Dunkel wie der Tag, hell wie die Nacht
Diesen Text habe ich für den internationalen Schreibwettbewerb "Scriptamanent" geschrieben.
Ich finde, dass es ziemlich gut meine Arbeit und Leben in Norwegen beschreibt. Vielleicht haben andere in Norwegen auch ähnlich Erfahrungen gemacht. Deshalb möchte ich den Text auch hier teilen.
„Magst du Hitler?“, fragt mich der kleine Afghane ganz nebenbei beim Kickerspielen. Er ist vielleicht gerade einen Meter zwanzig groß und zwölf Jahre alt. Mein Mitspieler und Mitarbeiter Jon fängt an zu lachen. So sehr, dass es ihm Schwierigkeiten bereitet, konzentriert weiter zu spielen. Ali wundert sich währenddessen, weshalb ich so verlegen werde und Jon so lachen muss. „Wieso, was ist los?“, fragt er. Ich sei doch schließlich aus Deutschland, versucht er zu erklären, und viele aus seiner Klasse mögen ihn doch auch. Es ist eine seltsame Situation.
Was ist Norwegen?
Vor fünf Monaten bin ich vom Mittelpunkt Deutschlands an den Mittelpunkt Norwegens gereist. Hier lebe ich in der Kleinstadt Steinkjer. Es gab eine Zeit, in der ich dachte, ich würde das Land kennen, welches ich schon drei Mal im Urlaub bereist hab. Ich dachte, ich begreife das Gemüt der Norweger, da für ein Jahr ein norwegisches Mädchen in meiner Familie in Deutschland lebte. Ich dachte, ich weiß, wie ein EVS hier läuft, da eine Freundin von mir schon ein Jahr als Freiwillige in Norwegen verbracht hat. Ich dachte, mich erwartet eine seltsame, heile Welt im Norden Europas, geprägt durch den Wohlstand vom Öl und der wunderschönen Landschaft. Doch trotzdem ist alles anders als erwartet.
Langeweile,...
Jetzt sitze ich hier in meinem Jugendzentrum im Foyer und schreibe. Gerade habe ich einen Film für die überwiegend immigrierten Jugendlichen gestartet, damit sie beschäftigt sind. Matrix, „kjedelig“ sagen sie mir. „Langweilig“, das Wort hab ich schnell gelernt, denn es fällt hier oft. Wie kann der Film je langweilig werden, frag ich mich? Es ist Der Film meiner Jugend! Obwohl ich mich mit 23 Jahren noch nicht sehr alt fühle, merke ich, dass ich es hier mit einer anderen, neuen Generation zu tun hab. Die Aufmerksamkeitsspanne ist noch kürzer und die Fantasie anscheinend noch geringer. Viele Sorgen mach ich mir deshalb allerdings nicht. Das alles hat man auch schon uns vorgeworfen.
...Wohlstand und Ambition,...
Ich denke nach. Warum bin ich hier? Ja, ich liebe die Landschaft. Das ist hört sich gut an, deshalb bin ich hier. Wegen der Berge und Fjörde, der eiszeitlich glattgeschliffenen Felsen, der kleinen roten Holzhütten im scheinbaren Nirgendwo, der ruhig grasende Elche, die nur in der Jagdsaison oder von selten vorbeifahrenden Autos aufgeschreckt werden. Trotzdem bin ich auch wegen des Wohlstandes hier. Wo sonst wird so viel Geld in soziale Projekte gesteckt wie hier. Wo sonst hat ein einfaches Jugend- und Kulturzentrum in einer Kleinstadt Tech-nik wie ein kleines Foto- und Musikstudio? Eine große Bühne mit Lichtanlage und Soundtechnik, um ein Musical oder wahlweise auch ein Rockkonzert für 500 Mann zu veranstalten? Mehrere Foto- und Videokameras? Auch genau deshalb bin ich hier.
...soziales Engagement,...
Vor mir spielen zwei Jugendarbeiterinnen „Activity“. Sie kommen ein Mal die Woche mit zwei behinderten Kindern, um ihnen ein bisschen Abwechslung zu bieten. Dabei wälzen sie sich vor Lachen auf dem Boden als sie versuchen Tiere zu imitieren. Die Behinderten schauen verwundert zu. Zum Glück fangen auch sie schließlich an zu lachen. Einer der vielen schönen Momente hier.
...arktische Kälte und Dunkelheit,...
Draußen ist es kalt. Winter. Man hat mich vorgewarnt, daher bin ich gar nicht so geschockt oder betrübt. Siebzig Zentimeter Schnee sieht man in Deutschland nicht so häufig. Die Norweger scheinen hier mehr Angst vor dem Winter zu haben als ich. Sie jammern schon bei fünf Grad unter null und erzählen im gleichen gefrierenden Atmenzug, dass es die nächsten zwei bis drei Monate zwischen minus 20-30 Grad kalt sein wird. Für mich ist es vielleicht neu, aber für sie ist es leidige Normalität. Schon öfter haben sie das durchgemacht in ihrem Leben und sehen offensichtlich absolut keinen Grund nicht zu klagen. Dass die Sonne schon gegen zwei Uhr nachmittags untergeht, ist hingegen schwieriger zu verkraften. Kein Wunder also, dass es langweilig ist. Spazieren gehen oder Langlaufski fahren, dass reizt nun wirklich nur die wenigsten Jugendlichen. Filme sehen und Playstation spielen, damit kann man schon eher locken. Eigentlich ein bisschen schade bei den Möglichkeiten, die unser Zentrum zu bieten hat.
...bärtige Wikinger mit von Kautabak gebräunten Zähnen,...
Ich bin sehr froh in Steinkjer zu sein. Ich habe das Gefühl, hier alles zu erleben, was Norwegen ausmacht. Die Landschaft ist schön, aber nicht spektakulär. Die Stadt ist farblos und kann sogar hässlich sein, wenn an manchen Tagen der Gestank der Schweineschlachtanlage durch die Straßen zieht. Doch auch das ist Norwegen.
Ich treffe hier verschlossene, bärtige Wikinger. Harte Männer und schöne, blonde Frauen. Es gibt auch hier genauso dicke und dünne Menschen, große und kleine, Frauen und Männer, wie wohl überall auf der Welt. Jedoch sind hier die Dünnen dünner und die Dicken dicker. Während die Einen sich ständig in der Natur bewegen, egal bei welchem Wetter, haben die Anderen mit der typisch norwegischen Nahrung zu kämpfen: Hotdogs, Tiefkühlpizza, Tacos und Kartoffelchips.
...seltsame Trinkgewohnheiten, große Offenheit und große Unverbindlichkeit...
Wenn ich manchmal abends in einen der zwei Pubs gehe, treffe ich auf die berüchtigten skandinavischen Trinkgewohnheiten: Wer trinkt, trinkt maßlos, obwohl das Glas Bier zehn Euro kostet. Als gäbe es kein Morgen, was im Winter auch zutrifft. Mit etwas Glück werde ich zu einem „Nachspiel“ eingeladen. Der Ausdruck bezeichnet die spontanen Privatfeiern wenn die Pubs um halb drei schließen. Wenn ich dann eine Tasse selbstgebrannten Schnaps in der Hand halte, kann ich mich als einer von Ihnen fühlen. Leider nur bis zum nächsten Morgen, denn trinkende Norweger haben die schlechte Angewohnheit sich am nächsten Tag an nichts mehr zu erinnern. Auch ich esse Fisch und Kartoffeln und einen ganzen Haufen Tiefkühlpizza. Verkrieche mich im Winter in meinem warmen Zimmer und versuche halbherzig Kontakt zu Norwegern zu knüpfen. Nicht so ganz einfach.
...und Individualismus durch Abgeschiedenheit.
Dem kleinen Jungen vom Kicker konnte ich schließlich eine Antwort geben. Nein, ich mag Hitler nicht! Keine weiteren Erklärungen, keine Zeit - das Spiel schluckte zu viel Aufmerksamkeit. Es macht mich glücklich ihm eine schöne Zeit zu bieten. Und vor allem bin ich froh, dass mein Jahr in Norwegen mir viel mehr zeigt, als ich vorher schon zu wissen meinte. Denn das ist schließlich der Sinn eines Freiwilligendienstes.
Das ist Norwegen. Meine kleine, sonderbar schöne Welt im Norden Europas.
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