Ein Haufen Nichts
Touristische Erkundungen in Westaserbaidschan und die Erkenntnis, dass auch "ein Nichts" schön sein kann.
„Was können wir denn Schönes machen?“ Die Frage unseres Wochenendgasts aus Tiflis stellt mich vor ein Rätsel. Die Hauptattraktionspunkte in und um Gəncə kennt er bereits. Damit können mein Mitfreiwilliger und ich ihn also nicht locken. Und weitere sehenswerte Städte oder Orte kenne ich selber noch nicht. Denn, um ehrlich zu sein, bin ich noch nicht viel rum gekommen in Aserbaidschan. Nachdem wir die ersten drei Monate viel gearbeitet und ansonsten die nähere Umgebung erkundet haben, verbrachten wir Januar und die meiste Zeit des Februars in der Nähe unseres Gasofens. Bis wir endlich unsere Aufenthaltsgenehmigung hatten und zum Mid-Term Meeting (Teil unseres Europäischen Freiwilligendienst) nach Georgien gefahren sind. De facto habe ich das Gefühl, bereits mehr von Georgien als Aserbaidschan gesehen zu haben, was natürlich so nicht stimmt.
Also sitzen wir ratlos am eher späten Frühstückstisch und konsultieren sowohl unseren Lonely Planet als auch den Reiseführer unseres Gastes. Was gibt es denn Sehenswertes in Westaserbaidschan? Es ist die Rede von einem Kurort, in dem es die Möglichkeit gibt, in Erdöl zu baden. Das klingt nun eigentlich nicht so gesund, aber was soll's. Wir beschließen, unseren Samstagnachmittag dort zu verbringen. Also rufen wir Freunde an, um herauszufinden, an welchem der drei Busbahnhöfe in Gəncə ein Bus in diesen berühmten Kurort abfährt, machen uns anschließend gemächlich fertig und begeben uns Richtung Busbahnhof. Dort angekommen betrachten wir die schön an die Wand genagelte Zeittafel. Nach ein paar ratlosen Minuten davor, beschließe ich, das Busbahnhofspersonal zu fragen. Die Tafel scheint mir nicht mehr zeitgemäß, da dort Busse angeführt sind, die angeblich in die Region fahren, die von Armenien besetzt ist. Die Grenze zu diesem Gebiet ist seit 22 Jahren geschlossen. Und wer sich in diesem Gebiet aufgehalten hat, dem wird die Einreise nach Aserbaidschan verwehrt. Wie, also, soll es dorthin einen Bus geben? Das Personal informiert mich auch sofort, dass die Zeittafel nicht mehr aktuell ist. Meine Vermutung wurde also bestätigt. Und wann fährt nun ein Bus in diesen Kurort? Sogleich teilt das Personal uns mit, dass wir so eben den Bus verpasst haben und der nächste erst wieder in ein paar Stunden fährt. Zu spät für uns, denn dann würden wir dort nicht wieder wegkommen. Also gehen wir wieder raus auf den Busabfahrtsplatz und nehmen den nächsten Bus, der in einen Ort etwa eine Stunde entfernt, fährt: Goranboy. Für alle, die jetzt gerne Google Maps zur Hilfe ziehen wollen, spart es euch. Goranboy ist ein kleiner Ort irgendwo in der Mitte von Nirgendwo. Aber wir wollten ja was von Aserbaidschan sehen, also hüpfen wir in den Bus und los geht die Fahrt. Wir hatten kurz vorher noch schnell in Erfahrung gebracht, dass die Fahrt selbst nur 70 Cent kostet. (Da mensch in Aserbaidschan meist am Ende der Busfahrt bezahlt, wollten wir eine böse Überraschung am Ende vermeiden.) 70 Cent zu investieren, um etwas zu sehen, was auch immer es sein wird, scheint ein finanziell verkraftbares Risiko. Also sitzen wir im Bus und lassen uns über Straßen mit Schlaglöchern kutschieren. Auf dem Weg dorthin erstreckt sich eine weite Ferne von... nichts. Alles scheint ein einziges Steppengebiet. Nur ab und an unterbrochen von Häusern. Und selbst ein Flüchtlingsdorf zieht an unserem Busfenster vorbei. Und dann erreichen wir Goranboy. Schnell frage ich den Busfahrer noch, wann der letzte Bus zurück nach Gəncə fährt, um dann Goranboy zu erkunden. Die Aussage, dass der letzte Bus bereits in 45 Minuten fährt, nimmt uns ein wenig Freude an unserem Samstagausflug. Also müssen wir uns etwas schneller umschauen. Wir laufen die Hauptstraße entlang und stolpern natürlich fast über eine Hochzeitsgesellschaft. Ist ja auch klar. Hochzeiten können und müssen immer und überall gefeiert werden. Wir gehen schnell weiter, vorbei an der großen Ansammlung von in schwarzen Jacken gekleideten Männern (auch das scheint ein universeller aserbaidschanischer Modetrend für Männer zu sein) und schauen uns weiter um. Verkäufer und Verkäuferinnen in kleinen Läden kommen raus, um die offensichtlich Fremden zu begutachten. Drei deutsche Tourist*innen scheint mensch nicht oft in Goranboy zu haben. Und schnell erkennen wir auch warum. Es gibt so gut wie nichts zu betrachten. Außer aserbaidschanisches Leben und Land und Leute. Und dann gibt es natürlich einen Heydar Aliev Park, denn den gibt es in jeder Stadt. Wir gehen kurz im Park spazieren, schauen uns kurz in den Seitenstraßen um und gehen wieder zurück zur Bushaltestelle. Fünf Minuten vor Abfahrt sind wir wieder Start klar und mit dem Gefühl, dass wir fast alles von Goranboy gesehen haben. Nochmal brauchen wir also nicht vorbei kommen. Der Bus schaukelt sich wieder die Straßen entlang und in Gəncə angekommen, beschließen wir, den nächsten Tag früher aufzustehen, um zeitig irgendwo hin zu fahren und mehr von Aserbaidschan zu sehen. So sehr Goranboy auch eigentlich nicht touristisch interessant ist, so sehr haben wir aber das wirkliche Aserbaidschan genossen. Ein bisschen Fassade, viele kleine Seitenstraßen, die weder asphaltiert sind noch Straßenbeleuchtung haben, und dazu ein Haufen Ereignislosigkeit. Das schreit doch förmlich nach mehr.
Am nächsten Morgen stehen wir kurz vor acht auf und sind zehn vor neun am Busbahnhof. Die Auswahl an frühen Bussen ist reichlich und viele Menschen strömen auf diese zu. Ich komme wie immer nicht drum herum, mich zu fragen, warum so viele Menschen an einem Sonntag schon so früh aktiv sind. Die Frage kenne ich ja schon aus Istanbul und ich werde wahrscheinlich immer ein kleines Unverständnis darüber hegen. Ich mag meine Sonntage mit Ausschlafen, spätem Frühstück und viel Entspannung. Aber nun sind wir schon mal so früh auf den Beinen, dann sollte sich das Aufstehen auch lohnen. Unsere Wahl fällt auf Mingəçevir, der viert größten Stadt in Aserbaidschan. Der Reiseführer gibt so gar nichts über diese Stadt her. Nichtmal erwähnt wird sie. Aber wir wissen von der Karte, dass Mingəçevir an einem großen Stausee liegt und im Sommer von Badegästen übervölkert ist. Also kann diese Entscheidung nicht so falsch sein. Über eine Stunde Busfahrt liegt vor uns und die Sitzplätze hatten die Aserbaidschaner schon unter sich aufgeteilt. Wir stehen rum, versuchen uns an irgendwas festzuhalten und tauschen unsere Erwartungen an Mingəçevir und unsere besten Buserlebnisse unseres Lebens aus. Die in unserer Nähe sitzende Aserbaidschanerin scheint sichtlich irritiert, wenn nicht so gar genervt von unserer Anwesenheit und unserer komischen Sprache. Unsere Vorfreude lässt aber keine Irritationen zu. Schließlich sind wir auf Aserbaidschanentdeckungstour. In Mingəçevir ankommend, erkundigen wir uns nach den Busfahrzeiten zurück nach Gəncə und erleben ungewohnte Kundenfreundlichkeit. Die Dame am Schalter schreibt alle Busfahrzeiten auf einen Zettel und übergibt ihn mir. Die Rückkehr nach Gəncə ist damit gesichert. Der Bus in die Innenstadt von Mingəçevir ist schnell gefunden und wir steigen ein. Ich überlege kurz, ob ich mich momentan im wahrscheinlich ältesten Bus im Kaukasus befinde, kann mich dann aber doch nicht entscheiden, weil eine Altersbestimmung der meisten Busse schwierig erscheint. Erst neulich saß ich in einer marșrutka in Gəncə, die noch einen kommunistischen Stern über dem Eingang hatte. Da durch Mingəçevir ein Fluss fließt, entscheiden wir uns, an diesem auszusteigen. Die Innenstadt beginnt auch am Flussufer, so dass wir von dort die Stadt schön erkunden und anschließend am Flussufer entlang zum Stausee spazieren können. Doch erst mal steuern wir das erstbeste Café an, um zu frühstücken. Die Belegschaft ist etwas erstaunt, so früh und dann auch noch ausländische Gäste zu haben. Die Kommunikation verläuft etwas stockend, doch am Ende schaffen wir es, etwas zum Frühstück zu bestellen. Wir gehen in die erste Etage, um einen schöneren Ausblick auf den Fluss zu haben, um dort leider feststellen zu müssen, dass die erhoffte Aussicht von Baumästen verdeckt ist. Allerdings sind auch hier noch keine Blätter an den Bäumen, so dass wir ein wenig zwischen den Ästen hindurch luken können. Nach der Stärkung und dem Ausblick geht es raus zum Spaziergang. Der Himmel ist verhangen, was uns jedoch nicht stört. Eher stört, dass die Möglichkeit, am Flussufer spazieren zu gehen, ziemlich kurz gehalten ist. Nach 500 Metern ist Schluss, denn ab dort ist alles zu gebaut. Nun gut, dann kehren wir dem Fluss eben den Rücken zu, um ein bisschen durch die Stadt zu flanieren. Die Hauptstraße kennen wir schon vom Busfahren, also laufen wir durch kleinere Gässchen und betrachten Häuschen, brennende Mülltonnen und frei laufende Hühner. Unser Gast ist von den Dächern in Aserbaidschan irritiert, so dass wir ihm eine kurze Einführung in die Architektur Aserbaidschan geben. Allerdings sind wir auch keine Fachleute. Anderseits erscheint es meist eh so, als würde gebaut werden, wie es mensch gerade passt und wo noch ein bisschen Platz ist. Wer ohne gut durchdachte Gebäude und Straßenordnung nicht leben kann, sollte von einem Urlaub in Aserbaidschan absehen. Nach kurzer Zeit sind wir zurück auf der Hauptstraße. So viel gibt es anscheinend auch nicht in Mingəçevir zu sehen. Aber wir haben ja auch noch nicht den Spaziergang zum Staudamm gemacht. Nach einem kurzen Besuch im lokalen Supermarkt und voll gepackt mit Kleinigkeiten fürs Picknick am See ziehen wir weiter. Schnell erkennen wir, dass es eine Straße zum Staudamm gibt, die direkt am Flussufer lang führt. Nur leider ist diese Straße zu weiten Teilen von Mauern gesäumt. Links die Mauer scheint neu und ist schön gelb gestrichen. Auch ist sie ziemlich hoch. Das alles sind Hinweise darauf, dass das Staatsoberhaupt von Aserbaidschan wohl diese Straße zum Staudamm entlang gefahren ist. Denn in Aserbaidschan wird jede Stadt, die der Präsident besucht, auf Hochglanz gebracht. Nun ja, nicht die ganze Stadt. Nur die Straßenzüge, durch die das präsidiale Auto fährt. Und alles, was nicht so ansehnlich wäre, wird kurz um entweder angestrichen oder hinter einer großen, schön gestrichenen Mauer versteckt. Erst neulich war der oberste Mann im Staat zu Besuch in Gəncə und dafür wurden über Nacht alle Häuser, die in den Straßen stehen, in denen die Route des Präsidenten durchführte, angestrichen. Komplett, also auch die Eingangstüren. So konnte es den Bewohner*innen passieren, dass sie am nächsten Morgen ihre Tür nicht öffnen konnten, weil die Farbe getrocknet war. Die Mauern in Mingəçevir wecken meine Neugier. Was ist wohl dahinter, was nicht gezeigt werden soll. Da kommt es mir ganz gelegen, dass ein gewitzter Anwohner oder eine gewitzte Anwohnerin in die Mauer ein großes Loch geschlagen hat. Irgendwie müssen die Anwohner*innen hinter der Mauer ja einen Zugang zu ihren Häusern haben. Ich schleiche mich an einem freilaufenden Huhn vorbei durch das Loch und entdecke dahinter das Aserbaidschan, das ich kenne: Ziegelsteinbauten, nicht gepflasterte Höfe und Wäsche, die im Hof trocknet. Allerdings fühle ich mich auch wie ein Eindringling und gehe schnell wieder zurück zur Straße, die gefühlt zugemauert ist.
Irgendwann enden die Mauern und werden durch einen Haufen Strommasten abgelöst. Der Staudamm wird schließlich zur Stromgewinnung genutzt. Dass diese Strommasten allerdings laute surrende Geräusche machen, erzeugt in mir ein deutliches Unbehagen. Meine Schritten werden schneller. Ich möchte so wenig Zeit wie möglich unter diesen Stromkabeln verbringen. Wir fragen uns, ob die Anwohner*innen unter den Stromkabeln dieses Geräusch immer noch wahrnehmen, gehen aber davon aus, dass mensch sich ja an so gut wie alles gewöhnen kann. Und endlich kommen wir dem Staudamm sehr nahe. Zwischen ihm und uns liegt jetzt nur noch eine große Baustelle. Halbfertige Häuser, Tee trinkende Bauarbeiter und etwas matschige Wege säumen unseren Weg. Die Bauarbeiter schauen erstaunt, im März drei ausländische Tourist*innen über ihre Baustelle laufen zu sehen, entscheiden sich aber für aserbaidschanische Ignoranz und trinken gemütlich ihren Tee. Wir sehen, dass es einen Pier gibt und steuern direkt darauf zu. Doch kurz vor dem Pier erstreckt sich eine große Lücke, deren Abgrund uns nicht gerade Vertrauen schenkt. Jetzt also auch noch sportliche Betätigung. Ich springe drüber und dann kann ich endlich auf den Pier. Allerdings nur zu Hälfte, da die letzte Hälfte auf krummen Holzstelen balanciert wird und ich dann irgendwie doch noch an meinem Leben hänge. Hier ist jedenfalls der beste Platz für unser Picknick. Also holen wir unsere Kekse und Cola raus und machen es uns gemütlich. Die Stille um uns herum betört mich. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal solch Stille im Kaukasus wahrgenommen habe. Denn die Bauarbeiten liegen offensichtlich still, da die Bauerbeiter den ganzen Tag mit Tee trinken beschäftigt sind. Meine zynischen Kommentare, die ich in den letzten zwei Tagen in sagenhafter Fließbandproduktion fabriziert habe, kommen zu einem kurzen Stopp. Die Stille möchte ich auskosten. Ich lege mich auf meine Jacke und schließe die Augen. Für einen kurzen Moment entspannt sich mein Körper und meine Gedanken kommen zur Ruhe. Ich schiebe alle Frustration der letzten Monate zur Seite und genieße den Augenblick. Doch dann wird es mir schnell zu kalt und ich muss mich wieder bewegen. Wir gehen zum Strand, der aus alter Erde besteht, runter und schauen den kleinen Wellen des Stausees zu. Mein Mitfreiwilliger wundert sich, dass es keine Tiere im See gibt. Eine Tatsache, die uns alle etwas unbehaglich zurück lässt. Aber wer weiß, vielleicht machen alle Fische ja auch einen Sonntagausflug und sind kurz Richtung Norden geschwommen. Und dann heißt es auch schon, den Rückweg antreten. Ich möchte ungern den letzten Bus verpassen und dann in dieser Stadt, in der es eigentlich nichts gibt, hängen bleiben. Zurück in der Innenstadt warten wir am Straßenrand auf unsere marșrutka nach Gəncə, die zu unserer großen Freude komplett leer ist. Wir können es uns in den Sitzen bequem machen und nach kurzer Zeit fallen uns die Augen zu. Erst in Gəncə wachen wir durch die Frage des Fahrers auf, der wissen möchte, wo wir aussteigen wollen.
Nach den beiden Tagen kann ich nun behaupten, dass ich bereits fast alles von Westaserbaidschan gesehen habe. Und alles scheint gleich trostlos und ohne Sehenswürdigkeiten. Und gleichzeitig sind es diese Städte, die mir das wahre Aserbaidschan zeigen. So, wie es ist, ohne Schönheitskorrekturen. Und das mag ich irgendwie mehr als das auf Hochglanz polierte Baku. Denn die Seele Aserbaidschans scheint eher in der Einöde versteckt.