Ein Jahr verfernt
Eindrücke aus einem Jahr in Lyon, Frankreich und aus einer seltsam fremden Welt, die ja gar nicht so weit weg ist, würde man meinen...
Das anthrazitfarbene Familienauto braust über die sonnigen Hügel der Provencelandschaft. Lebendiges Klischee einer deutschen Mittelstandsfamilie auf Urlaubsreise durch den Midi. Auf dem Weg zu Bekannten, Besitzer eines kleinen Häuschens in irgendeinem abgelegenen, malerischen Dorf. Frank und Anne. Namen, wie Akkorde auf dem Klavier meiner Erinnerung, mir zu tiefst bekannt, liebevoll und warm. Franks dunkler Dreitagebart, der mich als kleiner Junge im Nacken kratzte, Steffis hervorsprudelndes Lachen. Und dann doch nur: Deutsches Ärztepaar mit Feriendomizil in Südfrankreich. Das mir so Vertraute, Liebenswürdige, zugleich triviales und anonymes Klischee.
Mein Bruder sitzt neben mir. Seine Hände liegen wie schwere Gewichte in seinem Schoß. Gelegentlich kaut er auf seiner Lippe. Stumm, mit eingefallenen Augen, leer und rastlos suchen sie im Raum umher. Dans son oeil, ciel livide où germe l'ouragan. (Ich versuche auf Französisch zu denken. Doch es gelingt mir nicht. 9 Monate bin ich nun schon hier. Neun Monate versuche ich, diese Sprache mein Eigen zu nennen, versuche ich in sie einzudringen, ich drehe und wende sie, schlage und dresche auf sie ein, brülle sie an, sie wird klein, ich stecke sie in meine Hosentasche, gehe mit ihr nach Hause, verliere sie wieder im Schlaf, suche sie auf den Straßen, suche sie in den Bars, sie wird groß, verliert sich, verliert mich, ich schreibe ihr Liebesbriefe, übernachte vor ihrer Haustür. Ich will sie werden. Doch immer noch stehe ich vor ihr, wie eine Statue vor einer bewegten Menschenmenge. Der Gedanke, französisch Denken zu wollen, all meine Versuche und Liebesbekundungen - sind auf deutsch. Ich kann mich nicht wie Münchhausen aus dem Sumpf ziehen. Ich muss von dieser Sprache angesteckt werden, die mich in meinen Ohren kitzelt, die jedem ausgesprochenen Gedanken etwas Stolzes und Gewandtes zu verleihen scheint, während meine metallenen Worte auf halbem Weg im Hals stecken bleiben, mir die Zunge verknoten und plump zu Boden fallen.) Meines Bruders erstarrt-flüchtender Blick.
Aus dem Fenster, Landschaft: Grün, so viel grün, das in einem gleichmäßigen Strom über den Hügeln schwimmt, dazwischen Brauntöne, Konsistenz, Felsen aus Sandstein, heroisch im Strom stehend, hie und da kleine Strassen, farblose Schlieren im Grün.
Erneut meines Bruders erstarrt-flüchtender Blick. Blick eines inneren Kampfs, verlorenen Kampfs, Leidensblick. Ich sitze neben ihm. Wie nahe sind wir dem Tod. - Todesblick - Nicht er, wir alle, alles. Seine Auflösung ist nicht eine innere. Alles ist von ihr betroffen. Es ist nicht die seine. Die ganze Welt zersetzt sich.
Meine Augen im Wind. Beginnen zu tränen. Ich springe heraus. Ich schwimme im Grün. Ein weites Feld, sumpfige Wiese, meine Füße sind ganz naß, bleiben stecken im Morast, ich renne, ich fliehe, ich falle, ein verlassenes Haus, wer hat hier gewohnt? Ich springe die morsche Treppe empor, durchforste die Zimmer, eine leere Weinflasche, eine angelaufene Gesichtsscrème, ein zerfallener Damenschuh, wer waren diese Menschen? Ich stoße die verrosteten Fensterläden auf, blicke über die Landschaft. Hier zu wohnen? Ich. Eines Tages, wirklich hier zu wohnen, eine große Familie, meine Hände zerschlissen von harter Arbeit, ich Vater, ich wäre alt, ich trüge Verantwortung, ich trüge Falten. Ich spucke aus dem Fenster und klettere die Mauer herunter. Es ist helle Nacht. Ich stehe unter dem wolkenverhangenen Mond, ein ganzer Mond, ein ganzer Mensch, angestrahlt von der großen Sonne, ich stelle mir diese Sonne vor, die man nicht sieht, die so maßlos ist. Noch größer als dieser maßlose Mond, ich entdecke mich, hier, irgendwo auf der Erde, so winzig, ich verliere mich in der Weite. Es regnet schon lange, ich merkte es nicht, ich bin naß. Ich will ein Papierfetzen sein, der allen Regen in sich aufsaugt, ich will die Hand sein, die diesen Fetzen aufhebt und auswringt. Ich stehe neben dem Haus, neben einem verdorrten, ergrauten Weinfeld, die toten Weinreben, die wie 1000 erstarrte Hände gen Himmel ragen. Das Haus neben mir, das Haus meiner Familie, die hinter mir liegt. Das alles, das hinter mir liegt. Ich will fort. Ich will so sehr fort. Ich habe genug gesehen.
Selber Tag, abend. Sie sitzen an der Rhône. Stilles Flußschweigen. Laternen entlang des Ufers, ratlos vor sich hinleuchtend. Silberweiden, blütenregnend. Blüten vor ihnen auf dem Weg. Blütentreiben im Wasser. Blüten legen sich auf ihre Köpfe. Auf der anderen Seite, eine befahrene Straße, gelbe, vorbeiziehende Lichter, deren Brummen über das ruhige Wasser zu ihnen dringt. Dahinter ein felsiger Berg auf dessen Wipfel – Mauern, Treppen, eine Papstruine. Leichter Wind. Streichelt ihnen achtlos um's Gesicht. Sie sitzen da, blickewandernd über dunkle Landschaftssilhouetten, vorsichherwandernd. Jeder von ihnen für sich, wandernd, inert, auf einer Bank. Das eine Gesicht, dessen Verzweiflung so stark geworden ist, dass nicht einmal mehr sein Gesicht die Kraft hat, ihr Ausdruck zu verleihen – ein versteinertes Gesicht. Das andere Gesicht, das auf einmal beginnt zu weinen, bitterlich zu schluchzen. Das versteinerte Gesicht, das zurück schreckt, peinlich berührt, ertappt, in die Verantwortung gerufen, verlegen, verlegt. Dann wieder Schweigen.
Ein paar Gitarrenakkorde verhallen in der Luft. Sie spielen einen Blues und zwinkern sich zu. „Weisst du, dieser Augenblick, jetzt...Die Frage, ob ich morgen oder gestern einmal so fühlte wie du - und nicht in der Gegenwart ... spielt keine Rolle.“ Sie zucken mit den Schultern, trinken einen Schluck aus ihrer Bierflasche. „Vielleicht.“ Er nimmt ihm die Gitarre aus der Hand, nimmt sie sich aus der Hand, spielt ihm ein Lied vor, spielt es sich vor.
Auf einmal lachen sie, lacht er, lacht laut, wie man manchmal über Witze lacht, die man sich als kleine Kinder erzählt hat. Wir sind doch frei! Er springt in sich hinein. Das alles ist nur ein Witz! Ein Kinderwitz! Er trinkt sein Bier aus und er geht nach Hause.
Viel später. Er sitzt im Zug. Warten auf das schrille Pfeifen des Schaffners. Schrilles Pfeifen, das die innere Spannung endlich erlöst, entbändigt und ausbrechen lässt. Sie steht vor ihm, vor dem Fenster. Ihre Lippen bewegen sich, doch er weiß nicht, was das heißt, natürlich weiß er es. Dann der Pfiff. Die weinende Nähe der beiden Gesichter - nur eine Handbreite und eine Fensterscheibe - wird durch das mechanische Sich-in-Bewegung-setzen des Zugs – langsames Knarzen, dann stummes Rollen, Rollen, wie man es schon 1000 mal erlebt hat, bei jedem Zughalt, man sitzt da, schaut heraus, denkt, „wann geht es denn endlich weiter.“, atmet auf, wenn man bemerkt, wie sich der Zug langsam fortbewegt, aber jetzt hier, in seiner banalen Regelmäßigkeit: sehr brutal – auseinandergerissen. Blicke, die bis ans untere rechte Ende des Fensters aneinanderhängen, dann immer noch fixiert, sein Blick auf diesen Fleck der Fensterscheibe, wo er gerade noch den anderen traf, wo jetzt aber nichts mehr ist außer dem sich bewegenden Grau des Bahnsteigbetons. Sein Blick, der verschwimmt, sein zitternder Bauch, der endlich zerspringen darf, er weint, er weint mit verzerrtem Gesicht, sieht noch einmal ins Fenster, erblickt nur noch sein Spiegelbild, nur noch er, dort wo sie gerade noch war, nur noch er. Er weint einen Fluß, das ganze Abteil wird überschwemmt, wird zu einem Morast der Exkremente seines Gesichts, seiner Trauer und seiner Hilflosigkeit. Der Schaffner kommt vorbei und fragt empört, was diese Sauerei hier solle. Mit roten Augen zeigt er ihm seine Verlorene-Seele-Card 100 und der Schaffner lächelt ihm besänftigt und verständnisvoll zu. Er verkriecht sich verwundet in seine Musik und liest. Auf der Fahrt verschlingt er „Der Liebhaber“ von Duras. Dann steigt er aus dem Zug und fällt einem Freund in die Arme.
Davor. Er läuft noch ein letztes Mal über die Brücken, die beiden Flüsse, die Halbinsel, die paar Fußballfelder, auf denen sich die letzten 12 Monate sein Leben abgespielt hat. Es wird langsam kälter. Die ersten braunen Blätter fallen schon von den Bäumen, so wie die Nächte immer früher auf die untergehende Sonne. Dass das klamme Gefühl in den Gliedmaßen die Menschen von den Quais in die Häuser treibt, das Leben zurückflüchtet in die gastrische Intimität des hinter zugezogenen Gardinen von Kerzenschein erhellten Wohnzimmerintérieurs; dass der Herbst, der Winter, die Epilepsie erneut beginnt – scheint ihm unerträglich. Alles wiederholt sich. Alles ist anders. Der Wind bläst ihm ins Gesicht. Der Wind klappert an den Fensterläden. Der Wind wirbelt die Blätter in die Luft, pustet und schreit, macht seine Stimme unverständlich. Er spricht etwas in seinen Jackenkragen, vergräbt dabei die laufende Nase darin. Der Wind – dieses ganze Jahr über. Lyon, die Stadt des Windes. „Ich nehme an. Ich breite die Arme aus. Im Arme-Ausbreiten umarme ich dieses Jahr. Ich lasse mich fort tragen, vom Wind, der mich hierher brachte, vom Wind, der mich wieder gehen lässt. Ich weiß nicht, was passieren wird. Ich habe Angst davor. Aber ich nehme an, Wind. Alles, was du mir gegeben und genommen hast, ich nehme an. Danke, Wind.“