Ein wehmütiger Blick zurück
Nun sind die Koffer schon längst ausgepackt und alle Mitbringsel verteilt, aber ein abschließender Bericht fehlt noch. Nur macht er alles so endgültig.
Ich denke, jeder der hier seinen rückblickenden Bericht schreibt, merkt, wie unmöglich es ist, die angesammelten Gedanken, Gefühle und Eindrücke eines ganzen langen Jahres zusammenzufassen. Auf keine dieser Erfahrungen möchte ich verzichten, doch etwas neidisch lese ich schon die aufgeregten Einträge all derer, die das beste Jahr ihres Lebens noch vor sich haben.
Einen kleinen Eindruck, wie es die Olsztyner EVS-Generation 13/14 erlebt hat, seht ihr hier: https://www.youtube.com/watch?v=zX43c64j4RE&feature=share
Statt hier also großes Heimweh zu verbreiten und so emotional an alles zurückzudenken, veröffentliche ich hier einfach noch einen Artikel, den ich für das Jahrbuch meiner ehemaligen Schule geschrieben habe, um neue EVSler zu gewinnen. Ich hoffe, dass er alle Leser, die hier etwas zur Entscheidungsfindung herumstöbern, anspornt!:
Freiwillige für die europäische Idee? – Dlaczego nie!*
„Du machst einen Europäischen Freiwilligendienst? In Polen? Aha, interessant…“ Überschwängliche Reaktionen bekam ich jedenfalls kaum, als ich vor einem Jahr meine Auslandspläne nach dem Abi verkündete. Vielmehr waren da die unausgesprochenen Fragen: Was tust du da eigentlich als Freiwillige? Und – warum ausgerechnet Polen? So ganz genau wusste ich das damals auch nicht, als ich mit meinem vollgestopften Gepäck in den Zug gen Osten stieg. Doch inzwischen kann ich sagen, dass sich jeder Moment gelohnt hat, auch wenn – oder gerade weil - vieles davon anders als erwartet war.
Die Möglichkeit, seine Auslandszeit mit einem Ehrenamt zu verbinden, kennt fast jeder, denn irgendein älterer Bruder oder die Freundin einer Freundin war bestimmt mit „weltwärts“ oder „kulturweit“ in Afrika oder Asien. Doch nicht nur die Bundesregierung, auch die Europäische Union fördert junge Menschen, die sich in irgendeiner Form für die Gemeinschaft einsetzen wollen. Das Ganze wird finanziell sogar besser unterstützt und weniger abenteuerlicher muss ein Freiwilligendienst in Europa (kurz EFD, gebräuchlicher ist die englische Abkürzung EVS) auch nicht sein. Denn neben den EU-Mitgliedsstaaten kann der Dienst in allen mehr oder weniger europäischen Ländern von Island über Russland bis Armenien geleistet werden. Übrigens ist er umgekehrt auch offen für Angehörige dieser Staaten und durch viele Begegnungen bin ich so neugierig auf diese Länder geworden, dass ich nur empfehlen kann, erst recht Bewerbungen in vollkommen unbekannte Länder zu schicken.
Ganz so unbekannt war Polen für mich nicht – es war sogar der Polenaustausch meiner Schule und der immer noch währende Mailkontakt mit meiner damaligen Austauschpartnerin, die mein Interesse an unserem so oft ignorierten Nachbarland weckten. Von meinem Projektort Olsztyn hatte ich allerdings noch nie gehört, in unserer Großelterngenerationen ist er noch vielen unter dem ostpreußischen Namen „Allenstein“ ein Begriff. Inzwischen ist es nicht nur meine deutsch-italienische Freiwilligen-WG, sondern die Stadt selbst, die mir ein Gefühl einer zweiten Heimat gibt. Mehr und mehr, je weiter sich mein mühsam erarbeitetes Polnisch entwickelt. Denn es ist noch nicht einmal Voraussetzung, die Landessprache zu sprechen – Sprachkurs gibt es schließlich inklusive. Abhängig von der eigenen Motivation lässt sich dann irgendwann auch ein Gespräch in einer schwierigen Sprache mit der lokalen Bevölkerung führen. Gerade als Deutsche löst man schon mit wenigen gestammelten Worten Entzücken aus. Die Polen sind sich sehr bewusst, wie schwer ihre Sprache ist und würdigen deshalb jeden Versuch eines „Dzień dobry“ oder „Dziękuję“. Damit ist auch schon das größte Hindernis überwunden, wenn man seine Vorurteile über unsere Nachbarn als Wodka trinkende (bestätigt) und Auto stehlende (bei der aufstrebenden Mittelschicht selbstironisch diskutiert) Nation zu Hause lässt.
Offenheit und Neugier sind die grundsätzlichen Eigenschaften (fast) aller Freiwilliger aus ganz Europa, die sich den Weg zu ihrem Projekt durch das Bewerbungsverfahren gekämpft haben. Denn obwohl ich nun stundenlang allen Freunden und Bekannten mit meinen großen und kleinen Momenten voller Freude und Staunen auf die Nerven gehen könnte, habe ich nicht vergessen, wie schwierig es war, dort zu landen, von wo ich letztendlich gar nicht mehr weggehen wollte[Susanne S1] . Dabei ist es zuallererst sehr einfach, die Voraussetzungen zu erfüllen: Kenntnisse der Landessprache nicht notwendig, die Projekte sind ohne spezielle Ausbildung zu verwirklichen, nur zwischen 18 und 30 Jahre muss man alt sein. All das ist als Dienst gedacht, der schlecht ausgebildete Jugendliche aus benachteiligtem Umfeld erreichen soll. In der Realität gestaltet sich das natürlich anders: Alle Freiwilligen haben studiert oder (in der Mehrzahl die Deutschen) planen es zumindest. Nach Jahren großen Interesses aus der Türkei oder Ex-Sowjetstaaten kommt ein Großteil der EVSler inzwischen aus den krisengeplagten Ländern des Südens. So wird auch die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien und Italien Thema, das den europäischen Alltag bestimmt. In der Tat macht sich ein Jahr Freiwilligendienst nicht nur gut im Lebenslauf, sondern ist dank großzügiger finanzieller und ideeller Unterstützung weitaus verlockender als die meisten Arbeitslosengelder. Andererseits sind diese ganzen Betreuungshilfen anfangs verwirrend und erleichtern den Weg durch den Bürokratiedschungel nicht wirklich. Jeder Freiwillige hat zwei Organisationen, an die er oder sie sich bei Problemen wenden kann: eine im Heimatland (im EVS-Vokabular als sending organisation bekannt) und eine weitere im Gastland (host organisation). Genaueres verrät euch die Website www.go4europe.de, aber das Engagement der Organisationen unterscheidet sich in der Realität teilweise gravierend. Die Entsendeorganisation in Deutschland ist offiziell dafür zuständig, dem Freiwilligen ein Projekt zu vermitteln, mit den Partnern aus dem Gastland ein „Activity Agreement“ (eine Art Arbeitsvertrag) auszuhandeln und die Versicherung abzuschließen. Wie viel wirkliche Vorbereitung dahinter steckt, stellt sich erst später heraus – ich habe schon in dieser Phase Selbstständigkeit gewonnen. Große Organisationen, die ebenfalls andere Freiwilligendienste im In- und Ausland anbieten, haben häufig seit Jahren feste Partnerprojekte in ausgewählten Ländern. Dann durchläuft man ein internes Auswahlverfahren und erhält nach Beratungsgesprächen einen dieser Plätze. Je mehr Freiwillige eine Organisation entsendet, desto eher wird es Vorbereitungsseminare geben. Für diesen Aufwand wird häufig um eine „freiwillige“ Spende gebeten, obwohl vonseiten der EU eigentlich jegliche Kosten von Unterkunft und Verpflegung über Anreise bis zur Versicherung übernommen wird. Andererseits erwarten kleine Organisationen von zukünftigen Freiwilligen, dass sie sich ihr Projekt selbst in der Datenbank suchen, sind weniger vernetzt und kürzen die notwendige Vorabinformation auf das Unterschreiben des Versicherungsvertrages, den ohnehin die EU vorgibt, da alle EVSler in einer privaten Gruppenversicherung aufgenommen werden.
Doch große und kleine Fehler haben wohl NGOs in allen Ländern, also auch die host organisations im Gastland. Unsere Aufnahmeorganisation, die alle unterschiedlichen Arbeitsplätze in Olsztyn vermittelte, war insbesondere bei organisatorischen Problemen latent überfordert. Da fehlte schon mal das Geld für Bustickets auf dem Konto oder aufwendige Kinderworkshops mussten sehr kurzfristig mit Programm gefüllt werden. Doch alles, was an Erfahrung, Finanzen und Organisationstalente fehlte, wurde durch großes Engagement und 24-Stunden-Erreichbarkeit bei Ärger mit der Vermieterin ausgeglichen. Unser Koordinator stellte Seminare mit abwechslungsreichen Programm zusammen, die mit der vertrauten Freiwilligengruppe zu einer Art Familienurlaub wurden. Dafür mussten wir uns Internet für die Wohnung selbst besorgen, immer mal wieder an Überweisungen fürs Essensgeld erinnern und sehr spontan in unserer Reiseplanung wegen überstürzter Wochenendaktionen sein.
Lieber möchte ich den verbleibenden Platz nutzen, um über etwas berichten, was vorab als „zwei Seminare zum Austausch mit anderen Freiwilligen im gleichen Gastland“ abgetan wurde und sich für mich als eine der schönsten Zeiten nicht nur während meines EVS, sondern meines Lebens herausgestellt hat. Mein „On-Arrival-Training“ hatte ich mit ein bisschen Verspätung nach zwei Monaten in Warschau. Leider ist der November keine perfekte Reisezeit für diese graue Metropole. Allerdings ist der 11. November Nationalfeiertag – was bietet sich also besser an, als ihn in der Hauptstadt zu verbringen? So stürzte ich mich mit einer Mitfreiwilligen ins Gedränge am Grabmal des Unbekannten Soldaten, probierte mich am kleinen Jahrmarkt durch polnische Spezialitäten und abends bekamen wir sogar unfreiwillig live einen Einblick in den eskalierenden Protestmarsch der „Unzufriedenen“, die ihre Unzufriedenheit mit der Regierung vornehmlich über Chinaböller und Steinwürfe demonstrierten. Es war also sehr gut, auf einem „On-Arrival“ erste Eindrücke über unser Gastland auszutauschen und dabei gleichzeitig mehr über die kulturellen Hintergründe anderer Freiwilliger zu lernen. Einer Türkin war der hohe polnische Teekonsum sympathisch, die deutschen Vegetarier kämpften etwas mit Anerkennung und die EVSler aus anderen slawischen Sprachregionen wurden für ihre raschen Fortschritte beim Polnischlernen beneidet. Ich knüpfte erste Kontakte für spätere Übernachtungsplätze, aber wir waren noch alle vor allem damit beschäftigt, unser eigenes Staunen zu verarbeiten.
Mein zweites Seminar holte mich pünktlich zum Frühlingsanfang aus einem Wintertief, denn die Kälte und Dunkelheit (es macht tatsächlich etwas aus, in einer Zeitzone weiter nach Osten zu wandern!) hatten uns in Olsztyn bei kaltem Wind und gefrorenen Seen in eine Art Winterschlaf mit hohem Filmkonsum versetzt. Das „Midterm Meeting“ sollte neben dem Austausch innerhalb unserer EVS-Gemeinschaft Anregung für das Leben in der Realität danach bieten. Das Treffen fand in der pittoresken Backsteinstadt Toruń statt, die als Geburtsstadt von Kopernikus und für Lebkuchen (polnisch: pierniki) berühmt ist. Wir begrüßten den Frühling mit einer alten polnischen Tradition: Selbstgebastelte Strohpuppen (polnisch: Marzanna) wurden im Fluss verbrannt, um den Winter zu verjagen. Nach Tagen ernsthafter Diskussionen über die europäische Zukunft und nächtelangen Flurgesprächen hat auch eine Gruppe junger Erwachsener Spaß daran, singend und musizierend Puppen zu basteln und zu zerstören. Es waren diese Momente, in ihrer Bandbreite von großer Ernsthaftigkeit bei Streitgesprächen über eine moderne Kunstausstellung bis zu unendlicher Ausgelassenheit bei nächtlichen Ausflügen, die mir den Sinn eines Europäischen Freiwilligendienstes wahrhaftig vor Augen führten. Wir sind eine Generation Europa, eine Generation junger Menschen, die Ideale und Träume teilt. Während in Brüssel und den Hauptstädten der Mitgliedsstaaten über Souveränität und Vertrauensverlust debattiert wird, investiert die Europäische Union ihr Geld endlich sinnvoll in Bildung und Austausch. Denn wer Tränen und Lachen mit Spaniern, Russen und Rumänen geteilt hat, wird dafür kämpfen, dass ein Europa mit offenen Grenzen seine Probleme gemeinsam zu lösen versucht, statt die Lösung im Wiederschließen eben dieser Grenzen zu suchen. Kurz erhaschte Einblicke in einen übergroßen Verwaltungsapparat offenbaren Intransparenz und wachsende Distanz zu den Bürgern. Doch wie sollen diese Hindernisse überwunden werden, wenn nicht mit dem Idealismus und der Hoffnung, die unserer Generation als einzige Grundlage bleibt?
Abgesehen von großen philosophischen Erkenntnissen überwog doch der Alltag mit Arbeit und WG-Freizeit. Mein Projekt hatte ich schließlich nach der Beschreibung meines Arbeitsplatzes ausgesucht, die nicht allen Bedingungen vor Ort entsprach. Trotz aller Schwierigkeiten würde ich es aber insgesamt wieder wählen, doch manche Probleme lassen sich leicht umgehen. Freiwillige leiden viel eher an Unter- als an Überforderung, deshalb wird in den schönsten Projekten viel mit Menschen kooperiert. Wenn die Vorgesetzten mal keine Aufgabe verteilen, kann man sich in einem Kindergarten oder einer Behindertenschule leicht selbst Beschäftigung suchen. Ich hatte im Nationalarchiv hautsächlich mit Papier und Büchern zu tun – allerdings bieten alte historische Dokumente doch einiges Außergewöhnliches. Bei der Digitalisierung alter Katasterkarten konnte ich feststellen, wie in den 30er Jahren nach und nach in allen Dörfern eine „Adolf-Hitler-Straße“ auftauchte, bei der Überarbeitung des Inventars blätterte ich entsetzt in Propagandazeitungen aus dem Ersten Weltkrieg und ich begann nebenbei viel über die Dinge zu lesen, die ich mir nicht erklären konnte. Leider kann ich noch immer nicht viele der alten Handschriften entziffern, obwohl beispielsweise Kants universitärer Briefwechsel eigentlich auf Deutsch verfasst ist; denn die Region zwischen dem heutigen Kaliningrad und Olsztyn wechselte häufig ihre nationale Zugehörigkeit und trug lange den Namen Ostpreußen. Historisch ist dieses Gebiet also insbesondere zwischen den Deutschen und Polen ein sensibles Thema, aber an meinem Arbeitsplatz stellte das nie ein Problem dar. Schon nach wenigen Wochen war ich eine gleichberechtigte Mitarbeiterin und die Kollegen übten geduldig in der Teepause mit mir Vokabeln. Ich durfte in der Restauration sogar verantwortungsvolle Aufgaben übernehmen und habe ganze Bücher mit Waschen, Kleben und Bügeln (!) vorm Verfall gerettet. Und manchmal war es doch praktisch, einfach nur Freiwillige zu sein, denn bei Sonnenschein wurde ich auch schon vor Ende der offiziellen Arbeitszeit entlassen, um die herrlichen masurischen Seen zu genießen.
Fast jeden Moment meiner Freizeit habe ich mit meinen wundervollen Mitbewohnern verbracht. Unsere deutsch-italienische WG setzt sich aus ganz unterschiedlichen Menschen zusammen, doch wir fanden viele gemeinsame Interessen und es war auch einfach die lange gemeinsame Zeit, die ein fast familiäres Vertrauen entstehen ließ. Nie hätte ich gedacht, dass es mir leicht fällt, mein Zimmer zu teilen; ja sogar zurück in meinem eigenen Zimmer auf einmal einsam zu sein. Da es auch andere EVS-Organisationen in Olsztyn gibt, erweiterte sich unser Freundeskreis um Russen, Spanier und Weißrussen. Unser Haus in Zentrumsnähe teilten wir mit polnischen Studenten, die uns sofort zu ihren Geburtstagsfeiern einluden und die man jederzeit zum Quatschen auf dem Balkon treffen konnte. Wir haben schöne Reisen zusammen gemacht und alle Geburtstage gebührend gefeiert, aber rückblickend waren es die kleinen alltäglichen Dinge, die unseren Zusammenhalt ausmachten. Eigentlich ganz normales WG-Leben: Filmabende im Schlafanzug, gemeinsamer Frühjahrsputz in der Küche, ein Theaterbesuch oder lange Gespräche in unserer Lieblingsbar nebenan. Doch die gemeinsame Zeit im Ausland, in diesem verrückt liebenswerten Polen, hat alles noch eine Spur mehr verzaubert und verdreht. Ist es nun Heimweh oder Fernweh, das mich auch fürs Studium in Krakau hält?
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