Ein gutes Ende
Abschiednehmen fällt den Wenigsten leicht. Egal ob es Ort oder Menschen sind, mit denen eine starke Bindung entstanden ist, ihnen den Rücken zu kehren bedarf es oft viel Kraft. Mit etwas Abstand berichtet Johannson nun, wie er diese schwere Aufgabe bewältigt hat.
Der vorletzte Tag. Am Samstag habe ich mich schon von Joanna und den anderen Polen verabschiedet. Bei dieser Gelegenheit habe ich auch endlich ihre Schwester aus Warschau getroffen, mit der ich mich stundenlang unterhalten konnte, denn sie hasst ihre kleine Heimatstadt noch mehr als Joanna und ich zusammen. „Warum habt Ihr Deutschen damals nur Warschau bombardiert? Warum nicht auch Busko Zdroj?!“ Nächstes Mal, ich werd mich persönlich drum kümmern, ich verspreche es Ewa.
Die nächste Generation
Zu spät ins Bett, zu früh raus, bis Mittag noch einmal einige Stunden durch mein Zimmer und Bad gewirbelt und sie blitzblank gezaubert. Durch Schubladen gegangen, Flugblätter und Broschüren rausgeholt und in den großen schwarzen Plastikbeutel geschmissen, eine Reise zurück bis zum ersten Tag. Danach nur schnell raus aus dem Haus, raus unter den makellosen Himmel und laufen; fahren, nur nicht stehen bleiben. Zumindest nicht daheim, wo mein Leben von den Wänden geholt wurde und in einem Koffer liegt. Laufen und warten, warten auf die Nachricht von Hanni, wann wir uns ein letztes Mal sehen können.
Mein erster Weg führt mich nach Peterlee, zu Dora. Dora habe ich gestern zum ersten Mal gesehen und sie ist auch erst eine Woche hier; Manuelas Nachfolgerin aus Ungarn. Sie ist sehr nett und gestern kamen wir hervorragend klar, ich und die neue Freiwillige, die jetzt angekommen ist, so kurz bevor ich gehen muss. Heute wirkt sie aber nicht so interessiert und ich komme mir fast aufdringlich vor. Also gehe ich bald schon wieder, Müdigkeit setzt ein und meine so fragile, ängstlich beobachtete gute Laune beginnt zu kippen.
Ein letztes mal Newcastle: Abschiedstour
Einen Bus nach Durham will ich nehmen, setze mich in einen nach Newcastle und falle sofort in einen tiefen Schlaf. In der großen Stadt laufe ich sie alle noch einmal ab, die Strassen und Plätze mit ihren Menschen und Geschäften. Auf der Suche nach etwas, das durch den Schleier meiner zerstreuten Indifferenz bricht. Central Station, Grey Street, Monument, Northumberland Street, Haymarket, die Uni... Doch es ist Bank Holiday, fast alles hat zu, und wo es auf hat, hilft mir kein Konsum dieser Welt.
Meine letzten beiden Gutscheine für eine CD eingelöst – nicht für mich –, noch ein Geschenk, das darf hier bleiben. Keine französischen Zeitungen sind mehr übrig, also nehme ich den Independent. Nicht, dass es etwas Interessantes gäbe, aber man braucht etwas zu tun beim letzten Kaffee im „Intermezzo“, sonst denkt man zuviel. Kein Anruf kommt, keine Nachricht.
Ein letztes Mal Durham: Der Herrschaft des Guten
Als nichts mehr die Zeit ausfüllen kann, gehe ich zurück zum Bahnhof und fahre nach Durham. Wie passend: Der letzte Tag; die letzte Reise, noch einmal durch die gesamte Region. Durham hat gleich ganz zu und meine halbbewussten Schritte bringen mich wie automatisch zur Kathedrale. Dort ist es auch ziemlich ruhig, was gut ist. Einsam und ruhig, abgesehen von einer Orgelprobe. Eine Oase klarer Beständigkeit in meinen Ohren, für mich allein. Noch nie ist mir aufgefallen, wie grazil das Instrument verziert ist...
Von Osten und Westen bricht die Sonne durch die großen, bunten Fenster in das gewaltige Schiff und auf mich, klein in ihm. Zwei riesige, majestätisch strahlende Sterne hoch über mir; hell, sicher und mächtig, als ob keine Sorge der Welt die Zukunft erreichen könnte.
Auf Leben und Tod
Aber man kann nicht ewig bleiben. Ein Bus ist zu kriegen, denn noch immer keine Nachricht. Was soll's, ich fahre trotzdem hin. Gerade als ich einsteige schreibt sie mir, sie hat doch keine Zeit. Aber es ist zu spät, umzukehren. Ich bin bereits unterwegs, und wenn sie nur fünf Minuten hat. Was Besseres könnte ich machen? Ich verabschiede mich nicht von Freunden mit einer SMS. Nicht hier. Und mit Sicherheit nicht von Hanni.
Ist Hanni eine Freundin? Zu Hause ist sie nicht. Sie sei mit einem Freund losgefahren, wird mir gesagt. Um mich zu treffen. Verblüfft lasse ich nur die CD da und laufe hinunter zur Hauptstrasse. Was soll das? Wird hier gerade mit mir gespielt? Wurde seit einem halben Jahr mit mir gespielt? Der engste Freund den ich jemals hatte? Bin ich so naiv?
Es ist merkwürdig... wie man einen so sicheren Instinkt hat, wann bei Freunden eine Ausnahme mit dem nett sein angesagt ist. Aber ich kann nicht einfach gehen, ich kann einfach nicht. Ich kann dieses halbe Jahr nicht in seinen letzten Sekunden streichen, ohne sicher zu sein. Und so schreibe ich eine klare Frage und kriege eine ziemlich klare Antwort: Ich erkläre gar nichts. Wollte Dich überraschen. Hab Dich gesehen. Habe meine Meinung geändert.
Was soll das? Was soll das heißen? Am Telefon muss man Hanni fast anschreien, denn wie üblich versteht sie nicht, was ich meine; meinen wir es zu gut mit einander, um beide unseren Willen zu kriegen. Und ich kann nicht bis morgen warten. Am Ende überrede ich sie mich zu treffen, auf dem Friedhof, wie passend. Aber erst, wenn sie zurück ist, in einer Stunde, die ich in der empfindlich kalten Abendluft auf einer Bank verbringe, allein im verschwindenden Licht bis zur Dunkelheit, mit nur Gräbern in meiner Sicht.
Mut, Stärke, Ausdauer, Ehrlichkeit: Stolz
Und irgendwann kommt dann der Anruf und ich treffe sie, dieses merkwürdige kleine Mädchen in seiner schwarzen Jacke. Wir gehen zu ihr, sitzen in der kalten Nacht vor der Tür und sie erklärt; erklärt warum sie eigentlich keinem mehr erklären will, was sie tut, und macht doch eine Ausnahme mit mir. Ihre schwarzen Augen funkeln durch die Nacht zu mir herüber und wir sind uns die besten Freunde, die wir jemals hatten.
Ich kann sehr gut verstehen, warum sie mich nicht treffen wollte. Denn irgendwann muss einer von uns aufstehen und gehen. Ja der Moment kommt...ich umarme sie und gebe ihr einen Kuss. Good night, my friend. Hanni dreht sich um und geht zurück ins Haus. Das Tor schließt sich und sie ist aus meinem Leben.
Zu wissen was bleibt: Licht im Dunkel
Ich bin sehr froh, dass wir uns so verabschiedet haben. Und für eine Weile scheint es, dass ich meinen Frieden mit dem Ende gemacht hätte. In Easington laufe ich noch einmal über unser Land. Was sicherlich nicht sehr weise ist, kurz vor Mitternacht. Es ist so dunkel, ich könnte gegen eine Wand rennen, ohne sie zu sehen. Selbst unter dem freien Himmel der Wiesen sieht man nicht mehr als den nächsten Meter des Wegs.
Und es ist kalt, eine kalte Nacht voller Sterne. In der Mitte eines Feldes sehe ich die erste Sternschnuppe meines Lebens. Kein eleganter dünner Schweif am Himmel, sondern eine dicke gelbe Bahn, die lautlos über mir in drei Teile explodiert und in weniger als einer Sekunde verglüht, ohne an der absoluten Stille der Nacht auch nur zu kratzen. Ich wünsche mir etwas.
Dann stehe ich über dem Meer. In der Ferne sieht man bereits die Lichter der Farm. Über mir die Sterne und unter mir das schwarze Meer, weit unten die Stufen hinunter, auf denen ich die ersten drei Wochen jeden Tag in der Sonne stand. Alles, was man hört, ist das regelmäßige, rauschende, zischende Plätschern der Brandung über die kleinen Steine, wie es das Meer an dieser Stelle ewig gemacht hat und genau hier ewig machen wird.