Dorfkind wird Stadtkind.
Über neue Abenteuer in der großen Stadt.
Hallihallo ihr Lieben,
Dorfkind wird Stadtkind, so allmählich. Dass ich immer mehr hier ankomme merke ich an vielen Kleinigkeiten. So kann ich zum Beispiel schon wie zu Hause morgens blind aus dem Bett steigen und mich halb anziehen ohne mich gleich an das gleißende Licht gewöhnen zu müssen. Mit meinem Weg, gekleidet in Bademantel, durchs Hotel um zu den Duschen zu gelangen hab ich mich auch schon angefreundet. Ich gehe wie jeder Londoner bei Rot über die Ampel, solange kein Vehikel zu nahe kommt und gehe genauso nie ohne Schirm aus dem Haus. Zudem schimpfe ich mittlerweile auch gerne über das Wetter und die U-Bahnen, die viel zu stickig, viel zu überfüllt und viel zu oft wegen Wartungen oder anderen Desastern geschlossen sind und wegen denen man plötzlich eine Stunde länger zum Treffpunkt braucht als noch am Tag zuvor.
Und langsam gewöhne ich mich auch ans Ungewöhnliche. So wie an den Kanarienvogel-Schwarm (!), der mir letztens im Hyde Park entgegenkam oder die Marathonläufer im Nonnen-Outfit (!). Bei 8 Mio. Einwohnern muss es einfach die verrücktesten Persönlichkeiten geben; diese ganzen Möglichkeiten machen diese Stadt aber so unglaublich spannend. Dann geht man eben mal in ein bangladesisches Restaurant und versucht den „fairly hot“ Madrasreis zu essen (gelernt fürs Leben: fairly hot niemals unterschätzen) oder kauft am Markt seinen Falafelwrap, einen Baigel oder eine Chicken Phó…
Das Wochenendprogramm ist zwar oft spontan ausgedacht, jedoch meist rappelvoll. So war ich letztens am Samstag mit der Au-Pair-Gruppe der German YMCA in den Houses of Parliament, wo wir einem wunderbar enthusiastischem Guide, Fernando, folgend den Ort britischer Machtpolitik erkunden durften. Abends habe ich mich einer kleinen aber feinen Gruppe junger Menschen angeschlossen und wir sind nett essen gegangen, dann in ein Café und haben schließlich noch am Brick Lane Music Festival vorbeigeschaut. Dieses Szeneviertel pulsiert voll mit jungen Kreativköpfen und ist das neue Soho in der Stadt. Gestern haben wir dort wieder vorbei geschaut, da der Ort eine riesen Anziehungskraft auf junge Leute aller Couleur ausübt . Sonntags ist dort Markttag. Und es ist eigentlich nicht nur ein Markt. Das ganze Viertel platzt aus seinen Nähten mit Flohmärkten, dem großen Blumenmarkt, Musicstores und, vor allem, Vintagestände, -märkte und -läden. Die Lina, mein Lieblings-au-pair und dem Ort ebenso verfallen wie ich, stimmt mir jedes Mal zu wenn ich murmle „hier könnte man sich ja dumm und dämlich kaufen“ oder „irgendwann…irgendwann, wenn ich mal genug Geld habe…“ ;)
Mit Lina kann man Tolles erleben. So sind wir am Samstag mit dem Ziel zur Tate Modern zu laufen erst mal Maxi (kennt Lina von zu Hause noch) an seinem neuen Arbeitsplatz besuchen gegangen (Make Mine, er schmiert dort die besten Baigels der Stadt ;) und dann zu Fuß durch Central London. Zur Tate haben wir’s allerdings doch nicht geschafft. Zu viel Abenteuer lag zufällig auf unserem Weg. Das Kloster, das aussieht wie wenn man dort Harry Potter gedreht hätte oder der Charity-Markt in der Schule, den wir in der Seitengasse gefunden haben und dort viele Bücher für ein paar Pence ergattern konnten, zum Beispiel. Aber Zitat Lina: „ die spannendsten Entdeckungen macht man ja spontan“. Nach dem heutigen Tag singe ich endgültig das gleiche Lied. Wir sind zum Halbmarathon nach North Greenwich gefahren und haben dort Ross, einen Schotten der mit Maxi und Julian in der WG wohnt, angefeuert. Ausklingen lassen haben wir den Tag (nach sehnsüchtigem Schaufenstershopping in der Brick Lane) in Julian und Maxis WG mit Chinese Food und einem Nachtspaziergang durch das wunderwunderbare London.
Als neues Hobby haben wir die Pubkultur erkoren: ein Pub ist herrlich englischer und schöner als der andere. Teuer, ja. Aber was ist in London denn nicht teuer? Wenn man bisschen aufpasst, die Ohren und Augen aufsperrt, kommt man als Schnäppchenfuchs gut durch sein Großsstadtleben. So haben wir mit ein paar andern Au-Pairs die Geschäftsidee genutzt, 2 Drinks zum Preis von einem zu ergattern. Das 2-for-1-Prinzip ist das englische Lieblingsschnäppchen, so scheint es mir.
Falls euch auch mein Arbeitsleben interessiert: Im Programm bin ich immer mehr eingebunden und darf wirklich schon viel selbst machen. Bald werde ich auf eigene Faust Hausbesuche für Senioren machen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr am regulären Programm teilnehmen können und etwas Unterstützung und ein offenes Ohr brauchen. Die Meisten von ihnen habe ich schon kennengelernt und durch die Bank freut man sich, dass „endlich“ mal ein Mädchen da ist und nicht immer nur „diese Zivis“ ;). Die Schicksale gehen mir schon sehr nahe ans Herz und am liebsten würde ich alle meine Oldies jeden Tag besuchen und ihnen helfen, aber das lässt sich leider nicht einrichten.
Die Leute, die regelmäßig Mittwochs (zu Peter’s Music) oder Donnerstags (zum Anglo-German-Circle) kommen kenne ich mittlerweile schon so gut dass ich immer mit Küsschen oder Umarmungen begrüßt und verabschiedet werde und ich sonst noch alle großmütterlichen und großväterlichen Gefühle auf mich ziehe (früher von Mutti, heute von den Oldies: Veronika wird gemästet und mit Keksen vollgestopft ;)
Meine Kreativität durfte sich auch schon austoben, denn ich habe das diesjährige Bring&Buy (Flohmarkt) Plakat entworfen und gestaltet. Udo, mein Chef, hat auch schon viele andere Ideen, wie ich mich künstlerisch verausgaben kann und soll, was mich sehr freut :) Udo hatte letzte Woche auch Geburtstag. Da der Tag genau auf den Mittwoch, also Peter’s Music Tag fiel lud er sich seine Lieblings-Jazz-Band in das Lancaster Hall Hotel ein. Eines sag ich euch, wenn Jazz immer so gut aussieht, bin ich von heute an ein großer Fan! Die Dixie Ticklers waren da. Ich ging ja davon aus, die Ticklers seien ebenfalls mehr so das Semester des Publikums. Falsch gedacht. Sind wohl eher Erstsemester. Gut aussehend und absolut Stilecht gekleidet. Das Waschbrett und das Banjo haben Stehbass, Klarinette und Trompete perfekt ergänzt und ich als eigentlich eher Jazz-uninteressierte Person habe die Musik unglaublich genossen, genau wie meine Oldies. Die Band gibt auch Konzerte, in denen man sich stilecht in der Zeit des Dixiestils kleidet und tanzt und feiert und hat mir ans Herz gelegt, da doch mal vorbeizuschauen :)
Aber am Ende des Tages machen all diese Eindrücke und das viele auf den Füßen unterwegs sein auch sehr müde, wie nach einem Wochenende voll Programm mal wieder feststellen muss. Es gibt so viel zu sehen in allen Farben, Formen und Auswüchsen, das ist für ein kleines Mädchen vom Land manchmal schon noch ganz schön viel. Stolz bin ich aber, dass ich gerade als Dorfkind sehr gut in der Stadt zurechtkomme und bisher immer die Richtige Tube oder Straße finden konnte . Also auch wenn ich mich hier zwar geborgen und glücklich fühle, so richtig zu Hause bin ich noch nicht. Aber das „zu Hause“, das seid ja ihr alle und euch kann mir London einfach nicht bieten, auch wenn es hier sonst alles, alles gibt. Hier sei angemerkt, für diejenigen, die es noch nicht wissen: Veronika macht Heimaturlaub über Weihnachten und Silvester :) ich freue mich schon!
Nächste Woche fahre ich für 3 Tage nach Bradford (nahe Leeds) für mein On-Arrival-Training der Volunteers und am Samstag ist der 151th Anniversary Trip der German YMCA in London in das Chartwell House, wo Winston Churchill einst residierte. Ihr seht, es warten wieder viele Abenteuer an jeder Ecke auf klein Veronika :)
Ach ja, und zum Schluss: ich lerne jetzt so nebenher Spanisch und Finnisch, höhö. Das bunt gemischte Hotelpersonal besteht nämlich hauptsächlich aus Polen, Spaniern, Deutschen und eben auch einem Finnen. Ich habe schon einige Wörter gelernt und heute sag ich deshalb mal nicht nur:
See you, sondern auch
hasta luego und nähdään :)
Eure glückliche Veronika
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