Eine Wiederauferstehung des Alltags
Über ein niederländisches Experiment und Festivals mitten im Lockdown.
Wir sitzen am Esstisch unserer WG im Zentrum Amsterdams und quatschen. Die Stimmung ist gut, denn seit langer Zeit funktionieren beide Duschen wieder gleichzeitig. Der Boden ist schmutzig. Er ist schmutzig, auch wenn er sauber ist. An das Regal neben dem Tisch stößt man lieber nicht, denn es droht akute Einsturzgefahr. In einem der weißen Kücheneinbauschränke raschelt es – die Mäusefamilie erinnert uns, dass sie das Dach mit uns teilt. Seit Mitte November spielt sich das Leben von neun Student*innen und mir hauptsächlich hier ab – im vierten Stock über den Grachtenhäusern an den Kanälen Amsterdams. Wenigstens ist die Aussicht hübsch.
Es ist schön, echte Menschen vor sich zu haben, wo sonst nur ein Bildschirm ist. Meine niederländischen Mitbewohner*innen sprechen angeregt über DAS Event. Wer hat Tickets? Tickets für das „Corona-Probefestival“ in Biddinghuizen, einer niederländischen Stadt mit bekanntem Festivalgelände. Alle haben sich beworben, gespannt vor dem Laptop auf die Öffnung der Ticketschleuse gewartet, doch keiner konnte eines der 1500 Tickets ergattern. Dafür aber die Freundin eines Cousins einer Bekannten meiner Mitbewohnerin, wie sich später herausstellte.
Das sogenannte „Back-to-live“-Festival fand am 20. März 2021 statt und war der siebte Versuch verschiedener Testveranstaltungen des niederländischen Veranstaltungssektors. Durch die Einteilung der Masse in Gruppen, für die verschiedene Regeln galten, sollen nun nach einigen Tagen Testergebnisse vorliegen. Diese können über mögliche größere Veranstaltungen in den nächsten Monaten entscheiden. Bei zwei Fußballspielen, einem Konzert und einer Konferenz wurden bereits verschiedene Maßregeln getestet – mit oder ohne Maske, mit oder ohne engem Kontakt. Die Effektivität der jeweiligen Testmaßnahmen war nach fünf Tagen zu sehen, als die Probanden erneut auf eine Coronainfektion getestet wurden.
Der Fokus beim Back-to-live Festival liegt, nicht wie bei anderen Versuchen, auf den Infektionszahlen, sondern auf dem Zusammenhang zwischen Laufrouten, der Anzahl an Kontakten und einer Ansteckung mit Covid-19. Die Regeln für das Festival sind recht simpel: Am Eingang wird ein Ticket und ein negativer Coronatest vorgelegt, die Temperatur gemessen und ein Sensor um den Hals gehängt – dann kann es los gehen. Eigentlich müssten alle Probanden zusätzlich Masken tragen. Diese fallen beim Tanzen allerdings schnell. Niemand greift ein, denn die Ansteckungszahlen waren bei den vorherigen Veranstaltungen so niedrig, dass diese spontane Abweichung der Regeln in Kauf genommen wird.
Der Enthusiasmus der jungen Menschen auf dem Festival ist auch bei sechs Grad Celsius groß. Endlich wieder nahezu unbeschwert tanzen und feiern, ein Ausbruch aus der neuen Realität. Viele Teilnehmer sehen das Probefestival als „Win-Win-Situation“ – feiern und damit sowohl der Forschung als auch der Gesellschaft helfen. Erste Ergebnisse zeigen, dass die Ansteckungszahlen nach den Veranstaltungen sehr gering sind - etwa fünf Ansteckungen unter 6000 Menschen. Die Bereitschaft der Testpersonen, die strikten Regeln zu befolgen und den ganzen Test-Prozess mitzumachen, ist hingegen sehr groß. Für eine finale Auswertungen ist es noch zu früh, die bereits vorliegenden Daten scheinen allerdings vielversprechend.
Gerade junge Menschen fühlen sich nach den vielen Lockdowns ihrer Möglichkeiten beraubt, neue Erfahrungen zu sammeln und sich auszuprobieren. Durch die Freiheiten, die bereits geimpfte Menschen bekommen, halten sich manche für strukturell benachteiligt – es ist richtig, dass ältere Menschen zuerst geimpft werden, doch nicht jeder ist mit den gesellschaftlichen Vorteilen, die eine Impfung mit sich bringt, gleichermaßen einverstanden.
Nach ersten positiven Ergebnissen der Testreihe können sich Organisatoren nun an den Kosten für die Vorbereitung zum Einhalten der Regeln bei ihren Veranstaltung beteiligen. Muss diese mehrheitlich dann doch abgesagt werden, sollen sie 80% ihrer Investition zurückerhalten. Ein guter Deal?
Das positive Feedback nährt den Optimismus der Branche und vielleicht auch bald der Bevölkerung. Gleichzeitig steigt die Anzahl der Coronafälle in den Niederlanden. Möglicherweise sollen die Maßregeln zwei weitere Monate verlängert werden. Die Menschen sind müde. Vom Homeoffice, von der „avondklok“ und von der Eintönigkeit des Seins. Politiker*innen sorgen sich jedoch: Je mehr Freiheit sie der Bevölkerung gäben, desto mehr Freiheit habe das Virus zu zirkulieren.
Es bleibt eine belastende und kontroverse Situation, in der jeder Schimmer Hoffnung schnell überschattet wird.
Quellen:
- https://www.dw.com/de/corona-tanzen-f%C3%BCr-die-forschung-in-den-niederlanden/a-56945281
- https://www.parool.nl/nederland/bij-eerste-festival-danst-onbezorgdheid-samen-met-economisch-herstel~b70fe3ab/?referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F
- https://www.parool.nl/nederland/nederland-volgt-merkel-in-verlengen-lockdown-geen-terrassen-avondklok-blijft~be32ffe7/