wenig und ließ Stockholm ein Weilchen hinter mir, um eine Freundin, die ihr AFS-Jahr in Norwegen verbringt, zu besuchen und kurz darauf ging es mit einer Freundin nach Kiruna/Lappland im hohen Norden Schwedens. Das war wirklich ein Erlebnis! Auch einen Abstecher ins Eishotel, sowie eine kleine Tour in den Fjäll an der norwegischen Grenze haben unsere lieben Gastgeber uns ermöglicht. Nette Begegnung zwischendurch: Ein paar Rentierherden (und laut meiner Freundin Irene ein Wolf) Einen Elch in freier Wildbahn habe ich aber trotz allen Klischees noch nicht zu sehen bekommen…
Das liebe Schwedisch…
Am Anfang verstand ich rein gar nichts. Und teilweise glaubte ich auch, dass ich diese Sprache nie lernen würde. Erstaunlicherweise besserte sich das jedoch besonders nach den Herbstferien und von da an fortfahrend, so dass ich nach einer Weile nicht mehr ganz so dumm dastand, wenn mich jemand ansprach, sondern in einigermaßen verständlichem Schwedisch antworten konnte. Und irgendwann kommt dann mal der ein oder andere Gedanke auf Schwedisch, das ein oder andere Telefongespräch mit der Familie in Deutschland, in das sich mal ein oder zwei schwedische Wörter einschleichen.
Aber typisch schwedisch?
Eine ziemlich beliebte Frage aller, mit denen man mit der Zeit mal ins Gespräch kommt (Schweden, Deutsche, Nicht-Schweden-Nicht-Deutsche) ist die, nach Unterschieden zwischen Schweden und Deutschland oder auch, was denn in Schweden besonders merkwürdig ist.
Well, zum ersten: Schweden und Deutschland scheinen auf den ersten Blick nicht besonders unterschiedlich: Gleicher Kulturkreis. Und man trägt im Allgemeinen auch in Schweden weder Saris noch unterhält man sich in Zeichensprache oder wohnt in Iglus, aber doch: Unterschiede gibt es. Es ist zum Beispiel speziell schwedisch, immer und überall (vor dem Bus, in der Apotheke, in der Bank oder wo auch immer) mindestens in der Schlange zu stehen, besser noch man zieht eine Nummer und hält sich vorerst im Hintergrund (auch typisch schwedisch!) bis man an der Reihe ist. Oder, dass man im Supermarkt eine unglaubliche Auswahl an Knäckebrot (vorzugsweise große runde Scheiben mit Loch in der Mitte) entdecken kann. Des Weiteren komme ich auf Dinge wie anfangs merkwürdige Wörter wie „precis”, „absolut”, „juste”, „visst”, „jajamän” oder für die fauleren einfach nur „A”, die die Zustimmung eines Schweden innerhalb einer Konversation ausdrücken sollen.
Auch schwedische Türschlösser, Schlangen (ja schon wieder) vor Bankautomaten auf der Straße und merkwürdige Läden namens „Systembolaget” mit Öffnungszeiten bis 18 Uhr, in denen Alkohol im Schaufenster steht sind schwedische Eigenarten. Schweden und seine Bewohner (trotz Sturheit, Null Talent für Smalltalk und teilweise gewisser Distanziertheit) sind an sich einfach nur liebenswürdig und ich kann jedem empfehlen, einfach den Sprung über die Ostsee zu wagen, um ein bisschen mehr von Schweden kennen zu lernen, denn das hier war nur ein kleiner Auszug.
Ein Jahr für’s Leben
Ein Austauschjahr ist eine tolle Sache und obwohl nicht immer alles so rosig ist wie es vielleicht in meinem Text hier klingt (es gibt Tage, da ist einfach alles daneben, man würde seine schwedischen Mitmenschen am liebsten an die Wand klatschen und überhaupt!) und man gerade am Anfang vor einem ganzen Haufen Arbeit steht - schließlich gilt es in einem neuen Land ein komplett neues Leben aufzubauen - möchte ich das ganze hier unter keinen Umständen missen. Ich glaube, dass ich noch nirgendwo in so kurzer Zeit so viel gelernt und erlebt habe wie hier, und das, ohne die Nase in tonnenweise Bücher zu stecken. Oft sind es kleine Dinge, die das Leben schwer erscheinen lassen, wie zum Beispiel der Freitagabend an dem keiner der Freunde erreichbar ist, scheinbar alle etwas besseres vorhaben und man absolut nichts mit sich anzufangen weiß oder die Tatsache, dass man sich auf dem Weg zur Bushaltestelle verläuft, drei Busse verpasst und in der Schule nicht mal die richtigen Worte findet, seine Verspätung zu erklären. Aber es sind eben auch die vielen kleine Dinge, die immer mehr zunehmen und das Leben schön machen, wie die Feststellung, dass man plötzlich doch verstanden hat, was der Sitznachbar gerade auf Schwedisch gefragt hat oder einfach nur ein schönes Gespräch mit der Gastfamilie am Abendbrottisch.
In ein paar Tagen haben wir Midvinterlägret, ein Wiedersehen mit allen etwa 80 AFSern in ganz Schweden, was leider bedeutet, dass bereits die Hälfte der Zeit hier um ist. Auf der anderen Seite liegen vor uns noch circa fünf wundervolle Monate, die wir versuchen in allen Zügen zu genießen.
Hier noch ein paar Impressionen: