Ein ehemaliges Straßenkind erzählt…
Der neostalinistische Diktator Ceausescu (1965-1989) verbot Abtreibung und Verhütung, weswegen in dieser Zeit tausende ungewollte Kinder in staatlichen Heimen untergebracht wurden, wo sie unmenschlichsten Bedingungen ausgesetzt waren. Nach dem Ende des Kommunismus landeten viele dieser Kinder auf der Straße. Hinzu kamen die sogenannten „Runaways“, die von zu Hause weggelaufen sind. 2001 ging man von ca. 20.000 rumänischen Straßenkindern aus (vgl. Underground Chidren, 2001). C. war eines von ihnen. Zeitweise lebte er am Nordbahnhof mit anderen Kindern und Jugendlichen im Kanal.
«Ich heiße C. und bin 37 Jahre alt. Ich bin geboren und aufgewachsen in P. Ich komme aus einer guten und ehrlichen Familie. Meine Eltern sind beide Ingenieure und meine Schwester ist Buchhalterin in Belgien. Meine Familie hatte niemals Probleme mit dem Gesetz. Sie strebten nach einem besseren Leben- wenn ich ehrlich bin- ohne Erfolg aber sie taten es trotzdem. Ich bin das schwarze Schaf in der Familie. Als sich meine Eltern scheiden ließen, häuften sich meine Probleme. Angefangen hat es mit Schulschwänzen und geendet hat es mit Drogen und Gefängnis.»
Wie kam es dazu, dass du auf der Straße gelebt hast?
«Lange Geschichte, kurzer-. Nach vielen Jahren in denen ich Drogen genommen habe und kriminell war, konnte meine Mutter dem ganzen nicht mehr standhalten und sie schmiss mich raus. Am Anfang konnte ich bei einigen Freunden untergekommen, aber das war nur für kurze Zeit. Jedes Mal hörte das schnell auf, weil ich mit ihnen zu streiten begann oder sie mit mir. So kam es, dass ich nach einer langen Liste von Freunden auf der Straße endete. Kein Geld, keine Freunde, keine Arbeit- und auf Heroin. Ich schlief, wo ich konnte. In verlassenen Autos, leerstehenden Gebäude, im Kanal oder auf den Treppen von Wohnblöcken. Ich aß, was ich fand. Ich klaute. Aber vorwiegend nahm ich Drogen. So viel und so oft wie ich nur konnte.»
Hast du dich auf der Straße zu Hause gefühlt? Gab es dort Personen, die für dich wie Freunde oder eine Familie waren?
«Ich kann nicht sagen, dass ich mich auf der Straße „zu Hause“ gefühlt habe. In Wirklichkeit: Ich hasste es. Ich hasste die ganze Situation, aber ich war zu schwach, um mit den Drogen aufzuhören. Freunde? Die einzigen Freunde, die ich haben konnte, waren ebenso drogenabhängig. Freundschaften zwischen solchen Menschen haben keinen großen Wert. Wir haben uns gegenseitig für Heroin oder etwas Geld verraten. Trotzdem habe ich ein paar wenige Menschen getroffen, mit denen mich mehr als die Straße verband. Wir standen hintereinander, fütterten uns, wenn wir es brauchten und wenn wir dazu im Stande waren, passten wir gegenseitig auf uns auf, aber nach wie vor standen die Drogen im Mittelpunkt. Oft fühlte ich mich aber auch von ihnen verraten und hintergangen.»
Wenn du dich an deine Zeit auf der Straße zurückerinnerst, welche Gefühle überkommen dich?
«Gefühle- Enttäuschung, Zorn, der Wunsch den anderen von der Straße alles heimzuzahlen, was sie mir antaten. Es gab Situationen in denen ich ihnen vergab, aber im Grunde meines Herzens war ich tief enttäuscht.»
Ich habe in Spanien eine Gruppe von jungen Männern getroffen, die freiwillig auf der Straße leben, glaubst du, dass es in Bukarest auch einige Menschen gibt, die sich "freiwillig“ für ein Leben auf der Straße entscheiden?
«Soweit ich weiß, sind sehr viele Menschen auf der Straße, nicht weil sie sich dafür entschieden haben, sondern weil sie sich kein anderes Leben leisten können. Es gibt auch noch viele andere Gründe, wie z.B. das Aufwachsen in Kinderheimen, wo sie nur mehr weg wollten, weg von den Regeln und der Gewalt. Einige von ihnen endeten vielleicht aus denselben Gründen wie ich auf der Straße, weil sie Probleme mit der Familie hatten. Aber meistens gehen diese Personen wieder zurück nach Hause, nach kurzer oder längerer Zeit. Leider gibt es, glaube ich auch ein „Ja“ auf deine Frage. Ich glaube, dass einige auch das Leben auf der Straße wählen, weil sie die Freiheit suchen.»
Haben die Menschen mit denen du im Kanal/auf der Straße zusammengelebt hast über ihre Gesundheit insbesondere über Krankheiten, die über den intravenösen Drogenkonsum übertragen werden können nachgedacht?
«Ich weiß aus meiner eigenen Erfahrung, dass die Menschen, mit denen ich auf der Straße gelebt haben, sich um ihre Gesundheit kümmern. So sind sie zumeist sorgsam, mit wem sie ihre Spritzen teilen. Leider, weiß ich auch, dass es Situationen gibt, in denen Drogensüchtige einen Scheiß auf ihre Gesundheit geben. Das sind die Momente wenn, z.B. der Körper so stark nach der Droge schreit und man sich nur mehr Gedanken darüber macht, wie man schnellstmöglich zum nächsten Schuss kommt. In diesen Situationen interessiert es einen nicht, ob die Spritze neu ist, ob sie aus dem Müll ist oder sie bereits vorher von jemanden, der infiziert ist, verwendet wurde.»
Wie denkst du heute über dein Leben?
«Mein Leben heute. Also, ich bin zufrieden mit meinem jetzigen Leben. Es klingt vielleicht ein wenig arrogant, aber die Sache ist, dass ich jetzt ein sehr gutes Leben führe. Ich habe einen Job, der vielleicht nicht der beste auf der Welt ist, aber er gibt mir zwei sehr wichtige Sachen: Er hält meinen Geist auf Trapp und versorgt mich mit allem, was ich brauche. Neben dem darf ich nicht auf meine Freunde vergessen. Freunde, die sich um mich kümmern, die mir helfen und denen ich helfen kann. Seit ich von den Drogen weg bin, ist mein Leben eine Mischung aus Wertschätzung, Einsicht, Dankbarkeit gegenüber Gott und den Freunden, die mich lieben und die ich zurücklieben kann.»
Was würdest du anders machen, wenn du könntest?
«Ich würde gerne einige Dinge aus meiner Vergangenheit ändern. Aber da das unmöglich ist, lerne ich aus meiner Vergangenheit, aus meinen Fehlern und ich weiß, dass ich sie nicht noch einmal machen werde. Auf der anderen Seite denke ich, dass ich ohne meine Vergangenheit nicht die Person wäre, die ich heute bin. Wie ich dir bereits gesagt habe, ich bin nicht stolz auf das, was ich in der Vergangenheit getan habe. Ich bin bloß stolz darauf, dass ich da raus gekommen bin. Ich glaube meine Vergangenheit ist eine Sache, die meine Persönlichkeit von heute ausmacht.»
Was wünschst du den Menschen auf der Straße?
«Den Menschen auf der Straße wünsche ich zum einen Kraft- Kraft um weiterzumachen. Ich war dort, ich weiß was das bedeutet und ich weiß, dass man sehr viel Kraft braucht, um da wieder raus zu kommen. Und dann wünsche ich ihnen Entschlossenheit und den Willen, etwas in ihrem Leben zu ändern»
Was wünscht du dir für deine Zukunft?
«Meine Zukunft. Ich hoffe, dass ich meinen Weg beibehalte, ich hoffe und bete und ich lebe jeden Tag, als wär er der letzte. Natürlich habe ich einige Pläne und ich versuche an ihnen festzuhalten, aber zwischen diesen Plänen versuche ich, das Beste aus meinem Leben zu holen. Einer meiner größten Wünsche ist, dass wenn mein Leben vorbei ist, jemand sagen kann: „Also, dieser Typ, dieser C. war etwas ganz Besonderes für mich“. Eine Person. Ich glaube, das reicht. Das wäre der Beweis dafür, dass ich nicht um sonst auf der Welt war.»
Schlussbemerkung: Das Interview wurde 2012 geführt. C. ist heute Vater einer gesunden 2-jährigen Tochter.
(Julia Maria Pettinger)