#Don'tTouchMySchengen
Es reist sich schwer als grenzüberschreitende Europäerin dieser Tage. Eine Einschätzung der aktuellen politischen Situation in Deutschland und Belgien.
Es reist sich schwer als grenzüberschreitende_r Europäer_in dieser Tage. Es reist sich vermutlich noch schwerer als grenzüberschreitende_r Nicht-Europäer_in, aber das kann ich nur schwer beurteilen. Ich bin weiß, habe Abitur und studiere. Man nennt das auch ‚privilegiert’. Trotzdem kann ich nicht umhin, das hier jetzt zu schreiben. Dass ich mein Praktikum in Belgien Anfang März antreten würde, war seit einigen Monaten klar. Klar war ebenso, dass sich die Situation in Europa so nicht halten würde. Wenn selbst die deutsche Euphorie und Willkommenskultur mit dem Winter wieder merklich abkühlte, wie mochte es dann im Rest von Europa aussehen? Ich bekam meine Antwort Montagmorgen. Den ICE Frankfurt-Brüssel nutze ich jetzt seit einigen Jahren. Die Verbindung ist schnell, mit einigen wenigen Stopps, und er verkehrt oft genug, um mir ein wenig Flexibilität in meiner Reiseplanung einzuräumen. Die Fahrt verläuft nach dem immer gleichen Muster – in Frankfurt einsteigen, Musik aufdrehen, eventuelle Hausarbeiten ignorieren, bis Brüssel-Süd schlagen. Nur diesmal ging es etwas anders. Ich schreckte aus dem Halbschlaf als ein Polizist in Zivil im Gang neben meiner Sitzreihe Halt machte und wiederholte, was er wohl schon die anderen Passagiere des Abteils gefragt hatte – Pass, passport, passeport, paspoort. Ich blinzelte verwirrt. Passkontrolle? Der Polizist trug eine Armbinde der belgischen Polizei, wir hatten vor kurzem Lüttich passiert, aber das hier war auch ein deutscher Zug. Irritiert kramte ich meinen Perso aus der Tasche, den der Polizist mir postwendend zurückgab. Ich wage zu behaupten, dass ihm ein Blick auf meine Staatsangehörigkeit genügte. Er ging weiter, und hinter ihm folgten drei seiner Kollegen ins nächste Abteil. Keine Erklärung, kein Wort zum Grund der Kontrolle. Ich blieb verdutzt sitzen.
Im Sommer stand Deutschland scharf in der Kritik, als es nach Zügen und Zügen von Flüchtlingen, die über Österreich kamen, kurzzeitig die Grenzen schloss um der Situation in München Herr zu werden. Vom Tod Schengens war die Rede, von einem Vertrauensbruch, vom Versagen Angela Merkels, die verkündete Wir Schaffen Das. Innerhalb Deutschlands mag Merkel durchaus recht behalten, auch weil sie den Luxus genießt, an der Spitze einer Partei zu regieren, die eine recht große Sitzanzahl im Bundestag hat. Doch in der EU geht das Ringen weiter – und jetzt steht Belgien in der Kritik, weil es aus Angst vor Flüchtlingen aus Calais ebenfalls Grenzkontrollen wiedereinführt, zumindest für einige Zeit. Der belgische Innenminister Jan Jambon fürchtet, dass durch den Abbruch des Flüchtlingscamps in Calais die dort ansässigen Flüchtlingen nun den Weg nach Zeebrugge in Belgien suchen, um von dort aus nach Großbritannien weiterzureisen. Ob die Angst vor diesen Menschen berechtigt ist, sei einmal dahingestellt. Innerhalb von Schengen gibt es durchaus die Möglichkeit, zeitlich begrenzte Kontrollen an den Grenzen wiedereinzuführen, wenn es Anlass gibt zu glauben, dass eine ernsthafte Bedrohung besteht. Dann müssen auch die anderen Mitglieder der Kommission nicht sofort benachrichtigt werden. Natürlich hat Belgien immer wieder Probleme gehabt – weil es nicht in der Lage war, seine Problemviertel zu integrieren, weil es zu beschäftigt war mit seinem Konflikt zwischen Flamen und Wallonen, um andere gesellschaftliche Konflikte anzugehen. Den Belgiern scheint noch niemand gesagt zu haben, dass sie das schaffen können. Aber die wichtigere Frage an dieser Stelle ist, wie eine Auflösung Schengens uns alle berühren würde – uns Europäer_innen und solche, die es noch werden wollen. Ich bin 21. Das Schengener Abkommen trat de facto 1995 in Kraft. Ich kann mich also unmöglich an eine Zeit vor Schengen erinnern, erst recht nicht bewusst. Was dem noch am nächsten kommt, sind verschwommene Erinnerungen an missgelaunte ungarische Grenzbeamte (Ungarn trat der EU und Schengen 2004 bei). Wie eine Bewegung dorthin zurück aussehen würde, will ich mir eigentlich nicht vorstellen, aber ich werde es kurz durchspielen, um die Folgen aufzuzeigen.
Ich habe den größten Teil der letzten drei Jahre im Ausland verbracht. Wenn von der Auflösung Schengens gesprochen wird, reden die meisten nur über erneute Grenzkontrollen. Die Idee Schengens war es auch, die Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarktes voranzutreiben, der neben der Freizügigkeit von Personen auch die Freiheit von Warenverkehr, von Dienstleistungsverkehr und von Kapital- und Zahlungsverkehr beinhaltet. Was durch Grenzkontrollen natürlich in erster Linie berührt wird, ist die Freizügigkeit von Personen. Die Schweiz hatte sich mit einer Volksinitiative gegen die ‚Masseneinwanderung’ (es ging um die Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien) 2014 so aus dem Erasmus Plus-Programm katapultiert. Aber auch ohne gleich von einem Scheitern der Erasmus-Initiative auszugehen, würde der bürokratische Aufwand sowohl meines gerade angetretenen Praktikums als auch meines Auslandssemesters ab September deutlich steigen. Die Mobilität vieler junger Leute, die Erasmus Plus und andere Programme nutzen, wäre stark eingeschränkt. Das würde auch insbesondere die Länder mit hoher Arbeitslosigkeit treffen, in denen junge Leute Erasmus Plus nutzen, um sich beruflich oder fachlich in anderen Ländern weiterzubilden, während sie zuhause gerade keine Perspektive haben. Der Austausch, der einer ganzen Generation das Gefühl vermittelt hat, junge Europäer_innen zu sein, wäre plötzlich ein bisschen weniger europäisch. Aber lässt sich eine mögliche Auflösung Schengens wirklich auf die Freizügigkeit beschränken? Klar, Kapital braucht heutzutage nur ein paar Datenleitungen, um sich unabhängig vom Personenverkehr über Grenzen bewegen zu können. Aber Waren brauchen Menschen, die sie über Grenzen bringen, und wenn Grenzen im neuen europäischen Selbstverständnis plötzlich wieder en vogue sind, bedeuten diese einen Effizienzverlust. Wer verliert? Alle, denn auch wenn Freihandel ja erst einmal eine Kontroverse für sich zu sein scheint, und das nicht einmal mehr nur in linken Kreisen, so steigt doch die Gesamtwohlfahrt durch die Spezialisierung auf und den Tausch von Gütern. Ist ein gemeinsamer Binnenmarkt mit Grenzkontrollen also noch in dem Maße vorstellbar, wenn Grenzen plötzlich wieder kontrolliert werden? Nur unter sehr großen Einschränkungen. Wie also wäre eine Auflösung Schengens der Senkung der wachsenden Flüchtlingszahlen dienlich? Pragmatisch gesehen ließen sich die Zahlen zumindest für die ‚kerneuropäischen’ Länder durch Grenzkontrollen durchaus reduzieren. Aber keine Grenze – nicht einmal meterhohe, gut bewachte Mauern – können Menschen aufhalten, die sich auf der Flucht vor Not und Leid befinden, und außerdem würden Grenzkontrollen das Problem nur verlagern. Damit wären wir beim Status Quo der vergangenen Jahre: Italien, Spanien, Griechenland alleingelassen mit steigenden Flüchtlingszahlen auf der einen und von Brüssel vorgeschriebenen Haushaltskürzungen auf der anderen Seite. Die Flüchtlinge werden nicht verschwinden, nur weil man die Außengrenzen sichert, weil die Fluchtursachen ja immer noch da sind: Terror, Krieg, Armut, die ganze Palette. Das wäre nur eine EU, die besonders gut darin ist, ihre Augen zu verschließen, und hätte nur noch relativ wenig mit der ‚Friedensgemeinschaft EU’ zu tun. Das wäre eine EU, die ihren Friedensnobelpreis konsequenterweise wieder abgeben müsste. Aber es gibt noch weitere gute Gründe für eine ‚europäische Lösung’ – des Verteilungsproblems, des Problems der Fluchtursachen, der Herausforderung, diesen Menschen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Und diese Gründe lassen sich unter einem Stichwort zusammenfassen: Interdependenz. Konservative dieser wie aller Tage beschwören frühere Zeiten herauf, um sich über derzeitige zu mokieren. Früher war alles besser, so das Credo, und eine Rückkehr zu diesen früheren Zeiten ist das einzige Heilmittel für die zunehmend kränkelnde Politik oder Gesellschaft. Früher, als Deutschland noch die D-Mark hatte und die EU nur eine Gemeinschaft für Kohle und Stahl war. Aber diese Logik geht fehl. In der heutigen Zeit ist der souveräne, autonome Nationalstaat eine Utopie. Welchen Bereich auch immer wir betrachtet – Handel, Migration, Finanzen, Steuern, Bildung – immer gibt es zusätzlich zu den nationalstaatlichen Interessen noch eine internationale Komponente, die Beachtung finden muss, wenn der Politikbereich umfassend angegangen werden soll. Und daher ist auch eine nationalstaatliche Lösung der Flüchtlingskrise eine Utopie. Wenn wir nicht gerade Deutschland, Italien, Spanien oder Griechenland – eine auf Europa beschränkte Sicht – betrachten, dann hat jedes europäische Land genau das gemacht, was für es selbst am besten ist, nämlich, sich so weit wie möglich aus seiner Verantwortung im Zuge der Genfer Flüchtlingskonvention herauszunehmen. Auf nationalstaatlicher Ebene ist kein Szenario denkbar, in dem die Länder uneigennützig Flüchtlinge aufnehmen wie sie kommen. Dies geschieht nur vor dem Hintergrund europäischer und sogar globaler Interdependenz: Wenn Länder erkennen, dass ihr egoistisch gesteuertes Handeln die Krise nur in andere Länder verlagert, das Problem aber noch lange nicht gelöst ist und letztendlich auf sie zurückfallen wird. Dazu muss zunächst auf europäischer Ebene ein Bewusstsein dafür entstehen, dass ein Problem in einem Land heutzutage auch andere Länder betrifft. Das zeigt auch, was ein Versagen der EU im Falle der Flüchtlingskrise mit dem europäischen Selbstverständnis machen würde: Ein Schließen der Grenzen liefe entgegen der Identität, die die EU in den letzten Jahren versucht hat aufzubauen. Plötzlich stünden nationalstaatliche Belange wieder über der EU, und Nationalisten sähen sich in ihren Annahmen bestätigt. Auch der europäische Solidaritätsgedanke würde wohl stark in Mitleidenschaft gezogen werden – geschlossene Grenzen machen es wieder leichter, auf die Mittelmeerstaaten zu zeigen und von ihnen allein eine Lösung der Krise zu verlangen. Dublin hätte wieder Hochkonjunktur. Würde das Ende von Schengen also das Ende der Union bedeuten? Wahrscheinlich nicht.
Aber wie all die Untergangsszenarien zur Zeiten der Euro-Krise hat diese Rhetorik fatale Auswirkungen auf den öffentlichen Dialog, weil suggeriert wird, dass eine Grenzschließung, also eine Rückkehr zum vielbeschworenen Status Quo der EU-Kritiker, tatsächlich eine Lösung ist. Eine wirkliche Lösung muss Probleme aber anpacken und nicht dorthin verlagern, wo die meisten europäischen Länder (Deutschland oder Belgien, Österreich oder Großbritannien, aber auch Ungarn oder Polen) sich nicht mehr damit befassen müssen. Wer jetzt allzu entmutigt ist, dem möchte ich sagen, dass dennoch Grund zur Hoffnung besteht, auch wenn diese vielleicht nicht so aussieht wie wir es uns erhoffen: Ich halte eine Auflösung der EU für sehr unwahrscheinlich, aus dem einfachen Grund, dass Institutionen träge sind und ein Austritt mit hohen Kosten verbunden wäre. Ich denke, dass eine Lösung lange dauern und dass das Einlenken zähneknirschend geschehen wird, aber ich denke, dass es schlussendlich dazu kommen wird. Aber ich glaube auch, dass es dazu auch der Unterstützung uns junger Europäer_innen bedarf. Deshalb werde ich nicht aufhören, über Passkontrollen und Militärpräsenz entsetzt zu sein, aber ich werde auch nicht aufhören, den Leuten klarzumachen, dass sich unsere europäische Identität nicht auf Kosten der Menschen in Drittstaaten entwickeln darf. Die Krise muss kein unüberwindbares Hindernis sein, wenn wir sie als Chance begreifen, uns damit auseinanderzusetzen, wie wir tatsächlich in Vielfalt geeint sein können.
(Zum Titel: '#Don'tTouchMySchengen' war eine Aktion der Jungen Europäischen Föderalisten um ein Bewusstsein über die Bedeutung der Errungenschaften des Schengener Abkommens zu schaffen. Die Aktion endete am 6. Februar 2016, hat aber meiner Meinung nach nichts an Aktualität verloren.)